Julius Evola

Mythos von Thule im Lichte anthropologischer Erkenntnisse

 

Es ist durchaus bezeichnend, daß in einer ganzen Gruppe von äußerst aktuellen Studien über die Vorgeschichte Vorstellungen aus der Antike wieder auftauchen, die bis gestern noch als reine Mythen galten.

Eine dieser Vorstellungen bezieht sich auf das legendäre Urland der Hyperboreer. Eine Reihe von Forschern hat genau diese Idee aufgegriffen und damit die vermeintliche Gewissheit in Frage gestellt, daß es in der Vorgeschichte nur den Affenmenschen gab, und ist so weit gegangen, das Problem der Ursprünge aus einer neuen und unvoreingenommenen Sicht zu betrachten, bis hin zu der Vermutung, dass die Steinzeit Zeugnis einer authentischen Zivilisation höherer, symbolisch-spiritueller Art sein könnte. Die Arktis, der Nordpol, das sagenumwobene Hyperborea war offenbar das ursprüngliche Vaterland einer hoch zivilisierten prähistorischen weißen Rasse – so zivilisiert, daß es von den Altvorderen als “göttlich” angesehen wurde.

Das scheinbare Paradoxon dieser These verschwindet, sobald man sich daran erinnert, was die Physik über die sogenannte “Prozession der Äquinoktien” lehrt. Aufgrund der Neigung der Erdachse verschiebt sich das Klimageschehen auf der Erde von Epoche zu Epoche. Da man unter dem Polareis Steinkohle wiederentdeckt hat, bedeutet dies, daß es in der arktischen Zone einst Wälder und Feuer gab. Der Frost hätte die arktische Zone erst in einer späteren Periode heimgesucht.

Eine der Bezeichnungen für Asgard, Heimat der “Götter” und ursprüngliches Vaterland der nordischen Königslinien, ist nach skandinavischer Überlieferung die “grüne Insel” oder das “grüne Land”, und damit Grönland. Aber dieses Land scheint, wie schon sein Name sagt, schon zur Zeit der Goten eine üppige Vegetation gehabt zu haben und nicht völlig vom Frost bedeckt gewesen zu sein. Doch damit nicht genug: In der Region des arktischen Eises machte die jüngste Expedition des Kanadiers Jenness, der Dänen Rasmussen und Therkel und des Amerikaners Birket-Smith einige wahrhaft einzigartige archäologische Entdeckungen:[1] tief unter dem Eis die Überreste einer Zivilisation, die viel höher als die der Eskimos war, und Relikte, die noch älter, prähistorisch sind. Dieser Zivilisation wurde der Name ›Thule‹ gegeben.

Thule ist der Name, den die Griechen auf eine Region oder Insel im hohen Norden anwandten, die oft mit dem Land der Hyperboreer verwechselt wird, aus dem der Sonnengott Apollo kam – der Gott der dorisch-achäischen Völker, die aus dem Norden nach Griechenland kamen. Und Plutarch sagt über Thule, daß die Nächte dort etwa einen Monat lang nur zwei Stunden dauerten: dies ist genau die “weiße Nacht” der nördlichen Länder. Und die Tatsache, daß andere hellenische Überlieferungen das Nordmeer als “Chronidenmeer” bezeichnen, d. h. als das Meer des Chronos (Saturn), ist ein weiterer wichtiger Hinweis, da Chronos als einer der Götter des Goldenen Zeitalters, d. h. des Urzeitalters, des Zeitalters vor der Menschheit, angesehen wurde.

Wenn wir nun nach Amerika reisen, finden wir in den aztekischen Zivilisationen Mexikos so bemerkenswerte Entsprechungen, dass sie sich sogar auf die Namen erstrecken. In der Tat nannten die alten Mexikaner ihr ursprüngliches Vaterland ›Tlapallan‹, ›Tullan‹ und auch ›Tulla‹ (das hellenische ›Thule‹).[2] Und so wie das hellenische Thule mit dem Sonnengott Apollo in Verbindung gebracht wurde, so galt auch das mexikanische Tulla als “Haus der Sonne”.

Aber vergleichen wir diese mexikanischen Überlieferungen mit den keltischen. Wenn die entferntesten Vorfahren der Mexikaner aus einem nordisch-atlantischen Land nach Amerika kamen, so sprechen auch hier die irischen Legenden von der “göttlichen Rasse” der “Tuatha dè Danann”, die aus dem Westen, aus einem mystischen atlantischen oder nordisch-atlantischen Land, Avalon, nach Irland kam.

Es scheint sich also um zwei Formen ein und desselben Gedächtnisses zu handeln. Die beiden Zivilisationen entsprächen zwei Ausstrahlungen, die eine amerikanisch, die andere europäisch, die von ein und demselben Zentrum ausgingen, von ein und derselben versiegten Quelle (dem Mythos von Atlantis) oder aber von einer Quelle, die vereist ist.

Aber es gibt noch mehr, denn wenn wir den Bereich der positiven modernen Untersuchungen verlassen, werden wir Elemente finden, die leicht mit diesen legendären Anklängen übereinstimmen könnten. In der Tat gibt es an der europäischen Atlantikküste (vor allem in der so genannten ›Magdalenenkultur‹) sehr deutliche Spuren einer authentischen Zivilisation und eines Menschentyps – des so genannten Cro-Magnon-Menschen–, der sich im Vergleich zu den fast tierischen Rassen des sogenannten “eiszeitlichen” oder “mousterianischen Menschen”, die damals in Europa lebten, auf eine überlegene Weise entwickelt zu haben scheint.

Die Fragmente, die uns von dieser Zivilisation überliefert sind, sind so beschaffen, daß einige Forscher erklären, daß die ›Cro-Magnons‹ mit Sicherheit als die Hellenen der Steinzeit angesehen werden können. Könnte diese Rasse der Cro-Magnons, die in der Steinzeit auf rätselhafte Weise entlang der atlantischen Küste unter minderwertigen und fast affenähnlichen Rassen auftrat, nicht identisch sein mit den ›Tuatha dè Danann‹, der “göttlichen Rasse”, die aus dem geheimnisvollen nordisch-atlantischen Land stammt und von der die irischen Legenden sprechen?

Und was die Mythen über den Kampf zwischen den plötzlich auftauchenden “göttlichen Rassen” und den Rassen der “Dämonen” oder Ungeheuer betrifft, könnten diese nicht am besten als phantastisches Echo des Kampfes gedeutet werden, der zwischen diesen beiden Rassen, zwischen den Cro-Magnon-Menschen, den “Hellenen der Steinzeit”, und den tierhaften “Mousterianern”, geführt wurde?

Die Ergebnisse der Forschungen von Wirth [3] sind, kurz gesagt, offenbar folgende: daß in der höchsten Vorzeit – um 20.000 v. Chr. –  eine große einheitliche weiße Rasse des Sonnenkultes aus der durch den Frost unbewohnbar gewordenen Polarregion nach Süden, nach Europa und Amerika, vor allem aber in ein verschwundenes, nördlich des Atlantiks gelegenes Land gedrängt wurde. Von diesem Land aus bewegte sich diese Rasse dann offensichtlich in der Altsteinzeit nach Europa und Afrika, auf jeden Fall von Westen nach Osten; sie drang offensichtlich in den Mittelmeerraum ein und schuf einen Zyklus von prähistorischen Zivilisationen, die eng miteinander verbunden waren, zu denen die ägyptische, die etruskisch-sardische, die pelasgische usw. gehören, ganz zu schweigen von anderen, die in neuen Wellen über den Kontinent vorstießen und bis zum Kaukasus und darüber hinaus bis nach Indien und sogar nach China reichten. So wäre das Hochland von Pamir, das als “Wiege der Menschheit” gilt, nur eines der relativ jungen Zentren der Ausstrahlung einer älteren Rasse.

Die arischen und indogermanischen Rassen, der “Homo eurapaeus” im allgemeinen, wären bereits abgeleitete Rassen und in gewissem Sinne bereits vermischt mit den älteren und reineren Linien, den “Hyperboreern”, mit denen prähistorische Erinnerungen, Symbole und sogar die steinernen Darstellungen der “Eroberer, die auf großen fremden Schiffen kommen”, der “Axt”, der “Sonne” und des “Sonnenmenschen mit erhobenen Armen” verbunden sind. Eine geheimnisvolle Einheit würde auf diese Weise eine Gruppe von großen Zivilisationen und alten Religionen zusammenführen, die bereits in Gebieten blühten, in denen man noch gestern die Anwesenheit von tierähnlichen Höhlenmenschen vermutete.

Dies ist, kurz gesagt, die seltsame und beschwörende Vorstellung, die heute, aus der Welt des Mythos schöpfend, wieder zum Vorschein kommt: die Arktis, das erste Vaterland der Menschheit, ja der “solaren” Zivilisation, im höchsten Sinne.

Und da das Symbol das Symbol beschwört, wollen wir zum Schluß daran erinnern: Schon in der römischen Epoche war die Vorstellung von der Region des Nordens als einem mystischen Land, das vom “Göttervater”, vom Numen des ersten Zeitalters oder des goldenen Zeitalters bewohnt wurde, die Idee, dass der fast nächtliche arktische Tag nichts mit dem immerwährenden Licht zu tun hatte, das die Unsterblichen umhüllt – solche Ideen waren in der römischen Epoche so lebendig, daß nach dem Wort des Eumenius, [4]Constantius Chlorus, der Großbritannien mit ›Thule‹ verwechselte, sogar eine Expedition in den Norden Großbritanniens unternahm, nicht so sehr aus dem Wunsch nach militärischem Ruhm, sondern um das Land zu erreichen, “das mehr als jedes andere dem Himmel nahe ist”, und um die göttliche Verklärung zu erahnen, die, so glaubte man, die Helden und die Kaiser bei ihrem Tod erfahren hatten.

Nun sind es dieselben Regionen, in denen die Menschheit ihren Anfang nahm und die das Geheimnis eines Volkes weißer Eroberer aus der Urzeit bergen, deren Symbol, die Axt, im übrigen gerade im römischen Symbol der “fasces”[5] wiederzufinden ist, dieselben nordisch-arktischen Regionen, von Grönland bis Nordamerika, die erst kürzlich von den Italienern siegreich aus der Luft erkundet wurden, in einem schicksalhaften Akt, der sich auf rätselhafte Weise gerade an Orte urzeitlicher Größe knüpfte.[6]

 

Anmerkungen:

[1] Tatsächlich handelt es sich um eine ganze Reihe von Expeditionen, insgesamt sieben, die zwischen 1912 und 1933 von einer Reihe von Forschern durchgeführt wurden, darunter die hier genannten: Diamond Jenness (1886-1969), Knud Rasmussen (1879-1933), Therkel Mathiassen (1892-1967) und Kaj Birket-Smith (1893-1977). Knud Rasmussen war der Organisator dieser Expeditionen und der einzige, der sie alle unternahm. Die selbsternannte Aufgabe insbesondere der späteren Expeditionen war es, die zivilisatorischen Ursprünge der Eskimos aufzudecken. Der Name ›Thule‹ wurde reflexartig auf die daraus resultierenden Entdeckungen übertragen, da es sich eigentlich nur um den Namen der ursprünglichen, von Rasmussen und seinem Freund Peter Freuchen gegründeten Handelsstation handelte, die als nördlichster Handelsposten der Welt “Ultima Thule” genannt wurde. Evola hat hier wahrscheinlich speziell die “Fünfte Thule-Expedition” von 1921 bis 1924 im Sinn, die bei weitem die erfolgreichste, produktivste und am besten dokumentierte dieser Expeditionen war. Einige kleinere Fehler: Evola verwechselt offensichtlich den Vor- und Nachnamen von Therkel Mathiassen, und Birket-Smith war in Wirklichkeit ein Däne und kein Amerikaner.

[2Der Name wird heute üblicherweise als “Tollan” transkribiert, was Evolas etymologische Vermutung natürlich in keiner Weise in Frage stellt.

[3] Herman Wirth (1885-1981) war ein niederländisch-deutscher Historiker, der viele seiner Studien den alten Religionen und ihren Symbolen sowie den Rassenstudien, insbesondere über die nordischen Rassen, gewidmet hat. Evola erwähnt ihn häufig in seinen Werken und erörtert seine Ideen ausführlich in Kapitel VII von ›Der Mythos des Blutes‹, in dem er eine Reihe von Ideen bespricht, die mit den in diesem Artikel vorgestellten verwandt sind. Obwohl Wirth schon früh eine gewisse Anerkennung von den Nationalsozialisten und sogar von Hitler selbst erhielt, führte sein Versuch, das Christentum im Lichte eines nordischen Glaubens zu interpretieren, dazu, daß er in Ungnade fiel, als die neuheidnischen Strömungen des nationalsozialistischen Denkens an Bedeutung zu gewinnen begannen. Sein 1928 erschienenes Werk ›Der Aufgang der Menschheit‹ wurde bis heute nicht ins Englische übersetzt.

[4] Im Original heißt es “Eumanzio”, aber das ist sicher die Figur, die gemeint ist: Eumenius, der römische Panegyriker, der zwischen 230 und 260 n. Chr. geboren wurde. Der vorliegende Verweis stammt wahrscheinlich aus Eumenius’ ›Pro restaurandis scholis‹, in dem er Kaiser Constantius I., auch bekannt als Constantius Chlorus (250-306), Vater von Kaiser Konstantin, lobt.

[5] Ein lateinischer Begriff, der ein mit einer Axt zusammengebundenes Rutenbündel bezeichnet, Symbol für die dem Zivilrichter übertragene Autorität. Evola verwendet hier den italienischen Begriff ›fascio‹, aus dem sich der Name “Faschismus” in bewußter Anlehnung an die römische Tradition entwickelt hat.

[6] Wahrscheinlich eine Anspielung auf zwei Flüge (1926 und 1928) über den Nordpol in Luftschiffen, die von General Umberto Nobile mit der Norge bzw. der Italia durchgeführt wurden. Ersteres war wahrscheinlich das erste Flugzeug, das den Nordpol erreichte. Der zweite Flug endete mit einem Absturz und einer kostspieligen Rettungsaktion, ein Mißgeschick, aus dem General Nobile unversehrt und mit nur einigen Knochenbrüchen hervorging.

 

Der Artikel erschien ursprünglich in ›Il Corriere Padano‹ (Ferrara), 13. Januar 1934.

Quelle: https://arktos.com/2023/06/27/the-mystery-of-the-prehistorical-arctic-thule/

 

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