Graf Hermann Keyserling
aus dem
›Reisetagebuch eines Philosophen‹
Gestern, gegen Sonnenuntergang, habe ich den einen Schau-Heiligen gesehen, von dem meine indischen Freunde mir sagen, daß er ernst zu nehmen sei. Der Mann hat mir sehr imponiert. Nicht, weil er nun schon sieben Jahre in einem taubenschlagartigen Gehäuse sitzt, das er nur einmal täglich verläßt, um im Ganges zu baden, und weil er diese ganze lange Zeit hindurch kein Wort geäußert hat; nicht weil sein Gymnosophisten-Dasein den Abschluß eines erfolgreich-tätigen Schulmeisterlebens darstellt – in diesem Zusammenhang ist fast jeder Inder bewundernswert, da fast jeder noch fähig ist, von heute auf morgen der Welt zu entsagen und in Armut und Abgeschiedenheit seine Tage zu beschließen: imponiert hat mir der Heilige durch seinen hochintelligenten, wunderbar durchgeistigten Gesichtsausdruck. Seine Augen zeigen nichts von dem feuchten Glanz, der emotionellen Halluzinanten eignet, seine Züge nichts von jener Entrückung, die zugleich ein Wahrzeichen der Verrückung des inneren Gleichgewichtes ist. Wohl geht sein Bewußtsein ganz im Innerlichen auf, aber es muß sein wirkliches Innerstes sein, welches es spiegelt, denn sonst könnte sein Ausdruck kein dermaßen reeller sein; er schaut so gehalten kraftvoll drein, wie nur irgendein Mann der Tat.
Wenn dieser reden wollte, er könnte viel offenbaren. Allein er redet nicht. Ich kann das gut verstehen. Das Mitteilungsbedürfnis schwindet gleichen Schritts mit der fortschreitenden Verinnerlichung, und wer nicht das Temperament eines Wissenschaftlers hat, wer nicht insofern Weltkind bleibt, wie weltfern sein Ziel immer sei, der wird immer einsilbiger, bis daß er zuletzt verstummt. Das liegt daran, daß alles Äußerste ausschließlich ist.
Wer buchstäblich hinter seine Gedanken kam, der weiß, daß seine eigentliche Meinung nicht mitteilbar ist, weil Eigenart einzig ist und im gleichen Sinne nur von einem verstanden werden kann, wie das Sein einer bestimmten Persönlichkeit nur von dieser einen gelebt zu werden vermag.
Was unsereiner anstrebt, erscheint, vom Atman her gesehen, als Kompromiß. Was tue ich, indem ich das Metaphysisch-Wirkliche objektiv zu bestimmen strebe? Ich suche nach einem Schema, das es allseitig umgrenzte, und dieses Schema könnte ich finden. Aber nachdem dies geschehen, wäre das, was ich meine, nicht als solches ausgedrückt, sondern nur seinen äußeren Umrissen nach umschrieben. Freilich könnte es scheinen, als hätte ich mehr getan, denn wenn die Umrisse sowohl deutlich als richtig hingezeichnet sind, so wird jeder andere verständnisfähige Mensch den Inhalt selbständig hineintun, so daß er glauben möchte, ich hätte ihm das Ding gezeigt. Das hätte ich aber nicht wirklich getan, weil es unmöglich ist.
Aller wissenschaftliche Ausdruck ist nur ein Rahmen dessen, was man sich ohnehin bewußt sein muß, um es zu erkennen; wer da kein Selbst besitzt oder auch nur kein dem meinen ähnliches Selbstgefühl, wird nie verstehen, was ich meine, und gäbe ich die bestmögliche Definition. Der Heilige, welchem der Fortschritt der Wissenschaft gleichgültig dünkt, zieht es drum vor, sein Wissen für sich zu behalten, da er es als solches doch nicht aussprechen kann.
Nach modern-europäischen Begriffen beurteilt, erscheint das Leben solches Mannes ganz wertlos; er tut ja nichts, lehrt nicht einmal, lebt nur sich selbst und läßt sich obendrein von seinen Mitmenschen durch Opfergaben erhalten. Die Inder beurteilen es als wertvoller, als es das des tätigsten Philanthropen wäre. Sie sind dankbar für sein Dasein, rechnen es sich zum Segen an, daß er unter ihnen weilt, und zur Ehre, daß sie zu seiner Erhaltung beisteuern dürfen. Hierin äußert sich eben die spirituelle Idealität, von der ich schon in Ceylon zu reden Gelegenheit hatte: es ist dem edleren Menschen Bedürfnis, seinem Ideal zu dienen, Bedürfnis, dies im Schein der Selbstlosigkeit zu tun. Aber wie ist es zu verstehen, daß gerade der untätige Heilige dem Inder sein Ideal verkörpert?
Hier fasse ich ein entscheidendes Motiv seiner Weltanschauung. Unzweifelhaft liegen die Dinge nicht so, wie die Theosophen meinen, die ihren Okzidentalismus nun einmal nicht abschütteln können und sich den Tatbestand mundgerecht machen, indem sie ihn dahin umdeuten, daß der Yogi tatsächlich viel mehr arbeite als der weltliche Arbeiter, nur tue er es in einer anderen Sphäre; er sende rastlos astrale und mentale Schwingungen aus, die der übrigen Menschheit mehr Nutzen brächten, als alle irdischen Werke. Das mag so sein; aber das meinen die Inder nicht. Sie meinen, daß es auf Tun, auch auf Gutes-Tun, nicht wesentlich ankommt.
Nur das Sein ist von wirklicher Bedeutung. Wozu die Menschheit glücklicher machen, belehren, bessern wollen, wo jeder genau auf der Stufe steht, zu der er sich im Lauf seiner Verkörperungen hinaufgearbeitet hat, genau so viel Gutes erfährt, genau so viel leidet, als er verdient?
Unmittelbar kann man anderen überhaupt nicht helfen; keinerlei Wohltätigkeit, auch die energischste, bestorganisierte nicht, vermindert die Sünde, das Elend dieser Welt. Da Unglück und Glück von der inneren Verfassung abhängen, wird durch noch so günstige Veränderung der äußeren Verhältnisse nichts Wesentliches geleistet.
Freilich ist Wohltun geboten, Arbeit für andere, Wohlwollen, Selbstopferung – aber wozu? auf daß der Wohltäter innerlich vorwärts komme, nicht, weil anderen damit viel geholfen würde. Um seiner selbst willen soll der Mensch das Gute tun; es gehört zur Sadhana, die der Vollkommenheit zuführt.
Wer nun vollkommen ist oder nahe daran, der bedarf dieser Übung nicht mehr. Der braucht nicht mehr zu handeln, nichts zu leisten; der hat das Ziel aller möglichen Arbeit erreicht. Der ist entselbstet, den Banden des Ich entwachsen; was immer er tun mag, ist bedeutungslos für ihn. Für die anderen aber?
Auf die anderen kommt es in dem Sinn nicht an, wie der Westen wähnt in seinem Aberglauben, es sei anderen wesentlich zu helfen. Altruismus ist keinen Deut mehr wert als Egoismus, ja er kann verderblicher wirken insofern, als er den Gewinn dessen, welcher ihn ausübt, durch den Nachteil vieler anderer erkauft.
Es ist kaum möglich, einem anderen wohlzutun, ohne diesen in seiner Selbstsucht zu befestigen; dieser sieht doch, daß seine selbstischen Wünsche ernstgenommen werden, und das beeinflußt ihn im Sinn seines Verderbens. Es macht ihn vorzüglich auf sein persönliches Glück bedacht, erschwert es ihm, frei zu werden von sich, und auf Befreiung (Mukti) allein kommt alles an. Nur dadurch kann man anderen wahrhaft nützen, daß man ihnen ein Beispiel gibt.
Nun gibt der Yogi, der allen irdischen Fesseln entwachsen ist, der hinaus ist über Arbeit und Werk, über Egoismus und Altruismus, über Zu- und Abneigung, von allen das höchste. Deshalb ist sein Dasein unter Menschen wertvoller als das des nützlichsten der Arbeiter.
Wieweit diese Auffassung im ganzen zutrifft, will ich heute nicht ergründen. Sicher schließt sie zwei allgemeingültige Wahrheiten ein. Die erste von diesen ist die, daß Arbeit nur ein Mittel, kein Zweck ist. Es ist sicherlich richtig, daß die innere Notwendigkeit der Arbeit für einen Menschen die Jugend seiner Seele beweist. Wenn der rohe Mensch nicht arbeitet, so verkümmert er, verschließt er sich die Möglichkeit des Fortschritts; der Grand-Seigneur braucht nichts zu tun, und bleibt doch auf der Höhe; der Weise vollends ist erhaben über alle Beschäftigungsnotwendigkeit.
Nun beziehen sich alle ewigen Werte auf das Sein, nicht auf die Leistung; diese ist genau nur insoweit von wesenhafter Bedeutung, als sie ein Sein vergegenständlicht. Nichts illustriert diese Wahrheit deutlicher als die westliche Zivilisation, die auf der entgegengesetzten Auffassung aufgebaut ist.
Die Okzidentalen leben ihrer Arbeit, sehen in ihr das Wichtigste, das Eigentliche, beurteilen alles Sein nach seiner Effikazität. Mit dem Erfolg, daß ihre Leistungen wohl alles überflügeln, was je auf Erden geschaffen worden ist, das Leben jedoch zu kurz kommt wie nie vorher. Je mehr ich vom Orient sehe, desto unwesenhafter erscheint mir der Typus des modernen Abendländers. Er hat eben sein Leben zugunsten eines Lebensmittels abgedankt.
Die zweite absolute Wahrheit, die in der indischen Weltanschauung beschlossen liegt, ist die, daß man durch Wohltun wesentlich nur sich, nie anderen nützt. Eine ungeheure Selbstüberhebung, gepaart mit kläglichem Mißverstehen, liegt im Glauben beschlossen, der die westliche Wohltätigkeit beseelt. Es ist erfreulich, daß sie besteht: sie bringt die Wohltäter vorwärts; daß sie die Empfangenden vielfach schädigt, ist gewiß, aber deren Nachteil ist im ganzen wohl geringer als der Vorteil, welchen jene von ihr haben. Aber deren Gewinn würde noch viele Male größer sein, wenn sie nicht im Wahne befangen lebten, anderen Gutes zu tun; zu geben, nicht vielmehr zu empfangen; auf Dankbarkeit rechnen zu dürfen. Dieser Wahn bringt sie oft um ihren Lohn.
Man sehe sich unsere typischen Wohltäter an: sie sind meist Pharisäer der schlimmsten Sorte, selbstbewundernd, selbstgerecht, aggressiv, präpotent, takt- und rücksichtslos, eine moralische Plage für ihre Klienten. Wenn sie wüßten, daß sie nur sich, nicht anderen wesentlich nützen, indem sie ihr Überflüssiges hergeben, daß sie also mehr Grund haben, den Armen dankbar zu sein als Dankbarkeit von ihnen zu erwarten, ihr Tun wäre segensreicher. Es brächte sie schneller vorwärts, ließe sie liebenswerter erscheinen; vor allem aber erzeugte es in den Seelen der Armen nicht den inneren Widerstand, welchen Dankforderung in den meisten wachruft und auf den so viel der innerlichen Schrumpfung zurückzuführen ist, die bei unseren Armen vorherrscht; endlich erschiene dann der Akzent der Lebensbewertung weniger ausdrücklich auf das Unwesentliche verlegt. Wer sich einbildet, Wunder was Gutes zu tun, indem er einen Notleidenden zufrieden stellt, der bekennt damit die Weltanschauung, daß materielles Wohlbefinden die Hauptsache sei.
Unter den Eingeborenen Indiens wie des ganzen Orients herrscht de facto viel mehr Wohltätigkeit als unter uns. Das Zusammenhangsgefühl ist dort so groß, das Einzigkeitsbewußtsein so gering, daß es keines außerordentlichen Entschlusses bedarf, um seine Nächsten an seinem Besitze teilhaben zu lassen. Wenn man von Katastrophen absieht, echten Hungersnöten, erscheint der Arme im Orient der Gefahr des Verhungerns viel weniger ausgesetzt als unter uns. Jeder gibt, soweit er kann, dem Bedürftigen, unterstützt arme Verwandte, Kranke, Pilger und Wanderer; er tut es wie selbstverständlich, ohne Aufhebens davon zu machen, glaubt nicht, etwas Besonderes damit zu tun, rechnet vor allem nicht auf ewige Dankbarkeit. Er weiß, daß er zu seinem Besten wohltut.
Deshalb herrscht im ganzen weiten Osten so unverhältnismäßig viel weniger Ressentiment unter Armen den Wohlhabenden gegenüber, so viel weniger Überschätzung des Reichtums, eine so viel freiere Stellungnahme materiellen Bedürfnissen und deren Befriedigung gegenüber. Dort macht sich kein Bedürftiger etwas daraus, Unterstützungen anzunehmen; dort fällt es keinem Geistlichen ein, für Opfergaben besonders zu danken; dort ist die Existenz eines Heiligen selbstverständlich, der, nichts tuend, von seinen Mitmenschen erhalten wird. So sollte es überall sein. Aber schwerlich wird der stoffbeschwerte Westen so bald einen so hohen Standort erklimmen.