Karl Gotthelf Jakob Weinhold

Auszug aus dem Buch 

›Altnordisches Leben‹

Die Gastlichkeit ist eine altgermanische Tugend, von der schon Caesar und Tacitus rühmend redeten und die noch heute in tausend und abertausend Häusern unsers Stammes nicht ausgestorben ist. Sie blühte auch an den nordischen Straßen und Pfaden, und machte die rauhen Berge und die wilde See den Fahr- und Wandersleuten heiter und mild. Kein Fremder durfte abgewiesen werden, der um Obdach ansprach; der Becher ward ihm gereicht, ob man schon fürchten mochte, es sei der Mörder eines Bruders; die Blutrache sogar schwieg, wenn der Feind unter des Feindes Dach trat.

Es war der schwerste Vorwurf, gegen Gäste karg zu sein; drum wußte Frigg bei Odin, ihrem Gemahl, dessen Schützling Geirröd nicht schlimmer zu verdächtigen, als daß sie log, er sei hart und grausam, wenn zu viel Fremde kämen.

Besonderen Ruhm hatten die Schweden, von denen Adam von Bremen sagt, sie überträfen die übrigen Nordländer noch, so gastfrei auch diese seien; denn sie wetteiferten um die Ehre, Gäste zu bewirten, behielten sie, so lange diese wollten, und gäben ihnen beim Abschiede Empfehlungen mit, so daß sie von Ort zu Ort ein gastliches Obdach fänden. Gleiches wird dann von Chronisten über die Isländer gesagt. Solches stimmt fast wörtlich mit Tacitus Erzählung von der unerschöpflichen Gastlichkeit der Deutschen.

Sehr bezeichnend ist auch eine Bestimmung im Eidsivathinger Kristenrecht, wonach es erlaubt wird, wenn mehr als vier Gäste sonntags einsprechen, von der strengen Sonntagsheiligung abzulassen und zu backen und schlachten, was nötig ist, nur darf es nicht draußen im Hofe geschehen.

Gute oder schlechte Kleidung des Fremden sollte keinen Unterschied machen. „Treib nicht Spott mit dem Gast und jage ihn nicht vom Zaun, nimm auch den zerlumpten gütig auf“; „das Herz blutet dem, der jedes Mal um Brot bitten muß.“ „den Unbekannten muß man anreden“; „freuen sich doch die Hunde, und das Haus öffnet sich von selbst, wenn ein Gast kommt.“ Darum heißt es: Zu einem guten Freunde führen gute Straßen, wenn man auch umfährt; aber zu einem schlechten ist es ein Umweg, wenn er auch an dem Wege wohnt.

Der Text wurde von uns der derzeitigen Sprachregelung angepaßt. Als Beispiel der damaligen Schrift im Original der Buchausgabe: Am Tage stunden gewönlich Hof- und Hausthüren offen, und der Fremdling schritt hinein in das Wonhaus.

Am Tage standen gewöhnlich Hof- und Haustüren offen, und der Fremdling schritt hinein ins Wohnhaus. Dort blieb er auf dem Golf stehen und meldete sich, harrend der ladenden Anrede. „Gangrat heiße ich, sprach Odin, als er beim Riesen Vafthrudnir eintrat; ein Wanderer, komme ich zu deinem Saal, durstig, der Labung bedürftig und der Aufnahme; weit bin ich gefahren.“ Und der Riese rief: „Warum redest du vom Golf aus! Tritt in den Saal und setze dich!“

Stand der Wirt vor der Türe, so grüßte er den Ankömmling und fragte nach seinem Namen; dann bot er ihm an, da zu bleiben, und wenn es der Fremde annahm, führte er ihn ins Haus.

In größeren Häusern standen an der Umzäunung des Hofes oder an der Haustür Diener, bei denen sich der Gast zu melden hatte. Als Sigurd vor Gripis Burg kam und dem Torwart sein Begehren, den König zu sprechen äußerte, fragte ihn dieser nach dem Namen, denn der König werde wissen wollen, wer nach ihm verlange. Sigurd nennt sich; der König schreitet aus der Burg und heißt den Gast willkommen.

Hlödver, König Heiders Sohn, kommt zu seinem Stiefbruder Angantyr von Reidgotland; er findet den Mann vor dem hohen Saal und befiehlt diesem, dem König ihn zu melden. Gewaffnet kommt er heraus, heißt ihn willkommen und lädt ihn zum Trunk in die Burg.

Es war durch die Sitte geboten, daß der Wirt selbst an die Tür ging, wenn ein Gast gekommen war. Thorgeir Havarsson kam nachts zum Hause Jödurs auf Skeljabrecka und pochte. Jödur sprach zu seinen Leuten: Man hat an das Tor geklopft; geh einer von euch Burschen hinaus! Ein Knecht gehorchte, sah den Bewaffneten draußen stehen und fragte, wer er sei. Vîgfûs (Schlagfertig) heiße ich, sprach Thorgeir. Drauf der Knecht: Tritt ein, ich biete dir Herberge. Aber der Fremde sprach: Von einem Knechte nehme ich die Einladung nicht an; sage dem Jödur, daß er selbst herauskomme.

Zum Hause Gunnar Hlifarsons kam Thorsell Refil in der Nacht und pochte. Ein Knecht ging hinaus, grüßte und fragte nach dem Namen des Fremden. Thorsell antwortete, er werde ja doch nichts von ihm wissen, er möge nur den Herrn bitten, herauszukommen. Der Diener sagte, dieser sei zu Bett; aber der Ankömmling besteht darauf, das ihm gesagt werde, jemand wolle ihn sprechen. Der Hauskerl tut nach Befehl, wird aber zurückgeschickt, er solle den Mann einladen, die Nacht dazubleiben. Thorsell erklärt aber, nur vom Bonden selbst nehme er die Ladung an. Bescheiden entgegnet der Diener, das sei auch billiger, indessen sei Gunnar nicht gewohnt, nachts aufzustehen; er möge daher entweder von ihm sich einladen lassen oder fortgehen. Und du, rief Thorsell, magst entweder die Botschaft gehörig ausrichten oder ich halte dir den Schwertkopf unter die Nase! Da lief der Hauskerl hinein und schlug voll Furcht das Tor zu. Gunnar stand auf und ging mit seinem Schwerte hinaus. Er erkannte den Thorkell und führte ihn in das Haus.

Dies überall hervortretende Verlangen der Fremden, daß der Hauswirt selbst an die Tür komme, fußt begreiflicherweise auf der Ansicht, daß dieser allein das Recht habe, ihnen den Eintritt zu gewähren; Fürsten wie Bauern gehen daher den Gästen entgegen. Doch war diese Höflichkeit nicht selten gefährlich, denn der Ankömmling konnte ein Bluträcher sein, und kein Wirt ging deshalb unbewaffnet an die Tür. In manchen Fürstenhöfen war auf Grund dieser Besorgnis gefordert, daß die Gäste ihre Waffen draußen an die Wand lehnten und unbewehrt in den Saal schritten. Oder wenn sie bewaffnet vorgelassen wurden, so nahmen sie den Helm vom Haupte, legten den Schild vor ihre Füße, wenn sie vor den Wirt traten, und stachen das Schwert in den Tisch. Höfische Sitte war es am Ende des 12. und 13. Jahrhunderts, den Mantel abzulegen, Hut oder Haube abzunehmen und die Handschuhe auszuziehen, wenn man vor Vornehme ging.

Das erste, was nach dem Gruße, dem zuweilen der Kuß folgte, dem Gast geboten wurde, war nach altgermanischer Sitte der Willkommenstrunk. Eintretenden Erwarteten brachte man den Becher bis zur Tür entgegen, Unerwarteten wurde er sogleich drinnen aufgetragen.

Als Sigurd Brynhild besuchte, traten vier Mädchen mit vier großen goldenen Gefäßen voll besten Weines vor ihn; Brynhild erhebt sich, nimmt einen Becher und bringt ihm denselben zu. Selbst in den Buden auf dem Alding bot man den Besuchern den Willkommen.

Waren die Fremdlinge lange gewandert und ihre Kleider durchnäßt oder durchfroren, so wurden sie sofort ans Feuer geführt, das auf dem germanischen Herde nie erlischt; es wurden ihnen von den Frauen die Gewänder abgezogen und trockne gereicht. „Des Feuers bedarf, wer einwandert, an den Knien erkältet; Speise und Gewand ist not dem Mann, der über die Berge gefahren ist.“ Die ausgezogenen Kleider nahm der Wirt in Verwahrung, und der Gast legte sie wahrscheinlich erst beim Abschiede wieder an. Das Bad, welches auf dem Festlande den Gästen gewöhnlich geboten ward, wird im Norden sehr selten erwähnt.

Irgend Angesehene und Befreundete setzte der Wirt auf den Hochsitz oder wenigstens neben sich auf eine Seite des Hochsitzes; die andern mußten es sich auf dem Gegensidel, Niedrigere in vornehmen Häusern auf einem andern Platze einer Bank gefallen lassen. Indem der Gast hiernach beurteilen konnte, wie er in dem Hause angesehen wurde, war es eine seiner ersten Fragen, wo er sitzen solle. In ärmlichen Hütten, wo kein Hochsitz war, setzte sich der Gast auf das Fletz und Wirt und Wirtin ihm zur Seite.

So weit der Wirt noch nicht erfahren, wem er Obdach und Kost bot, suchte er es jetzt zu erkunden; er legte stehende Fragen vor, die auch der Vornehme vom Hochsitz herunter an die Unbekannten richtete, welche sich ihm vorstellten. Wie heißt du, Mann? Wo warst du heut Nacht? Welches und wo ist dein Geschlecht? Ganz ähnlich spricht der Wirt den Traugemunt in unser alten Gedichte an: willkommen, garender man! wâ læge du hînaht? wâmite wære du bedacht? oder in welre Wise bejageste kleit od spîse?

In großen Höfen, wo täglich Scharen von Fremden einwanderten, gab es ein besonderes Gasthaus (gestahûs, gestakâli) in welches alle gewiesen wurden, die nicht besondrer Aufmerksamkeit wert schienen. Auch die Bettler fanden hier Unterkunft und Herbergsdiener (herbergsveinar) warteten auf.

Das Nachtlager bot man dem Gaste nach bestem Vermögen. In dürftigeren Haushaltungen teilte er das Lager des wirtlichen Ehepaares; zuweilen räumte ihm der Wirt seine Stelle darin, oder der Gast ward in das Bett der Tochter gewiesen. Dergleichen sind Reste uralter Sitte. In größeren Häusern fanden die Fremden im allgemeinen Schlafhause ihr Lager.

Die Sitte verlangte keinen Mißbrauch der Gastfreundschaft: „nicht soll der Gast lange an einem Orte weilen, denn der Liebe wird leid, wenn er lange sitzt in anderen Häusern.“ Als Einar Skalaglamm den Egil bei einem Besuche nicht findet, wartet er drei Tage; dann geht er, denn es war nicht Sitte, länger als drei Nächte bei Bekannten (at kynni) zu bleiben. Auch sonst werden drei Tage als die Frist erwähnt, welche Gäste nicht überschreiten; und solches war allgemein germanisch. Für Deutschland mögen die Sprichwörter reden: dreitägiger Gast ist jedermann zur Last, und: den ersten Tag ein Gast, den zweiten eine Last, den dritten stinkt er fast.

Manche Wirte freilich sahen nicht auf die drei Tage: So gab Thorgils Arason in Reikjahol auf Island jedem freien Manne Kost und Herberge, so lange er wollte. Sein Haus war daher auch stets voll Gäste.

Am Morgen brach der Gast auf; ein Frühmahl ward ihm noch gereicht, die Kleider wurden ihm zurückgegeben und angezogen; dann erhebt er sich, dankt dem Bonden und der Hausfrau für die Bewirtung und schreitet aus dem Hause, von dem Wirte bis auf den Weg geleitet, den er ziehen will. Fahr wohl! Fahr heil und wohl! Fahr heil und glücklich! Es geh dir alles nach deinen Wünschen! Genieß aller Ehre! so schallte es dem Scheidenden nach; und er wünschte, daß seine Gastfreunde glücklich lebten und lange ihr wirtlich Haus bewahrten. Mit dieser Begleitung (ûtleidsla, leida) beehrten sogar die norwegischen Könige manchen Isländer, der ihnen als Gefolgsmann lieb geworden, wenn er sich nach seiner Heimat einschiffte. (…)

 

›Nordische Gastlichkeit‹

zeigt sich heutzutage in der bedenklichen Form von

Refugees welcome!

 

 

Bildquelle: wikimedia

Beitragsbild: Gemälde von Franz von Defregger, 1897