Dominique Venner
Was ist Europa? Was ist ein Europäer?
Vom geopolitischen und historischen Standpunkt aus wird Europa durch seine Begrenzungen definiert. Das Zentrum, der europäische Kern, wird von Nationen gebildet, die − wenn auch oft im Konflikt miteinander − seit dem Hochmittelalter eine gemeinsame Geschichte erlebt haben.
Im wesentlichen sind das die Nationen, die aus dem Karolingischen Reich und seiner Umgebung entstanden sind, jene die mit dem 1957er Vertrag von Rom das ›Europa der Sechs‹ gebildet haben: Frankreich, Westdeutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Jenseits davon sieht man einen zweiten Kreis Gestalt annehmen, der die atlantischen und nordischen Nationen wie auch Osteuropa und den Balkan einschließt. Zuletzt wird ein dritter Kreis privilegierter Allianzen auf Rußland erweitert. Ich spreche hier absolut nicht von einem politischen Projekt. Ich spreche nur als Historiker, der auf eine Reihe von Realitäten hinweist. Man könnte andere erwähnen. Das Donaureich der Habsburger war eine Realität. Das baltische Europa genauso, auch wenn das auf den Mittelmeerraum nicht mehr zutrifft, der seit den arabischen Eroberungen aufgehört hat, eine Achse der europäischen Einheit zu sein. Aber Europa ist etwas ganz anderes als der geographische Rahmen seiner Existenz.
Das Bewußtsein, zu Europa zu gehören, des Europäertums, ist weitaus älter als das moderne Konzept Europas. Es manifestiert sich unter den aufeinanderfolgenden Namen des Hellenismus, des Keltentums, des Romanismus, desr fränkischen Reiches oder des Christentums. Als seit unvordenklichen Zeiten existierende Tradition ist Europa das Produkt einer vieltausendjährigen Kulturgemeinschaft, die ihre Besonderheit und Einheit von den sie verkörpernden Völkern und einem spirituellen Erbe ableitet, dessen höchster Ausdruck die homerischen Gedichte sind.
Wie die anderen großen Zivilisationen − China, Japan, Indien oder der semitische Osten − hat die unsrige ihre tiefe Wurzeln in der Prähistorie. Sie ruht auf einer spezifischen Tradition, die in veränderlicher Erscheinung die Zeiten durchquert. Sie wurde von spirituellen Werten geformt, die unser Verhalten bestimmen und unsere Vorstellungen nähren, selbst nachdem wir sie vergessen haben. Wenn zum Beispiel die Sexualität universal ist, so wie der Akt des Sichnährens, so ist die Liebe in jeder Zivilisation anders, wie auch die Repräsentation der Weiblichkeit, der bildenden Künste, der Gastronomie und Musik. Sie sind die Widerspiegelungen einer bestimmten spirituellen Morphologie, die auf mysteriöse Weise durch Blut, Sprache und das unterschwellige Gedächtnis einer Gemeinschaft übertragen wird. Diese Ausprägungen machen uns zu denen, die wir sind und niemand anderem, auch wenn unser Wissen um sie verloren-gegangen ist. In diesem Sinne verstanden, ist Tradition das, was Individualität formt und erneuert, Identität begründet, dem Leben Sinn gibt. Sie ist keine Transzendenz, die außerhalb von einem selbst existiert. Tradition ist ein ›Ich‹, das die Zeit durchquert, ein lebender Ausdruck des Partikularen innerhalb des Universalen.
Der Name ›Europa‹ erschien vor 2.500 Jahren bei Herodot und in der Beschreibung der Erde von Hekataios von Milet. Und es ist kein Zufall, daß dieser griechische Geograph die Kelten und die Skythen zu den Völkern Europas zählte und nicht zu den Barbaren. Dies war das Zeitalter, als das europäische Selbstbewußtsein erstmals unter der Bedrohung durch die Perserkriege entstand. Es ist eine Konstante der Geschichte: Identität wird aus der Bedrohung durch das ›Andere‹ geboren.
Zwanzig Jahrhunderte nach Salamis wurde der Fall von Konstantinopel am 29. Mai 1453 als noch schlimmerer Umbruch empfunden. Die gesamte Ostfront Europas stand der Eroberung durch die Osmanen offen. Das habsburgische Österreich verblieb als letztes Bollwerk. Dieser kritische Moment brachte das Aufblühen eines europäischen Bewußtseins im modernen Sinn des Wortes. Im Jahr 1452 hatte der Philosoph Georg von Trapezunt bereits Pro defenda Europa veröffentlicht, ein Manifest, in dem der Name Europa den des Christentums ersetzte.
Nach dem Fall der byzantinischen Hauptstadt schrieb Kardinal Piccolomini, der spätere Papst Pius II: „Der östliche Teil Europas ist weggerissen worden.“ Und um die volle Bedeutung und das Pathos dieses Ereignisses zu vermitteln, berief er sich nicht auf die Kirchenväter, sondern, höherstehend in der europäischen Erinnerung, auf die Dichter und Tragödienschreiber des antiken Griechenlands. Diese Katastrophe, sagte er, bedeute „den zweiten Tod von Homer, Sophokles und Euripides.“ Dieser strahlende Papst starb 1464, verzweifelt über sein Unvermögen, eine Armee und Flotte zu mobilisieren, um Konstantinopel zu befreien.
Die gesamte Geschichte bezeugt, daß Europa eine sehr alte Gemeinschaft von Zivilisationen ist. Ohne zurück zu den Höhlenmalereien und zur Megalithkultur zu gehen, gibt es kein einziges großes historisches Phänomen, das von einem der Länder der fränkischen Sphäre erlebt wurde und das nicht von allen anderen geteilt wurde. Mittelalterliches Rittertum, epische Dichtung, höfische Liebe, Monarchie, feudale Freiheiten, die Kreuzzüge, die gotische Revolution, die Renaissance, die Reformation und Gegenreformation, die Expansion über die Meere hinweg, die Geburt des Nationalstaates, das weltliche und religiöse Barock, musikalische Polyphonie, Aufklärung, Romantik, das prometheische Universum der Technologie, oder das Erwachen des Nationalismus… Ja, all dies ist Europa gemeinsam, und Europa allein. Im Laufe der Geschichte fand jede große Bewegung in einem Land Europas sofort ihr Äquivalent in seinen Schwesterländern und nirgendwo sonst. Was die Konflikte angeht, die so lange zu unserer Dynamik beigetragen haben, so wurden sie von der Konkurrenz unter Fürsten und Staaten diktiert, niemals durch Gegnerschaft der Kultur und Zivilisation.
Im Gegensatz zu anderen, weniger begünstigten Völkern mußten die Europäer selten die Frage nach ihrer Identität aufwerfen. Es genügte ihnen, zu existieren: zahlreich, stark und oft siegreich. Aber das ist erledigt. Das schreckliche ›Jahrhundert von 1914‹ setzte der Herrschaft der Europäer ein Ende, die seitdem von all den Dämonen des Selbstzweifels geplagt worden sind, wenn auch gemildert durch einen vorläufigen materiellen Überfluß. Die Handwerker der Vereinigung blenden mit Erschrecken die Frage nach der Identität aus. Aber Identität ist genauso wichtig für eine Gemeinschaft wie die lebenswichtigen Fragen der ethnischen und territorialen Grenzen.
Auszug aus Dominique Venner: Le Siècle de 1914. Utopies, guerres et révolutions en Europe au XXème siècle, Paris, 2006.
Das letzte Buch von Dominique Venner ›Ein Samurai aus Europa‹ vor seinem Freitod am 21. Mai 2013 finden Sie in unserem Bücherangebot.
Dominique Venner: Ein Samurai aus Europa. Das Brevier der Unbeugsamen
Desweiteren gibt es eine Aufzeichnung der Ehrung von Dominique Venner am 31. Mai 2013.
Das Begräbnis von Dominique Venner am 31. Mai auf dem Père Lachaise (Paris) fand im Kreise seiner Familie und seiner engsten Freunde statt.
Prof. Bernard Lugan, ein enger Freund Dominique Venners, las seinen Abschiedsbrief. Philippe Conrad, langjähriger Mitarbeiter und jetzt Chefredakteur der von Venner gegründeten Nouvelle Revue d’Histoire, Gianluca Iannone (aus der CasaPound Italia) und Alain de Benoist würdigten die zahlreichen Facetten dieser herausragenden Persönlichkeit: den Kämpfer, den Revolutionär, den Pionier des europäischen Widerstandes, den Schriftsteller, den Stoiker und schließlich den großen meditativen Historiker. Die Fahnen, die man links und rechts vom Rednerpult sehen kann, symbolisieren die Herkunft Dominique Venners: Lothringen (väterlicherseits), Provence (müttlerlicherseits) und schließlich seine Wahlheimat, die Normandie. An der Gedenkfeier nahmen annähernd 700 Personen aus verschiedenen europäischen Heimatländern teil.