Auszüge aus Alexis Carrel:

Der Mensch, das unbekannte Wesen

 

Die moderne Zivilisation ist in einer Krise, weil sie uns nicht angemessen ist. Sie ist ohne jede Kenntnis unserer wahren Natur entstanden, eine mehr zufällige Frucht wissenschaftlicher Entdeckungen, menschlicher Begehrlichkeit und Täuschung — aus Theorie und Wunschträumen geboren. Wir haben sie wohl in bewußter Arbeit geschaffen, doch ohne sie unserer Größe und Gestalt anzupassen.

Gebärmutter, Zeichnung von Leonardo da Vinci

Die Wissenschaft an sich verfolgt ja keinen bestimmten Plan. Sie entwickelt sich aufs Geratewohl; ihr Fortschritt hängt von Zufälligkeiten ab, wie der Geburt genialer Menschen, der Anlage ihres Geistes, der Zielrichtung ihrer Wißbegierde. Der Wunsch, die Lage des Menschen zu verbessern, bedeutet der Wissenschaft keinen Antrieb. Die Entdeckungen, auf die sich die industrielle Zivilisation zurückführen läßt, sind mit der ganzen Sprunghaftigkeit wissenschaftlicher Intuition gemacht worden und hängen eng mit den größeren oder geringeren Zufällen der einzelnen Lebensläufe zusammen.

Hätten Galilei, Newton oder Lavoisier ihre Verstandeskraft auf das Studium von Leib und Seele gerichtet, so würde unsere Welt heute vermutlich anders aussehen. Männer der Wissenschaft wissen eben nicht, wohin sie gehen; sie führt der Zufall, ein zartes Wegweisen der Vernunft, eine Art Hellsicht. Jeder von ihnen ist wieder eine eigene Welt und gehorcht seinen eigenen Gesetzen. Allgemein gesprochen: Entdeckungen werden gemacht und ausgebaut ohne Voraussicht auf ihre Folgen. Diese Folgen aber haben die Welt um und um gestürzt und unsere Kultur zu dem gemacht, was sie ist.

Frauenkopf, Gemälde von Leonardo da Vinci

In unserer heutigen Kultur trifft man nur ganz selten Menschen, deren Haltung von einem moralischen Ideal erfüllt ist. Es gibt aber immer noch solche Persönlichkeiten. Sie fallen einem unwillkürlich auf, wenn man ihnen begegnet. Sittliche Schönheit ist ein außergewöhnliches und höchst ergreifendes Phänomen. Wer sie einmal gesehen hat, vergißt ihren Anblick nie. Es ist eine Art der Schönheit, bei weitem eindrucksvoller als die Schönheit der Natur oder der Wissenschaft. Wer sie besitzt, dem verleiht sie überirdische Gaben, eine seltsame, unerklärliche Kraft. Sie verstärkt noch die Macht des Verstandes und stiftet Frieden unter den Menschen. Weit mehr als Wissenschaft, Kunst und religiöser Kult ist die sittliche Schönheit die Grundlage der Kultur.

Porträt von Leonardo da Vinci, Gemälde von Lattanzio Querena (1768-1853)

Verstandeskraft ist so gut wie nutzlos für den, der außer ihr nichts anderes besitzt. Der reine Intellektuelle ist ein unvollkommenes Menschenwesen. Er ist unglücklich, denn er kann die Welt, die er versteht, doch nicht erreichen. Zwar erfaßt er die Beziehungen zwischen den Erscheinungen, aber das ist eine unfruchtbare Gabe, wenn nicht andere Energien sich dazugesellen, etwa Moralgefühl, reiches Gemütsleben, Willens- und Urteilskraft, Phantasie und wenigstens eine gewisse organische Stärke.

Der Verstand läßt sich auch nicht ohne das Aufgebot ziemlicher Anstrengung nutzbar machen; wer zum Beispiel wirkliches Wissen erwerben will, der muß sich einer langen, harten Vorbereitung fügen und eine Art Askese auf sich nehmen. Ohne Konzentration ist der Verstand unergiebig; ist er an Zucht gewöhnt, dann wird er fähig zur Wahrheitssuche. Um sein Ziel zu erreichen, bedarf er aber immer noch der Hilfe des Moralgefühls.

Große Gelehrte sind immer von tiefer intellektueller Redlichkeit gewesen; sie folgen der Wirklichkeit, wohin sie sie führt, und niemals fällt es ihnen ein, ihren persönlichen Wunsch an die Stelle des Tatsächlichen zu setzen oder die Tatsachen zu ver­heimlichen, wenn sie lästig werden. Will einer die Wahrheit schauen, so schaffe er zunächst Frieden in seinem Innern: sein Geist muß sein wie das stille Wasser eines Sees. Dem wider­spricht es nicht, daß auch ein entwickeltes Gemütsleben zum wirksamen Gebrauch des Verstandes gehört: womöglich ein reiner Enthusiasmus, jene Leidenschaft, die Pasteur den inneren Gott genannt hat. Das Denken erreicht seine Blüte nur bei Menschen, die des Liebens und Hassens fähig sind.

Der Mensch, Zeichnung von Leonardo da Vinci

Den Menschen als solchen gibt es nirgends in der Natur; es gibt nur Individuen. Das Individuum aber ist vom Menschen insofern unterschieden, als es einen konkreten Fall darstellt. Nur das Individuum handelt, liebt, leidet, kämpft und stirbt; der Mensch hingegen ist eine platonische Idee, die in unserem Geist und in unseren Büchern lebt. Er besteht aus den Abstraktionen, die den Forschungen der Physiologen, Psychologen und Soziologen zugrunde liegen, und seine Merkmale sind in den sogenannten Universalien ausgedrückt.

Platon und Aristoteles, Fresco von Raffael (1483-1520)

Die moderne Gesellschaft will nichts vom Individuum wissen, sie denkt nur an den Menschen als allgemeinen Begriff. Sie glaubt an die Wirklichkeit der Universalien und behandelt die Menschen als Abstraktionen. Die Verwechslung der beiden Vorstellungen — des Individuums mit dem Menschen — hat unsere industrielle Zivilisation zu einem grundlegenden Irrtum geführt, nämlich zur Normung des Menschen. Wären wir einer wie der andere, so könnten wir wie das Vieh in großen Herden aufgezogen und zum Leben und Arbeiten angehalten werden.

Nun hat aber jeder einzelne seine individuelle Besonderheit und kann nicht behandelt werden wie ein Symbol und Allgemeinbegriff. Darum sollte man die Kinder nicht schon in ganz jugendlichem Alter in Schulen stecken, wo sie über einen Leisten erzogen werden. Es ist hinreichend bekannt, daß alle großen Männer in verhältnismäßiger Einsamkeit aufgewachsen sind und sich vielfach geweigert haben, die Schablone der Schule über sich ergehen zu lassen.

Natürlich sind die Schulen für die technische Unterweisung nicht zu entbehren, und sie befriedigen außerdem bis zu einem gewissen Grad das Bedürfnis des Kindes nach einem Zusammensein mit Altersgenossen. Vor allem aber muß die Erziehung eine Angelegenheit unbeirrbarer Führung und Fürsorge sein, und eine solche Fürsorge ist die Sache der Eltern. Nur sie, und insbesondere die Mutter, haben von allem Anfang an die physiologischen und geistigen Besonderheiten des Kindes beobachtet, deren richtige Entwicklung das Ziel der Erziehung ist. Es war ein ernstes Versehen der modernen Gesellschaft, daß sie die Schule ganz an die Stelle der Erziehung in der Familie gesetzt hat.

Dame mit dem Hermelin, Gemälde von Leonardo da Vinci

Ein anderer Irrtum, an dem ebenfalls die Verwechslung der Begriffe Menschenbild und Einzelmensch schuld ist, ist die Gleichheit demokratischer Observanz. Dieses Dogma bricht allerdings zur Zeit unter den Schlägen der aus Erfahrung klug gewordenen Völker zusammen, und man braucht nicht lange von seiner Falschheit zu reden; es ist aber doch erstaunlich, wie lange sein Triumph gedauert hat. Wie hat die Menschheit einem solchen Irrglauben so viele Jahre dienen können?

Die demokratische Lehre nimmt keine Rücksicht auf die Beschaffenheit unse­res Körpers und unseres Bewußtseins; sie geht vorüber an der offenbaren Tatsache der menschlichen Persönlichkeit. Natürlich, als allgemeiner Begriff ist ein Mensch wie der andere; aber als tatsächliches Wesen ist er es nicht. Eine Gleichheit der Rechte ist eine Illusion. Der Geistesschwache und der Geniale dürfen vor dem Gesetz nicht gleich sein, und der Dumme, der geistig Schwächliche, der Zerfahrene, zu keiner geistigen und körperlichen Anstrengung Taugliche hat kein Recht auf höhere Erziehung.

Es ist unsinnig, solchen Exemplaren dieselben Wählerrechte zu geben wie den Vollentwickelten. Auch die Geschlechter sind nicht gleich. All diese Ungleichheiten unberücksichtigt zu lassen, ist eine große Gefahr. Das demokratische Prinzip hat den Zusammenbruch der Kultur mitverschuldet, indem es sich der Ausbildung einer Elite entgegenstellte. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß die individuellen Ungleichheiten im Gegenteil berücksichtigt werden müssen.

Die moderne Gesellschaft braucht große und kleine, durchschnittliche und mäßig begabte Menschen, wir dürfen uns aber nicht darauf einlassen, die höheren Typen nach demselben Verfahren ausbilden zu wollen wie die niederen. Die Normung des Menschen durch das demokratische Ideal hat bereits eine Vorherrschaft der Schwachen herausgebildet. Wie der Kranke, der Verbrecher und der Wahnsinnige genießen sie bei der Öffentlichkeit Sympathien. Die Sage von der Gleichheit der Menschen, das Verlangen nach einem abstrakten Menschensymbol, die Geringschätzung der konkreten Tatsachen — diese Momente haben zum großen Teil den Zusammenbruch der menschlichen Persönlichkeit verschuldet.

Die Schule von Athen, Fresco von Raffael, 1511

Übrigens hat man nicht nur die Begriffe Individuum und Menschenbild verwechselt, sondern man hat auch dieses letztere seinerseits verfälscht, indem man ihm wesensfremde Züge beimischte und wesentliche Bestandteile unterschlug. Wir haben auf den Menschen Vorstellungen angewandt, die der Welt der Mechanik angehören; wir haben Begriffe wie Opfer, moralisches Leiden, Gedanke, Schönheit, Frieden mit Nichtachtung behandelt.

Wir sind mit dem Individuum umgegangen wie mit einer chemischen Substanz, einer Maschine oder gar nur einem Maschinenteil; wir haben seine moralischen, ästhetischen und religiösen Funktionen roh von ihm abgetrennt und sogar gewisse Ausdrucksformen seiner physiologischen Energie außer acht gelassen.

Wir haben nicht danach gefragt, wie die Gewebe und das Bewußtsein sich den über uns verhängten Veränderungen der Lebensweise anpassen sollten, haben also die bedeutungsvolle Rolle der Anpassungsfunktionen und die nachhaltigen Folgen ihrer erzwungenen Stilllegung nicht im mindesten bedacht. Unsere augenblickliche Schwäche kommt sowohl von unserer Nichtachtung der menschlichen Individualität als auch von unserer Unkenntnis der menschlichen Beschaffenheit.

Das Mädchen mit dem Perlenohrring, Gemälde von Jan Vermeer van Delft

Der Mensch ist das Ergebnis seiner Erbmasse und seiner Umgebung, also der Lebens- und Denkgewohnheiten, die ihm von der modernen Gesellschaft auferlegt werden. Wir haben gezeigt, wie diese Gewohnheiten seinen Körper und sein Bewußtsein in Mitleidenschaft ziehen, und wir wissen, daß er sich nicht aus eigenen Kräften der von der Technik geschaffenen Umgebung anpassen kann, daß diese Umgebung vielmehr zu seiner Entartung führt.

Die Naturwissenschaft und die Maschinen sind nicht schuld an diesem Zustand, sondern nur wir, die Menschen. Wir waren außerstande, das Verbotene vom Rechtmäßigen zu unterscheiden. Wir haben Gesetze der Natur übertreten und somit die schwerste Sünde begangen, die Sünde, die stets gestraft wird. Nun sind die Dogmen der Wissenschaftsreligion und der industriellen Morallehre unter dem Ansturm der biologischen Wirklichkeit gefallen. Das Leben gibt jedesmal eine solche Antwort, wenn man es auf verbotenen Grund lockt: es wird schwach, und die Kultur stirbt ab.

Die Wissenschaften vom Unbelebten haben uns in ein Land geführt, das nicht unser ist. Wir haben blindlings alle Errungenschaften dieser Wissenschaften angenommen, und der einzelne Mensch ist davon eng, fachbeschränkt, unmoralisch, verstandesschwach, zur Ordnung seiner Person und seiner Einrichtungen untauglich geworden. Zum Ausgleich haben uns die biologischen Wissenschaften das kostbarste aller Geheimnisse verraten: die Entwicklungsgesetze unseres Körpers und Bewußtseins. Damit hat die Menschheit das Mittel zu ihrer Erneuerung in Händen. Solange noch die erblichen Eigenschaften der Rasse vorhanden sind, kann auch die Kraft und Kühnheit der Voreltern beim modernen Menschen durch einen Willensakt wieder erweckt werden. Die Frage heißt nur: Ist er zu einer solchen Anspannung des Willens noch imstande?

Halte dein Blut rein.
Es ist nicht nur dein.
Es kommt weit her.
Es fließt weit hin.

Es ist von tausend Ahnen schwer,
und alle Zukunft strömt darin.
Halte rein das Kleid
deiner Unsterblichkeit.

Es gibt, wie wir wissen, zwei Arten der Gesundheit: die natürliche und die künstliche. Die wissenschaftlich betriebene Medizin hat dem Menschen künstliche Gesundheit und Schutz vor den meisten Ansteckungskrankheiten geschenkt. Gewiß, ein herrliches Geschenk! Aber der Mensch ist nicht zufrieden mit einer Gesundheit, die eigentlich nur ein Nichtkranksein bedeutet und von ganz bestimmten Ernährungsvorschriften, Chemikalien, Drüsenpräparaten, Vitaminen, regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen und teurem Geld für Krankenhäuser, Ärzte und Pflegerinnen abhängt.

Der Mensch wünscht sich natürliche Gesundheit, wie sie aus einer Widerstandskraft gegen Ansteckungs- und Entartungskrankheiten und einem Gleichgewicht des Nervensystems hervorgeht. Es muß ihm also wieder die Kraft verliehen werden, zu leben, ohne daß er sich Gedanken über seine Gesundheit macht.

Eine solche Auffassung der natürlichen Gesundheit wird starken Widerspruch hervorrufen, denn sie verträgt sich nicht mit unseren Denkgewohnheiten. Die augenblicklich herrschende Richtung in der Medizin geht nach künstlicher Gesundheit, nach einer Art physiologischer Planwirtschaft. Ihr Ideal ist es, nur mit Hilfe von Chemikalien in die Arbeit der Gewebe und Organe einzugreifen, schadhafte Funktionen anzuregen oder auszuwechseln, die Widerstandskraft des Organismus gegen Ansteckungen zu steigern, die Reaktion der Säfte und Organe auf krankheitserregende Momente zu beschleunigen und dergleichen mehr. Immer noch sehen wir im Menschen eine schlecht konstruierte Maschine, deren Teile fortgesetzt verstärkt oder ausgebessert werden müssen.

Die erste Impfung, Gemälde von Edward Jenner (1749-1823)

Der Tag ist gekommen, unser Erneuerungswerk zu beginnen. Fern sei von uns, ein festes Programm zu entwerfen, denn ein Programm würde nur die lebendige Wirklichkeit einengen wie ein harter Panzer. Das Unvorhergesehene würde in seiner Quellkraft gehemmt, und die Zukunft wäre von vornherein eingepreßt in die Schranken unserer Vernunft.

Wir müssen uns aufmachen und vorwärts schreiten, müssen das Joch einer blinden Herrschaft der Technik abschütteln und die Vielfalt und Reichhaltigkeit unserer Natur recht erfassen. Die Lebenswissenschaften haben der Menschheit ihr neues Ziel gezeigt und ihr die Mittel, es zu erreichen, an die Hand gegeben. Noch immer sind wir aber tief verstrickt in jener Welt, die von den mathematisch-astronomischen Wissenschaften ohne Rücksicht auf die menschlichen Entwicklungsgesetze erschaffen worden ist. In einer Welt also, die nicht für uns gemacht ist, da sie aus einem Irrtum unserer Vernunft und aus der Unkenntnis unseres wirklichen Wesens stammt.

In eine solche Welt können wir uns durch keine Anpassung hineinfinden; so bleibt uns nur, uns gegen sie zu empören. Wir wollen die in ihr geltenden Werte verwandeln und sie neu schaffen, so wie es unseren Bedürfnissen entspricht. Die Wissenschaft vom Menschen ist heute so weit, daß wir mit ihrer Hilfe alle geheimen Anlagen unseres Körpers ausbilden können. Wir kennen die geheimen Vorgänge innerhalb unserer physiologischen und geistigen Energiezentren. Wir kennen auch die Gründe unserer Schwäche; wir wissen, wo wir gegen Naturgesetze gesündigt haben und weshalb wir gestraft und in Finsternis gestoßen sind. In diesem Dunkel aber gewahren wir, in ungefähren Zügen, einen Pfad, der zu unserer Rettung führen kann.

Beitragsbild: Leonardo da Vinci: Junges Mädchen
Gedicht von Will Vesper,ᛉ 11. Oktober in Barmen; ᛣ 11. März 1962 auf Gut Triangel bei Gifhorn

 

 

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