Auszug aus dem Buch

›Das Leben der Pflanzen‹

Kampf und Liebe, Konkurrenz und Gemeinschaft im Reich der Botanik

von Jean-Marie Pelt

Die Geschichte der Pflanzen ist ein phantastisches Epos. Am Anfang, in der Urnacht aller Zeiten, erfindet eine primitive Zelle im Schoß des Ozeans das Chlorophyll, die erste Pflanze ist geboren. Dann klammert sich eine Zelle an einen Felsen und entwickelt eine etwas ausgereiftere Gestalt: der Grundstein für die Küstenalgen ist gelegt.

Mit dem Auftauchen der ersten Landpflanzen erfolgt die Eroberung der Kontinente. Zu diesem Zweck erfindet die Pflanze das Holz. Dutzende von Millionen von Jahren sollen noch vergehen, ehe es der Pflanze gelingt, sich endgültig von ihrem Ursprung im Meer loszureißen, an den sie die Erinnerung in der Stunde der Fortpflanzung eigensinnig beibehält.

Ähnlich verhält sich der Frosch, der ins Wasser zurückkehrt, um seine Eier zu legen, aus denen anschließend Kaulquappen schlüpfen. Diese Kaulquappen lösen sich erst nach einer gewissen Zeit vom Teich, in dem sie geboren wurden, um Frösche zu werden und auf dem Festland zu leben. Erst mit der Entstehung der Eizelle befreit sich die Sexualität schließlich von jeder Wasserabhängigkeit.

Die ersten Pflanzen, die aus Eizellen entstanden, sind ausgestorben, ohne Spuren – außer in ihrem fossilen Zustand – zu hinterlassen. Ein einziger ehrwürdiger Baum, nämlich der Ginkgo, kann uns eine Ahnung davon vermitteln, wie die ersten Eizellen ausgesehen haben müssen.

Der Ginkgo ist der älteste unter den Bäumen. Es gibt zwei Arten von Ginkgos, die männlichen und die weiblichen – wie bei Mensch oder Tier. Ein geschultes Auge kann den Unterschied erkennen: Der weibliche Baum ist stämmiger, gedrungener und weniger hoch aufgeschossen als der männliche. Dieses Phänomen tritt sehr selten in der Pflanzenwelt auf, in der die Trennung der Geschlechter weitaus weniger ausgeprägt ist als bei den höherentwickelten Tieren: Der Ginkgo ist das einzige Beispiel bei den Pflanzen, bei dem man Moniseur und Madame an ihrer Haltung und ihrem Verhalten, ohne direkte Beziehung zu ihren Geschlechtsorganen, erkennen kann.

Wenn der Ginkgo in manchen Gegenden von China noch wild zu wachsen scheint, so ist er doch überwiegend ein gezüchteter Baum, der nur dank der Fürsorge der Menschen überleben kann. (Vielleicht handelt es sich auch bei diesen Gebieten in China um Reste ehemals ausgedehnter alter Pflanzungen.) Wahrscheinlich wäre dieser Baum schon längst ausgestorben, wenn ihn der Mensch nicht aus Instinkt oder aus Ehrfurcht vor seinem hohen Alter von Anfang an geschützt hätte, um sich dann selbst wieder von ihm beschützen zu lassen.

Im Orient glaubt man, daß der Ginkgo das Feuer bannt und Brände abwehrt. Dieser alte Glaube fand neue Bestätigung, als Tokio im Jahre 1923 von einem Erdbeben zerstört wurde. Die gigantische Feuersbrunst, die daraufhin ausbrach, verschonte einen großen Tempel, um den herum eine Menge Ginkgos standen. Die Spur dieses Baumes ist schon seit dem elften Jahrhundert in der chinesischen Literatur und Malerei zu verfolgen.

Im gesamten Fernen Osten ist er, da er seines hohen Wuchses oder langen Lebens wegen für heilig gehalten wurde, in der Nachbarschaft von buddhistischen Tempeln und Pagoden anzutreffen. Die buddhistischen Mönche haben es sich zur Angewohnheit gemacht, Teile der alten, die Tempel umgebenden Wälder zu bewahren. Auf diese Weise sind natürlich Reservate entstanden, in denen sich sehr alte Bäume erhalten konnten.


Der Ginkgo ist an seinen seltsamen fächerförmigen Blättern, die im Herbst eine goldgelbe Farbe annehmen, leicht zu erkennen. Dem aufmerksamen Beobachter wird sogleich die gabelige Verzweigung seiner Blattnerven auffallen, die das archaische Alter dieses Baumes verrät und an gewisse Farne, wie zum Beispiel das 
Frauenhaar, erinnert.

Der Ginkgo wird in botanischen Gärten, aber auch entlang der Straßen gepflanzt, weil er Umweltverschmutzungen wie Abgase und die Trockenheit des städtischen Klimas gut verträgt. Dabei sollte man darauf achten, ausschließlich männliche Bäume zu pflanzen. Die weiblichen Bäume legen »Eier« wie die Vögel, die auf der Erde zerplatzen, einen äußerst unangenehmen Geruch nach ranziger Butter ausströmen und die Straßen glitschig machen.


Stimmt es, daß der Ginkgobaum Eier legt? Müßten die Zoologen ihn also einen »eierlegenden Baum« nennen?

Tatsächlich sieht die Samenanlage, die die Eizelle enthält, wie eine große gelbe Pflaume aus – oder wie ein Eigelb! Sie ist mit Nahrungsreserven gefüllt, die für den Embryo bestimmt sind, der wie ein Küken in seinem Ei heranreift, bis ein glücklicher Zufall ein Spermatozoid in die Nähe führt und die Befruchtung ermöglicht. Da sich dieser glückliche Zufall nicht immer ereignet, hat der Baum oft ganz umsonst diese großen schweren Samenanlagen gebildet und mit wertvollen Nährstoffen gefüllt.


Die entwickelteren, »moderneren« Bäume bauen ihre Nahrungsreserven erst nach erfolgter Befruchtung auf, das heißt also, erst wenn Reserven zur Frucht- und Samenbildung vonnöten sind. Der Ginkgo hat noch nicht daran gedacht: Er fabriziert unter großen Mühen unzählige riesige »Eier«, von denen die meisten nie zu etwas nütze sind.

Sparsamkeit ist nicht seine Stärke, die entwickelteren Bäume sind nicht so verschwenderisch und können besser haushalten. Sie bilden erst Früchte und Samen heran, wenn die Befruchtung stattgefunden hat. Kommt es zu keiner Befruchtung, wird die Blütenanlage abgestoßen. Der Ginkgo macht es anders. Er trifft sogleich Vorkehrungen und bildet auf Anhieb ein riesiges Organ, eine Art Speisekammer, bei dem gar nicht sicher ist, ob es jemals einen jungen Sproß ernähren wird. Stellt sich keine männliche Zelle ein, gibt es weder Befruchtung noch Nachkommenschaft. Wie bei den Hühnern, deren Eier steril bleiben, wenn kein Hahn im Hühnerhof kräht.


Fängt jedoch dieses dicke jungfräuliche »Ei« ein vom Wind verstreutes Pollenkorn von einem in der Nähe wachsenden Baum ein, ist die Voraussetzung für eine Befruchtung geschaffen. Ein junger Embryo entsteht, wächst dank der Nahrungsreserve, die er nach und nach aufzehrt, heran, bildet eine Wurzel und damit einen neuen Baum.


Man kann also die dicke Pflaume des Ginkgo weder als eine Frucht noch als Samen bezeichnen; einmal befruchtet, kennt der Keimling darin keine Ruhepause und könnte nicht wie die Früchte oder Samen aller höherentwickelten Pflanzen monate-oder jahrelang aufbewahrt werden, bis die Bedingungen für eine Keimung günstig sind.

Die Pflaumen des Ginkgo können auch niemals im Sack verkauft werden, weil sie sofort zu keimen beginnen und den Sack zum Platzen bringen würden, noch ehe man die Keimlinge in die Erde setzen kann. Das Wachstum des Embryos beginnt im Augenblick der Befruchtung und hört erst im Stadium der Reife auf – wie bei Mensch oder Tier.

In diesem Stadium der Pflanzengeschichte ist der Begriff »Samenkorn« noch nicht anwendbar. Die Kunst, das Leben in Form von Samen zu konservieren, so typisch für die heutige Pflanzenwelt, ist erst viel später erfunden worden.

Die Befruchtung der Ginkgo-Eizelle durch den Pollen eines männlichen Baumes kann auf dem Baum, aber auch auf der Erde stattfinden, wenn sich das dicke »Ei« von der Mutterpflanze gelöst hat. Damit es überhaupt zu einer Befruchtung kommt, muß der Ginkgo seine Geschlechtsreife erreicht haben, das heißt, er muß alt genug sein, um funktionierende Geschlechtsorgane zu haben. Dazu läßt sich der Baum allerdings lange Zeit: Die ersten Eizellen produziert er nicht vor seinem dreißigsten Lebensjahr.

 

Print Friendly, PDF & Email