Renzo Giorgetti

 

Souveränität, verstanden als die Ausübung von Macht, um Gemeinschaften von Menschen zu organisieren und zu regieren, war in den traditionellen Kulturvölkern stets tief im Heiligen verwurzelt und wurde dadurch mehr als eine rein „menschliche“ Tatsache zur Manifestation transzendenter Kräfte. Der Monarch übt eine Macht aus, die in erster Linie eine direkte Emanation des Heiligen ist, von wahrhaft höheren Einflüssen, die ihn weit mehr legitimieren als jede Zustimmung, die er von seinen Untertanen erhält oder anbietet.

Kaiser Augustus, Pontifex maximus

Im Idealfall ist der Königtumsträger vor allem ein ›Pontifex‹, der sein Amt (ministerium = Dienst) ausübt und in seinem Reich für Harmonie im Einklang mit der kosmischen Ordnung sorgt, die ihrerseits ein Spiegelbild jener heiligen Ordnung ist, die alles Seiende formt und regiert.

Der Träger des Königtums ist der Vermittler zwischen Erde und Himmel, er ist das Zentrum, der Berührungspunkt zwischen diesen Wirklichkeitsebenen und sorgt für ihre Kommunikation und Interaktion. Diese nicht nur menschliche, sondern vor allem transzendente Qualität wurde als völlig real und, selbst wenn sie sich in Auflösung befand, als ideale Tendenz angesehen, auf die man sich immer berufen konnte (wie wir sowohl in ägyptischen und chinesischen Ritualen als auch in der päpstlichen Konzeption des römischen Fürstentums und dem mittelalterlichen Begriff des ›Sacrum Imperium‹ sehen können).

Der Souverän als rein weltliche Macht, der sich durchsetzt, indem er seine Gegner ausschaltet oder sich deren Zustimmung durch Vorteile verschafft, gehört bereits einer späteren Epoche an, in der die Macht so etwas wie ein Selbstzweck zu werden beginnt, eine selbstreferenzielle Realität mit immer weniger Bezug zu überweltlichen Zielsetzungen.

Es entsteht die Figur des „Politikers“, eines Individuums, das die Macht allein durch seine eigene Kraft und List erlangt und als bloßer Verwalter agiert, der von Zeit zu Zeit einen Konsens finden muß, oder als Tyrann, der alle Macht in sich konzentriert, indem er ständig gegen seine Widersacher kämpft.

Politik wird zunehmend als „Kunst“ definiert (eine profane Kunst natürlich, die nicht mehr auf dem ›Rta‹*, der heiligen Ordnung der Welt, beruht, sondern auf dem ›Anrta‹, dem Lügen, dem Verletzen und Umstürzen dieser Ordnung), als eine Tätigkeit, die sich in der einfachen Verwaltung menschlicher Beziehungen erschöpft und in der Eroberung der Macht das wichtigste, wenn nicht das einzige Ziel sieht.

Eine (gewiß nicht chronologische, sondern idealtypische) Entwicklung dieser Tendenz könnte wie folgt skizziert werden: Vom Priesterkönig, der die himmlische Ordnung auf der Erde widerspiegelt, geht man zum Kriegerkönig über, der sich mit Gewalt durchsetzt, zu jenen, die sich den Konsens mit Reichtum oder dem Versprechen, ihn zu erlangen, erkaufen, und schließlich zu jenen, die durch Ressentiment und Sozialneid herrschen und den Willen der Letztplazierten ausnutzen, um die Sprossen der Hierarchieleiter zu erklimmen.

Im gegenwärtigen Zustand des Umbruchs sind die Dinge so weit gediehen (die politische Welt ist die Vorhut der Auflösung), daß nicht einmal der Diener die Macht hat, sondern der Emporkömmling, der Asoziale, das Individuum, das außerhalb jeder Ordnung steht. In der „verkehrten Welt“ steht ein solcher Menschentypus nicht am unteren Ende der sozialen Leiter, sondern nimmt die höchsten Plätze ein, nachdem er in der Umkehrung von unten „gefallen“ ist, um sich dann als Bodensatz an der Spitze der umgekehrten Machtpyramide „niederzulassen“.

Ein solches Wesen, das sich außerhalb jeder Ordnung befindet, wird alles, was Harmonie, Gleichgewicht, Gerechtigkeit ist, ablehnen und bekämpfen (auch ohne sich dessen bewußt zu sein).

Frithjof Schuon nimmt eine äußerst präzise Analyse vor, die grundlegend ist, um deren Vorstellungen und Vorgehensweise zu verstehen. Der „Chandala“, der „Paria“, der „Unberührbare“ neigt dazu, die von anderen Menschen verpönten psychologischen Möglichkeiten zu verwirklichen, überschreitet von Natur aus die Grenzen, findet Befriedigung in dem, was ausgeglichene und gelungene Exemplare ablehnen. Er verkörpert den Gipfel der Verkommenheit, der Entartung, den Gipfel der „psychologischen Dissonanz“. Er ist zu „allem und nichts“ fähig, kann die „bizarrsten und unheimlichsten“ Tätigkeiten ausüben („Akrobat“, „Schauspieler“, „Henker“) und verstößt gegen die geltenden Regeln, wie ein umgekehrter Heiliger, der sich dadurch auszeichnet, daß er sich einem unausgewogenen und unausgeglichenen Lebensstil hingibt. Seine Seele hat keinen wirklichen eigenen Schwerpunkt, sein Leben entfaltet sich „in der Peripherie und in der Umkehrung“, in einer Überschreitung, die ihm „irgendwie ein Zentrum gibt, das er nicht hat“, und die ihn scheinbar von seiner zwiespältigen Natur befreit.

Es ist eine zentrifugale und grenzenlose Subjektivität, die ihn dazu bringt, vor dem Gesetz zu fliehen, weil es ihn zu diesem Zentrum zurückführen würde, das seiner Natur so völlig fremd ist. Er ist ein Minderwertiger und wird sich immer als solcher verhalten. Er hat nicht nur nicht die Mentalität des Überlegenen, sondern kann sie sich nicht einmal genau vorstellen: Deshalb wird jeder ›Wert‹ von ihm ignoriert, wenn nicht sogar offen verachtet.

Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Ehre existieren in seinen Augen einfach nicht, sie stellen nur eine Illusion dar, ein Hindernis, das seinen Aufstieg zur Macht begrenzt. Sein ganzes Wesen beruht auf der Unwahrheit, die ihn völlig beherrscht und ihn zum ersten Opfer seiner Lügen macht, die er oft sogar glaubt, so daß er in einer Realität lebt, die noch illusorischer ist als die, zu der er die ihm Untergebenen verurteilt.

Man kann nun verstehen, warum das Lügen ein Niveau erreicht, das als pathologisch bezeichnet werden kann. Es ist nicht einmal mehr eine Frage der „Staatsräson“ oder des Machiavellismus; der zeitgenössische Politiker lügt, weil das Lügen zu seinem Wesen gehört. Er lügt, weil es eine Notwendigkeit ist, weil seine ganze Welt darauf beruht, weil es ihm Konsistenz und Identität verleiht, ihn definiert und ihm eine Stellung in der Welt gibt.

Andernfalls wäre er gezwungen, ein Zentrum zu haben, sich an eine Ordnung zu halten, was für ihn unvorstellbar, wenn nicht gar unmöglich ist, da es ihn zum Untergang verdammen würde. Sein Überleben beruht auf diesem Umstand. Er ist also nicht zu verurteilen, da es sich im Grunde nur um einen Selbsterhaltungstrieb handelt.

Ähnliche Individuen hat es schließlich schon immer gegeben; das einzige wirkliche Problem liegt in ihrer Position innerhalb des Gesellschaftskörpers, einer Position, die gegenwärtig die falscheste ist, nämlich die an der Spitze, am entgegengesetzten Extrem dessen, was für sie am angemessensten wäre und was sie zu allen Zeiten innehatten, als sich die Welt noch in einer Phase der Normalität befand und noch nicht in ihren Grundwerten umgestürzt und untergraben war.

Renzo Giorgetti

 

*Anmerkung der Redaktion

Das indoiranische Konzept ṛta. In der Forschung überwiegt die Sichtweise, daß das indoiranische Konzept *ṛta ursprünglich Wahrheit bedeutet. Gleichzeitig gehen viele Forscher davon aus, daß *ṛta auch als Ordnung oderGerechtigkeit aufgefaßt werden  kann. Es läßt sich festhalten, daß der Bedeutungsinhalt *ṛta kontextsensitiv ist. Demnach kann *ṛta kaum durch ein einzelnes Wort einer anderen Sprache übersetzt werden. Bereits wenn man das *ṛta als Ordnung interpretiert, hat man es mit verschiedenen Begriffen der Ordnung zu tun: die kosmische Ordnung, wodurch Tag und Nacht
sowie die Jahreszeiten alternieren; die Ordnung der Opferrituale, die als ein Teil der kosmischen Ordnung verstanden werden, mit denen der Rhythmus der Naturphänomene stabilisiert und erhalten wird; die gesellschaftliche Ordnung, die ein harmonisches und friedliches Zusammensein der Menschen ermöglicht und die moralische Ordnung bzw. »Wahrheit«. Thomas Oberlies setzt *ṛta – als kosmische Ordnung aufgefaßt – mit objektiver Wirklichkeit gleich: „Objektive Wirklichkeit zeigt sich deutlichst sichtbar in Geschehnissen, die sich ständig und immer gleich wiederholen, sei dies im großen, sei es im kleinen. In der Anschauung des vedischen Menschen gilt die Unveränderlichkeit solcher Phänomene als Indiz für die Existenz einer sie lenkenden, sie beherrschenden Ordnung.“

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/08/15/l-homme-politique-en-tant-que-menteur-pathologique.html
Originalquelle: https://www.heliodromos.it/il-politico-come-bugiardo-patologico/