Hans Friedrich Blunck

 

Einmal, an einem warmen Sommerabend, trafen sich Häher und Täuber friedlich im Wald; die letzte Sonne fiel in das prachtvolle Gefieder des Hähers, so daß es über und über schillerte und glänzte.

Der ärmere Nachbar sah es, er hatte gerade viel Schlimmes mit seiner Frau erlitten und neidete dem anderen seinen bunten Rock über alle Maßen. Es ist bei den Tieren nicht anders als bei den Menschen auch: Wer am besten gekleidet ist, wird von den Mädchen zuerst angesehen.

„Was hast du denn, Duffer (1)?” fragte der Häher.

Ach, sagte der Täuber, dies und das sei ihm mißraten, aber am meisten gehe ihm das Unglück mit seiner Frau zu Herzen, und ihm fehle vielleicht nichts als ein schöner neuer Rock, um ihre Gunst wiederzugewinnen. Ob der Nachbar mit ihm nicht für eine Weile tauschen wolle?

Nun hatte der Häher gerade einen schlechten Jagdtag hinter sich. Er hat ja ein so herrlich buntes Gewand, daß viele Vögel ihn von weitem kommen sehen und vor ihm warnen. Vielleicht, dachte er, würde mir der schlichte blaue Rock des Täubers besser nützen und ich könnte nach Herzenslust plündern, wo ich will? Der Häher war also einverstanden mit dem Vorschlag, die Herren wechselten die Kleider und flogen weiter, jeder seines Weges.


Nach einer Weile aber reute den Täuber der Tausch. Alle Freunde eilten vor ihm von dannen, die kleinen Vögel erschraken, wo er kam, und die Tauben waren auch besser, als er gedacht hatte; mit solch buntem Burschen wollten sie nichts zu tun haben.

Als er jedoch dem Häher sagte, jetzt möchte er sein Eigen wiederhaben, da lachte der den dummen Nachbarn aus. Was der Herr eigentlich von ihm wolle? Röcke tauschen? Warum denn und wieso denn?

Dem Täuber blieb nichts anderes übrig, er ging zum Kuckuck, der damals nicht nur Wahrsager, sondern auch Schied- mann zwischen den Vögeln war, und erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Und der Kuckuck schickte zwei Gerichtsknechte aus und ließ den Häher rufen.

Als nun der Geladene kam und der arme Täuber seine Klage wiederholte, tat der Häher wie außer sich vor Erstaunen. Und er schrie, was der Herr da vorbringe, sei, er müsse es sagen, von Anfang bis zum Ende gelogen, und er sei überhaupt der richtige Täuber und der Ankläger vielleicht ein böser Räuber, der nur danach trachtet, wegen seiner Untaten ein anderes Gefieder zu erlangen.

Nun, der Täuber im Häherrock läßt es an Antwort nicht fehlen, es gibt ein mörderisches Gezänk, aber selbst der Kuckuck wird irre, wer von den beiden denn echt ist. Er seufzt also, er wolle eindringlich nachdenken, und sie sollten am nächsten Abend wiederkommen.

Und dann setzt er sich hin und liest in alten Blättern und findet nichts und grübelt, aber er kann durchaus nicht herauskriegen, wer der rechte Täuber und wer der rechte Häher sein mag.

Am anderen Nachmittag, als er schon verzagen will, kehrt seine Ziehschwester, die kleine Grasmücke, bei ihm zu Gast ein. Sie ist mit ihm aufgewachsen, – der Kuckuck hatte die anderen Geschwister damals aus dem Nest geworfen, mit dieser hatte er sich abgefunden, und die beiden sind immer noch gut Freund miteinander.

Als die Grasmücke den Kuckuck nun so tief in Gedanken und mit hängenden Flügeln antrifft: „Was hast du, Bruder?“ fragt sie ihn.

„Ach“, sagt der, „ich kenne mich zwischen den Nachbarn nicht mehr aus!“ Und er erzählt ihr die Geschichte vom Täuber und vom Häher und weiß immer noch nicht, wie er urteilen soll, und ist recht verzweifelt.

Die Grasmücke vermag auch nicht zu helfen, sie schlüpft bescheiden unter seinen einen Flügel, sie will den großen Bruder bei seiner Weisheit nicht stören. „Vielleicht fällt mir etwas ein“, sagt sie und zirrt ganz leise.

Aber zum Nachdenken kommt der kleine Vogel nicht mehr. Ihm ist unter dem Flügel so schön warm und sicher, er tut eben ein wenig die Augen zu. Er merkt gar nicht, daß sich viele Neugierige entstellen, die alle hören wollen, wie der Kuckuck Gericht hält; er ahnt nicht, wie schwer es der Bruder hat, vor all den Leuten sein würdiges Gesicht zu behalten.

Je mehr der arme Schiedsmann nämlich grübelt, um so weniger weiß er sich Rat. Kein Zeuge kann ihm die Wahrheit sagen, und die Stunde, wo er sein Urteil sprechen soll, rückt näher und näher.

Da geschieht es, daß auf einmal die kleine Grasmücke unter seinem Flügel aufwacht; ihr fällt ein, daß sie dem Bruder beim Nachdenken hatte helfen wollen, sie steckt eilig den Kopf aus den Federn und unter dem Fittich hervor.

Im gleichen Augenblick schwebt einer im Kleid ihres schlimmen Feindes auf den Kuckuck zu. Und danach kommt ein Täuberich, aber der hat eine Stimme, daß der armen Grasmücke das Herz friert.

Und sie kriegt solche Angst vor den beiden Gästen, sie bleibt nicht unter dem sicheren Flügel des Bruders, sie schießt jäh zwischen den drei Herren steil in das nächste Dickicht. Und es geschieht, daß der Häher im Täuberrock im Augenblick, wo sie auffliegt, die Schwingen schlägt und die Fänge wie zu einem Raubgriff hebt.

Dann fällt ihm ein, daß er vor Gericht steht, und er nimmt seinen Platz ein.

Der Täuber im Häherrock aber hat sich über das Vöglein, das gerade vor ihm hochstieg, so sehr erschrocken, er putzt sich die Augen, das Herz klopft ihm vor Furcht.

Der Kuckuck hat beides wahrgenommen. Er ist froh, daß ihm seine kleine Schwester zum Spruch verholfen hat, setzt sich die Gerichtsbrille auf und tut wie ein ungeheuer kluger Richter, der alles längst geahnt hat. Und er hebt vor den Zuhörern ein Bündel alter Blätter hoch, schlägt sie hin und her und gibt sich, als wenn er erst jetzt das Urteil fände.

„Hier steht“, sagt er mit gewaltiger Stimme, „hier steht unterm heutigen Tag, daß zwei Männer zu mir kommen werden, die falsche Kleider tragen.“

Und während alle Leute noch überrascht 
horchen und der Häher gerade zu schelten beginnt, ruft er die Gerichtsknechte: „Haltet die beiden fest, rät mein Blatt, denn der Täuber ist der rechte Häher und der Häher der Täuber.“

„Und laßt sie nicht los“, fügt er hinzu, „bis sie jedem der Gerichtsknechte einen Schilling und mir das Doppelte bezahlt haben. Und dann geht und verkündigt im ganzen Wald die Klugheit des Kuckucks…“

Da muß der Häher das blaue Kleid dem Täuber wieder zurückgeben; er tut es nicht gern, aber er hat doch zuviel Scheu vor der Weisheit des Richters. Dann nimmt er seine Jacke auf und fliegt schimpfend davon. Und der Täuber ruckuht vor Freude.

Es wurde noch lange über den klugen Spruch im Walde geredet, man wußte ja nicht, daß beim Kuckuck gerade seine kleine Schwester zu Gaste gewesen war und ihm das Urteil eingegeben hatte.

(1) duff = matt, glanzlos (norddt.)

 

Aus dem ewigen Brunnen nordischer Volksphantasie und Volksweisheit stehen diese Märchen von Hans Friedrich Blunck ebenbürtig neben den Werken der Brüder Grimm und Andersens.u Ursprüngliche Erfindungskraft und anmutige Fabulierkunft gestalten hier seltsame Begebenheiten und lebensvolle Geschöpfe, wundersame Menschenkinder, Naturgeister und Kobolde.

Uraltes deutsches Volksgut lebt in diesen Märchen, zugleich aber entdeckt Hans Friedrich Blunck eine neue Märchenwelt, die uns auch heute im Zeitalter der Technik und des Verkehrs umgibt.

Diesen alten und neuen Gestalten geben die farbigen Bilder Ruth Koser-Michaels das rechte äußere Gewand und innigen lebendigen Ausdruck. Bluncks Märchen haben alt und jung viel zu sagen, weil sie zeitlos in die Zeit tragen, zugleich aber auch den Geist unserer Zeit ins Zeitlose verklären.

Das „Märchen“-Buch von H. Blunck mit 70 Märchen mit überwiegend norddeutschen Motiven und hanseatischen Themen, illustriert mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls, Original von 1941, ist 2005 im Verlag Dietrich Bohlinger neu aufgelegt.

 

ᛉ 3. September 1888 in Altona bei Hamburg; ᛣ 25. April 1961 ebenda

 

Hans Friedrich Bluncks dichterisches Schaffen spiegelt seine norddeutsche Herkunft und seine Verbundenheit zu den volkhaften und volkstümlichen Überlieferungen der Nord- und Ostseeküstenbewohner wider.

Die Themen seiner Werke beziehen sich hauptsächlich – als historische Romane verfaßt – auf die germanisch-nordische Vorzeit und dienen vielfach der Darstellung 
nordischer Mythen, Märchen und Sagen.

Blunck gilt als Vertreter der sogenannten „nordischen Renaissance“ und der niederdeutschen Volkstumsbewegung.

Blunck war Mitglied des 1936 gegründeten Eutiner Dichterkreises, einer Autorengruppe in Deutschland.

1937 trat Blunk der NSDAP bei. 1941 stand er als Reserveoffizier im Kriegseinsatz. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde er in die Liste der unverzichtbaren Schriftsteller aufgenommen.

Zwischen 1933 und 1944 hatte Blunck 97 Bücher publiziert.

Nach Kriegsende wurden mehrere Werke Bluncks in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.

Nach 1945 verfaßte er vorrangig Sagen und Märchen.

1952 veröffentlichte er eine Autobiografie „Unwegsame Zeiten“.

Seit 1962 pflegt die „Gesellschaft zur Förderung des Werkes von Hans Friedrich Blunck e. V.“ sein Vermächtnis in seinem Sinne und wirkt laufenden Anfeindungen entgegen.