Hans Friedrich Blunck

 ›Sterne und Gelichter‹

Zu der Zeit, als die Menschen und Überirdischen noch Glauben und Freude aneinander hatten, wandelte auch die mütterliche Wittefru öfter als heute sichtbarlich auf Erden und sorgte und half, wenn man sie recht von Herzen bat. Es ist das jetzt lange, lange her. Die Leute waren noch demutsvoller – ach, sie brauchten ja nur das Antlitz der gütigen Frau anzuschauen und mühten sich um ein einziges Lächeln, jahrein, jahraus.

Nun war in jenen ältesten Jahren, als die Menschen erst dumpf lachen und weinen konnten, ein König hier im Land, der war der stärkste Mann, den die Erde bisher geboren hatte. Er war aber jung und wagemutig, sorgte sich von morgens bis abends um sein Volk und bedachte, wie er ihm helfen und dabei auch die Überirdischen zu Freunden halten könnte. Mit zweien von ihnen war er befreundet; oft suchte er den klugen Fro in den Sommerfeldern auf, zuweilen auch den Wohljäger, und holte sich Rat von ihnen. Aber niemals hat er die gütige Frau Gode selbst gesehen, die doch manchen Alten und Hirten erschienen war.

Einmal aber, als der König auf der Jagd einer trächtigen Hirschkuh folgte und sich weit von den Seinen verirrt hatte, geriet er in ein Bruchland, das kein Ende nahm. Von Busch zu Busch brach er sich Bahn, sah auch zuweilen das Wild auf seinem Wechsel vor sich und hoffte, es zu treffen, ehe er es im Dämmern verlöre. In weiten Sprüngen schwang er sich mit dem Speerschaft über die quillenden Wasser, hielt sich an Erlen und Birken und kam dem furchtsamen Tier näher und näher. Endlich sah er, wie die Hirschkuh vor ihm in einen Busch flüchtete; er stieß einen wilden Jagdschrei aus und wog den riesigen Speer schon in der Faust. Da hörte er das Tier laut wie einen Menschen rufen:

Fru Gode, komm, Fru Gode,

Help mien Kind in sien Blode!

Im gleichen Augenblick lag eine Hand auf des Königs Arm, und er hörte eine Stimme hinter sich: „Alles Mütterliche gehört mir!” sagte die. Der Mann erschrak sehr und wandte sich um, aber er sah nur noch ein Lächeln, wie er es nie erschaut hatte, dann wehte ein Wind darüber hin.

Gemälde von Friedrich Gauermann

Der König hat es sich wohl zu Herzen genommen. Er hat für das Tier und sein Kälbchen gesorgt und hat niemals wieder eine tragende Hirschkuh verfolgt. Ja, mehr als das. Jenes Lächeln, das er gesehen, ging dem Mann nicht wieder aus dem Sinn; Tag und Nacht war es um ihn, und seine Sehnsucht, die mütterliche Frau wiederzusehen, wurde groß. Am Ende verließ er Volk, Freunde und Brüder, ging ins Moor und baute nah an einem Quell eine Hütte, um über die Fremde nachzudenken und zu warten, daß sie noch einmal vorüberkäme.

Lange, ich weiß nicht wie lange, wohnte der König dort; aber das Lächeln, das er suchte, blieb aus. Als er indes in seiner Einsamkeit wartete, fand er an manchen Bäumen und Blumen Gefallen; ja, deren Gesichter dünkten ihn oft jenem Lächeln der weißen Frau näher als das Antlitz der Menschen. Endlich gewann er einige von ihnen so lieb, er mußte sie mit ihrer Erde ausheben und setzte sie vor seiner Hütte nieder. Vielleicht hoffte er, sie bei einer Zwiesprache zu belauschen, vielleicht wollte er sie auch nur nahe haben, um das Lächeln der himmlischen Frau in ihren Blüten zu sehen.

Einen weiten Garten davon hat der König schließlich um seine Hütte gepflanzt, wilde Äpfel, rote Nelken, weiße Maßlieben und sogar kleinen blauen Ehrenpreis, der weißen Frau zum Ruhm. Und er rief sie oft, um ihr seinen Garten zu weisen. Aber nur einmal, als er wohl einen Tag lang in alle Blumen geschaut hatte und erstaunt war, warum er früher niemals ihre Wunder betrachtet hatte, ging eine fremde Magd leisen Schrittes jenseits des Gartens entlang. Der Mann hob rasch den Kopf und sah noch ihr Antlitz, das nach ihm ausblickte. Als er sie jedoch anrief und zu ihr eilen wollte, war sie wie im Nebel fort, keine Spur war im Kraut zu finden.

Da verzagte der König schier vor Verlangen und Liebe zu der zweimal Geschauten. Und als sich wieder lange Zeit hindurch kein Zeichen noch Wunder wies, kehrte er zu den Menschen heim und ließ alle Frauen kommen, ob nicht eine jener Fremden ähnlich sei. Es war aber kein Antlitz darunter, das, hätte es noch so fröhlich zu lachen vermocht, der weißen Frau nahe gekommen wäre.

Darüber war es Herbst geworden; die Männer gingen auf Jagd und baten den König, mit ihnen auszuziehen. Einige von ihnen, die wissen wollten, warum er sie so lange verlassen hatte, lockten ihn zu der verlassenen Hütte und jenem Moor, wo die Wittefru die fliehende Hirschkuh geschirmt hatte. Aber sie verloren einander schon vorher zwischen Bruchland und Weide.

Es war lange hell an jenem Abend; der Wind rief in den Büschen und rauschte. Viele Tiere flohen auf, als der Mensch nahe kam, sie liefen indes nicht weit, sie fürchteten sich nicht. Frieden lag rundum, als wüßte jeder sich gegen den andern in gutem Schutz.

Als der König sich nun darüber wunderte und müde vom langen Weg Rast machte, kam das alte Verlangen noch einmal über ihn. Er erinnerte sich seiner Hütte, er dachte der Bäume, Blumen und des Quells, wurde durstig und ging zu jenem Wasser, um davon zu trinken. Da erblickte er, als er sich tiefer bückte, traumgleich ein anderes Gesicht neben dem seinen – das Herz wollte stehenbleiben, er erkannte die Wittefru, die er suchte, leibhaft im Spiegel.

„Schau nicht auf!sagte sie, und er gehorchte. Ach, kaum wagte er sich zu rühren, so herrlich dünkte sie ihn.

„Ich freute mich an deinen Blumen, das wollte ich dir heute sagen.”

Das lächelte der Mann. „Wie schön bist du, Wittefru”, betete er.

„Ich freute mich an deiner Liebe, König!”

„Bleibst du bei mir?” flehte er wie ein Knabe und reckte die Hand nach dem Antlitz im Wasser.

Aber Frau Gode schüttelte das Haupt, es rollte in der Ferne von einem aufziehenden Gewitter.

„Was gebietest du mir?” fragte der Mann.

„Hüte immer alles Mütterliche, um meinetwillen.”

„Ich will es wohl hüten, aber verlaß mich nicht wieder“, stöhnte der Mensch. „Ich hab‘ dich lieb!“

Da war es, als käme ein Mitleid über das Angesicht des Himmlischen. Sie bückte sich und knüpfte von ihren Schuhen zwei herrliche, glänzende Steine. Und sie warf einen von ihnen hoch, da blieb er als Abendstern stehen. Und sie ließ den andern weithin gegen Morgen rollen.

„Weil du die Mütterlichen schonst”, sagte sie freundlich, „sollst du an mich denken morgens und abends, in der blauen Frühe und in der grauen Dämmerung.”

Ein neuer Stern stand funkelnd am Himmel, der Kniende mußte andächtig in seinen Glanz aufschauen; er sah auch dem andern nach, der gen Osten wanderte.

Dann kamen Männer und wollten den König heimholen. Sie blieben aber verwundert stehen, als sie etwas vom Frohsinn des Überirdischen in seinem Antlitz sahen, und bückten sich scheu, als sie das neue Licht am Himmel sahen.

Sie wußten sich nicht zu erklären, was geschehen war. Wir aber wollen dankbar sein, daß Morgenstern und Abendstern uns früh und spät geleiten und an die Liebe zu allem Mütterlichen und an die Gebote und an die Schönheit der himmlischen Frau mahnen.

 

Abendstern, Gemälde von Edward Burne-Jones