Nicolas Bonnal
Ein visionäres Genie erscheint in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution und des seltsamen napoleonischen Epos; es gibt all die Dichter, all die Philosophen und all diese Visionen von den Griechen und dem westlichen Niedergang: Denken Sie an Hölderlin, Hegel, Novalis, Humboldt und ein Dutzend andere. Eine wahrhaft wunderbare Generation: Nach dieser Zeit werden Nietzsche und Heidegger sehr einsam sein, wenn nicht als Philosophen, so doch als Deutsche
Die deutsche Größe bestand darin, daß sie vor den aristokratischen Erben Frankreichs (Tocqueville, Chateaubriand, sogar Musset) den Untergang unserer Zivilisation, die zu technisch und verwaltet geworden war, wahrgenommen hatte: Sie hätte zum Naturzustand zurückkehren oder wieder vom Baum der Erkenntnis essen müssen, wie Kleist in seinem erhabenen Text über das Marionettentheater sagt, der unseren Transhumanismus ankündigt. Und der sibyllinische Hölderlin trauert um ihn „die Götter, die vielleicht in eine andere Welt gegangen sind“.
Vor kurzem habe ich die Texte erwähnt, in denen Goethe, vor allem in seinen Gesprächen mit Eckermann, auf den Rückgang der Lebenskraft bei unseren modern gewordenen westlichen Menschen hinweist. Ich erinnere an zwei kurze Auszüge, um das Gedächtnis meiner aufmerksamsten Leser aufzufrischen.
Der erste über administrative und wirtschaftliche Ebenen:
…wenn man glaubt, daß die Einheit Deutschlands darin besteht, daß man es zu einem einzigen riesigen Reich mit einer einzigen großen Hauptstadt macht, wenn man glaubt, daß die Existenz dieser großen Hauptstadt zum Wohlbefinden der Masse des Volkes und zur Entwicklung großer Talente beiträgt, dann ist man im Irrtum.
Der zweite über den Niedergang der vitalen Poesie :
Und dann das Leben selbst, während dieser elenden letzten Jahrhunderte, was ist daraus geworden? Welche Schwächung, welche Entkräftung, wo sehen wir eine ursprüngliche, unverkleidete Natur? Wo ist der Mensch, der energisch genug ist, um wahrhaftig zu sein und sich selbst als das zu zeigen, was er ist? Das wirkt auf die Dichter zurück; sie müssen heute alles in sich selbst finden, da sie nichts mehr um sich herum finden können.
Aber eine Generation zuvor spricht der junge Schiller (er ist fünfunddreißig Jahre alt) über die schwierigen Widersprüche und die Sackgasse der eingetretenen Moderne. Und das führt in seinem sechsten und zehnten Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen zu mehreren soliden Reflexionen, die in einem funkelnden Deutsch verfaßt sind, das nicht so viel verliert, wenn es übersetzt wird.
Wir sagen es zuerst in Schillers romanisiertem Deutsch (auszusprechen wie Horst Frank in den Tontons flingueurs…)
…die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft gründet.
…die Schönheit gründet ihre Herrschaft nur auf dem Verschwinden heroischer Tugenden.
Für Schiller kostet die „Zivilisation“ viel Geld. Zivilisation ist wie eine Wunde. Und das geht so:
Es war die Zivilisation selbst, die der modernen Menschheit diese Wunde zufügte. Sobald einerseits eine strengere Trennung der Wissenschaften, andererseits eine strengere Einteilung der gesellschaftlichen Klassen und Aufgaben notwendig wurde, die erstere durch die vermehrte Erfahrung und das genauer gewordene Denken, die letztere durch den komplizierteren Mechanismus der Staaten, trennte sich auch das innere Bündel der menschlichen Natur, und ein verhängnisvoller Kampf spaltete die Harmonie ihrer Kräfte. Der intuitive und der spekulative Verstand schlossen sich feindselig in ihre jeweiligen Bereiche ein, deren Grenzen sie mit Mißtrauen und Eifersucht zu bewachen begannen; indem man seine Tätigkeit auf eine bestimmte Sphäre beschränkte, gab man sich einen inneren Meister, der oft genug damit endete, die anderen Virtualitäten zu ersticken.
Nietzsche wird sich im ›Zarathustra‹ über den Gehirnspezialisten des Blutegels lustig machen. Doch bleiben wir bei Schiller. Das Abstraktionsvermögen der Moderne wird sie zerstören:
Während an einem Punkt die üppige Phantasie die vom Verstand mühsam kultivierten Pflanzungen verwüstet, frißt an einem anderen Punkt das Abstraktionsvermögen das Feuer, an dem sich das Herz hätte erwärmen und die Phantasie hätte entzünden sollen.
Wir werden bis zur Obszönität euphorisiert, von der Illusion und dem technologischen Trugbild. Aber Schiller bleibt hartnäckig: Alles wird/wird zum Mechanismus.
Diese Umwälzung, die die Künstlichkeit der Zivilisation und die Wissenschaft im inneren Menschen zu bewirken begannen, wurde durch den neuen Geist der Regierungen vollständig und universell. Es war zwar nicht zu erwarten, daß die einfache Organisation der ersten Republiken die Einfachheit der Sitten und der primitiven Bedingungen überdauern würde; aber anstatt sich zu einem höheren organischen Leben zu erheben, wurde sie zu einem vulgären und groben Mechanismus degradiert.
Vergleich mit den Griechen:
Die griechischen Staaten, in denen, wie in einem Organismus von der Art der Polypen, jedes Individuum ein unabhängiges Leben genoß, aber dennoch in der Lage war, sich im Bedarfsfall zur Idee des Kollektivs zu erheben, machten einer genialen Anordnung von Uhrwerken Platz, in denen ein mechanisches Leben durch eine Ansammlung unzähliger, aber träger Teile geschaffen wird. Damals kam es zu einem Bruch zwischen Staat und Kirche, zwischen Gesetzen und Sitten; es kam zu einer Trennung zwischen Genuss und Arbeit, zwischen Mittel und Zweck, zwischen Anstrengung und Belohnung.
Vision des modernen Menschen, Herrschaft der Quantität nahe an Guénon, wenn der Philosoph durch den Philosophielehrer nach deutschem (von Kant bis Husserl) oder französischem (nach Nürnberg) Vorbild ersetzt wird:
Der Mensch, der durch seine berufliche Tätigkeit nur noch mit einem kleinen, isolierten Bruchstück des Ganzen verbunden ist, gibt sich nur eine bruchstückhafte Bildung; da er ewig nur das monotone Geräusch des Rades, das er dreht, im Ohr hat, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt seiner Natur das Zeichen der Menschheit aufzudrücken, ist er nur noch ein Spiegelbild seines Berufs, seiner Wissenschaft.
Bedauerliche Konsequenz:
Aber selbst die dünne, fragmentarische Teilhabe, durch die die isolierten Glieder des Staates noch mit dem Ganzen verbunden sind, hängt nicht von Formen ab, die sie sich in völliger Unabhängigkeit geben (denn wie könnte man ihrer Freiheit einen so künstlichen und empfindlichen Mechanismus anvertrauen?); sie wird ihnen mit penibler Strenge durch ein Reglement vorgeschrieben, das ihre Fähigkeit zur freien Urteilsbildung lähmt. Der tote Buchstabe ersetzt die lebendige Intelligenz, und ein geübtes Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Gefühl.
Dieser letzte Satz wird auf Deutsch wiederholt:
Der tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Empfindung.
Im zehnten Brief spricht Schiller über den Niedergang der Zivilisation, der mit dem Ästhetizismus verbunden ist. Auch hier wird an Nietzsche und vor allem an den so unverstandenen (und germanischen) Rousseau gedacht :
…in fast allen Epochen der Geschichte, in denen die Künste blühen und der Geschmack seine Herrschaft ausübt, zeigt sich die Menschheit gesunken; umgekehrt kann man nicht das Beispiel eines einzigen Volkes anführen, bei dem ein hoher Grad und eine große Universalität der Kultur mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend einhergeht, bei dem sich schöne Sitten mit guten Sitten und die Verfeinerung des Verhaltens mit der Wahrheit desselben verbinden.
Kultur als Massenvernichtungswaffe? Schiller – der auch Historiker ist, siehe seinen großartigen ›Dreißigjährigen Krieg‹, der erste Weltkrieg im modernen Europa – multipliziert die italienischen, römischen, griechischen und auch arabischen Beispiele:
In den Zeiten, in denen Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit bewahrten und die Achtung der Gesetze die Grundlage ihrer Verfassung war, fehlte es dem Geschmack noch an Reife, die Kunst steckte noch in den Kinderschuhen und die Schönheit war weit davon entfernt, die Seelen zu beherrschen. Zweifellos hatte die Poesie bereits einen großartigen Aufschwung genommen, aber nur auf den Flügeln des Genies, von dem wir wissen, daß es der Wildheit ganz nahe und ein Licht ist, das gerne in der Finsternis leuchtet; es zeugt also eher gegen den Geschmack seiner Zeit als für ihn. Als zur Zeit von Perikles und Alexander das goldene Zeitalter der Künste kam und der Geschmack seine Herrschaft ausdehnte, fand man nicht mehr die Kraft und Freiheit Griechenlands: die Beredsamkeit verfälschte die Wahrheit; man wurde beleidigt durch die Weisheit im Munde eines Sokrates und durch die Tugend im Leben eines Phokion.
Nach dem griechischen Vorbild geht Schiller auf die anderen Beispiele ein:
Wir wissen, daß die Römer ihre Kraft in den Bürgerkriegen erschöpft hatten und, durch den Reichtum des Ostens gereizt, unter das Joch eines glücklichen Herrschers gebeugt waren, damit wir die griechische Kunst über die Starrheit ihres Charakters triumphieren sahen. Ebenso brach der Morgen der Kultur für die Araber erst an, als die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Zepter der Abbasiden aufgeweicht wurde. Im modernen Italien entstanden die Schönen Künste erst, als sich der mächtige Bund der Langobarden auflöste, Florenz sich den Medici unterwarf und der Geist der Unabhängigkeit in all diesen Städten voller Tapferkeit einer ruhmlosen Vernachlässigung wich. Es ist fast überflüssig, noch einmal an das Beispiel der modernen Nationen zu erinnern, bei denen die Verfeinerung in dem Maße größer wurde, in dem ihre Unabhängigkeit endete. Auf welchen Teil der vergangenen Welt wir unsere Blicke auch richten, wir stellen immer fest, daß Geschmack und Freiheit einander fliehen und daß die Schönheit ihre Herrschaft nur auf das Verschwinden heroischer Tugenden gründet.
Seine traurige Schlußfolgerung:
Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, deren Verzicht der übliche Preis der ästhetischen Kultur ist, die wirksamste Triebfeder aller menschlichen Größe und Vortrefflichkeit, und ihr Fehlen kann durch keinen anderen noch so großen Vorteil ersetzt werden.
Da der Befund zwei Jahrhunderte später noch schlimmer ist, soll Schillers optimistische Lösung hier vernachlässigt werden…
Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, sechster und zehnter Brief
Kleist, Notizen über das Marionettentheater
Goethe, Gespräche mit Eckermann
Nietzsche, Die zweite unzeitgemäße Betrachtung; Also sprach Zarathustra
Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2022/07/17/frederic-schiller-et-le-declin-qualitatif-de-la-civilisation-en-occident.html