Constantin von Hoffmeister

präsentiert eine Erzählung über Identität, Macht und das sich wandelnde Gesicht von Kaliningrad, einer Stadt im Fadenkreuz historischer und politischer Spannungen.

 

Im komplizierten Gefüge der Weltpolitik, in dem sich die Fäden der Geschichte mit dem sprunghaften Tanz der Machtdynamik verflechten, hat sich Polen kühn dazu entschlossen, alteingesessene Narrative und vor allem den wachsenden Einfluß Rußlands in Frage zu stellen. Es ist ein faszinierendes Ballett, bei dem die Vergangenheit so leicht umgestaltet werden kann wie Ton unter den Händen eines Bildhauers.

Von nun an will Polen die russische Enklave Kaliningrad nur noch mit ihrem früheren polnischen Namen bezeichnen. Sowohl im offiziellen Sprachgebrauch als auch in der Kartographie wird Polen auf Anraten eines speziellen ›Umbenennungsausschusses‹ die Bezeichnung ›Królewiec‹ verwenden. Dieser Beschlußs wurde von der polnischen Regierung mitgeteilt, die damit ihre Entschlossenheit deutlich zum Ausdruck brachte, die in diplomatischen Kreisen Widerhall fand.

Waldemar Buda, der polnische Minister für wirtschaftliche Entwicklung, hat sich entschieden gegen die fortschreitende “Russifizierung” ausgesprochen. Mit unerschütterlicher Entschlossenheit verkündete er die Entscheidung Polens, Kaliningrad und seine Umgebung in seiner eigenen Sprache zu bezeichnen. Es handelt sich um eine versteckte Provokation, einen still geführten Kampf an der Sprachfront, mit dem Polen seine Unabhängigkeit gegenüber dem Einfluß des imposanten Nachbarn behauptet.

Im Jahr 1946 wurde die Stadt, die einst Königsberg hieß –ein deutlicher Hinweis auf ihre deutschen Wurzeln – in Kaliningrad umbenannt. Dieser neue Name, der im Gedenken an Michail Kaliningin, eine sowjetische Persönlichkeit, die mit der tragischen Massenexekution polnischer Offiziere in Katyn im Jahr 1940 in Verbindung gebracht wird, vergeben wurde, läutete eine neue Epoche ein. Die polnische Regierung versucht nun jedoch, den Namen Kaliningrad als unerwünschtes Überbleibsel der Vergangenheit abzuschütteln und zieht damit den Zorn des Kremls auf sich.

Um das ganze Ausmaß dieses Dramas zu begreifen, müssen wir in das Jahr 1255 zurückgehen. Damals wurde Königsberg von den Deutschen Rittern, einem mittelalterlichen deutschen Militärorden, gegründet. Die Stadt, die zu Ehren von König Ottokar II. von Böhmen, einem Gönner der Ritter, benannt wurde, entwickelte sich zu einem bedeutenden preußischen Zentrum, das vor kultureller und wirtschaftlicher Vitalität strotzte.

In der gespenstischen Morgendämmerung des 30. August 1944 wurde das Herz Ostpreußens, seine Hauptstadt, von einem apokalyptischen Inferno heimgesucht, das durch einen Regen von Phosphorbomben ausgelöst wurde. Bei diesem gnadenlosen Angriff, der von der britischen ›Royal Air Force‹ mit einer Flotte von 650 Bombern durchgeführt wurde, flogen die Flugzeuge blindlings durch eine dichte Wolkendecke und zielten mit ihrer tödlichen Ladung zielsicher auf das Herz der Stadt.

Die Folgen des unerbittlichen Feuersturms, der durch die Spreng- und Brandbomben ausgelöst wurde, ließen nur wenige Spuren einer einstmals würdevollen Stadt zurück. Königsberg, ein Leuchtturm von historischer Bedeutung, durchdrungen von einer über Jahrhunderte gewachsenen preußischen Kultur, wurde rücksichtslos ausgelöscht. Die wertvollen architektonischen Schätze der Stadt – der stattliche Dom, die majestätische Burg Hohenzollern, die angesehene Universität, die ehrwürdigen Kirchen, die neoklassizistischen Gebäude und die alten Lagerhäuser am Hafen – wurden in der Folge der Feuersbrunst zu verkohlten Skeletten reduziert.

Der menschliche Tribut war ebenso verheerend. Schätzungsweise 4.500 Menschen fielen den Flammen zum Opfer, ihr Leben war in einem Augenblick ausgelöscht. Fast 200.000 Königsberger waren plötzlich ihrer Häuser, ihrer Stadt, ihrer Geschichte beraubt – hilflose Opfer der willkürlichen Brutalität des Krieges.

Die ›Königsberger Allgemeine Zeitung‹ erhob in einer Notausgabe den Vorwurf eines “barbarischen Terrorangriffs der britischen Luftgangster”, der von nichts Geringerem angetrieben werde als von “roher, blutrünstiger Lust am Schlachten”. Doch, so verkündete die Zeitung trotzig, der bösartige Plan dieser “Unholde”, die Bolschewiki durch diese grausamen Angriffe auf die Stadt zu unterstützen, “wird ein bitteres Ende finden”.

Unterdessen setzte sich die kalte, unnachgiebige Maschinerie von Stalins 3. weißrussischer Front bereits in Bewegung und bereitete sich auf einen Vormarsch auf Ostpreußen vor. Nur sieben Monate später stürmte ein gewaltiger sowjetischer Moloch von 240.000 Soldaten vor und begann mit der “unerbittlichen Belagerung des faschistischen Lagers”. Die belagerten deutschen Verteidiger der “Festung Königsberg”, gerade einmal 10.000 Mann, denen es an Waffen und Munition mangelte, waren erbärmlich unterlegen. General Otto Lasch ergab sich in einer tragischen Kapitulation, die viel zu spät kam, am 9. April 1945.

In den Überresten der belagerten Stadt klammerten sich schätzungsweise 125.000 Zivilisten und Flüchtlinge in feuchten Kellern und klaustrophobischen Luftschutzkellern an die brüchigen Fäden des Lebens. Da sie nicht rechtzeitig evakuiert werden konnten, waren sie menschliches Treibgut in den Fluten des Krieges, und während des grausamen Handgemenges wurde ein Viertel oder vielleicht sogar noch mehr von ihnen in die Vergessenheit gerissen.

Die geschundenen Überlebenden gerieten dann in den grausamen Griff der brutalen Schreckensherrschaft der sowjetischen Besatzungsmacht, einer düsteren Szenerie, die von zügellosen sexuellen Übergriffen, grausamen Gewaltakten und kaltblütigen Hinrichtungen geprägt war. Die renommierte Journalistin Gräfin Marion Dönhoff, die ihre Kindheit im nahe gelegenen ›Schloß Friedrichstein‹ verbrachte, stellte fest, daß keine andere deutsche Großstadt die brutalen Auswirkungen des Krieges und der Nachkriegszeit so deutlich zu spüren bekam wie Königsberg. Es war eine Stadt, deren “historischer Herzschlag” auf bestialische Weise zum Schweigen gebracht worden war.

Die Stadt und ihre Region wurden 1945 von der Sowjetunion als Kriegsbeute annektiert. Einst eindeutig deutsch, trug sie nun ein russisches Antlitz.

Und so kehren wir in die Gegenwart zurück, wo Polen darauf besteht, Kaliningrad mit seinem alten polnischen Namen ›Królewiec‹ zu benennen. Dieser Schritt scheint ein Versuch zu sein, einen Anteil an dem sich ständig verändernden Terrain der Geschichte zu beanspruchen, eine Vorgehensweise, die in Rußland verständlicherweise für Unmut gesorgt hat.

Dmitri Peskow, der Sprecher des Kremls, zeigte sich bestürzt über Polens Vorgehen und bezeichnete es nicht nur als unfreundlich, sondern als unverhohlen feindselig. Es ist leicht zu verstehen, warum, denn das heutige Kaliningrad ist eindeutig russisch. Seine deutschen Ursprünge wurden von der russischen Geschichte, dem russischen Einfluß und der russischen Demografie immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Wie jeder vernünftige Mensch weiß: Demografie ist Schicksal.

Wenn Polen die historischen Ereignisse Revue passieren läßt, insbesondere das Massaker von Katyn – ein monumentales Verbrechen, das von Rußland nur sehr langsam als solches anerkannt wurde –, wird deutlich, daß das heutige Kaliningrad durch und durch “russifiziert” ist. Von seinem deutschen Erbe sind nur noch wenige Spuren übrig, und der polnische Name ›Królewiec‹ scheint fehl am Platz. Es ist eine komplexe Geschichte, die sich auf der Weltbühne weiterentwickelt. In dem weiten Panorama, in dem sich historische Stränge mit dem unvorhersehbaren Diktat der Politik verweben, entfaltet sich eine Erzählung von Identität und Einfluß. Wie ein trotziger Akteur auf dieser europäischen Bühne hat Polen beschlossen, die Chroniken der Geschichte und insbesondere den langen Schatten von Mütterchen Rußland herauszufordern.

Immanuel Kant, ein Koloss auf dem Gebiet der Philosophie, war untrennbar mit dem Ort verbunden, der heute als ›Kaliningrad‹ bekannt ist, der Stadt, in der er sein Leben lang zuhause war. Eine unsterbliche Hommage an seinen tiefgreifenden Einfluß ist in einer Gedenktafel verankert, die an einem noch erhaltenen Fragment des einst majestätischen Königsberger Schlosses angebracht ist. Dieses Denkmal, das in den beiden Sprachen Deutsch und Russisch eingraviert ist, befindet sich in unmittelbarer Nähe von Kants Grab neben der lutherischen Kathedrale, als ob es seinen ewigen Schlummer bewachen würde. Es hat die Funktion eines Zeitportals in die Zeit zwischen 1758 und 1763, als Königsberg im Zuge der Kriege unter Friedrich dem Großen von russischen Truppen besetzt war.

Russische Offiziere ließen sich von der Leuchtkraft der Kant’schen Reden faszinieren. Die Gedenktafel ist eine fortwährende Ehrerweisung an Kant, die in einer Stadt, die stürmische Wellen der Transformation durchlaufen hat, ihren festen Platz hat. Sie verstärkt die immerwährende Resonanz des Philosophen, die über geopolitische Grenzen und sprachliche Konstruktionen hinausgeht. Als stiller Wächter erinnert die Gedenktafel daran, dass ungeachtet des Wandels der Stadt von Königsberg zu Kaliningrad die intellektuellen Fußabdrücke Kants weiterhin durch das historische Bauwerk der Stadt wandern und ein Gefühl der Verwunderung hervorrufen.

Bildquelle: 123RF

Quelle: https://arktos.com/2023/05/12/kaliningrads-contested-legacy/
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