Erwan Castel
Keine Konfliktart ist abgeschottet, vor allem nicht im Spiel der Allianzen, die die internationale Geopolitik und Wirtschaft verflechten, und ich habe im vorherigen Artikel an die Kinetik des Krieges erinnert, die sich ziemlich logisch von einem lokalen Konflikt zu einem regionalen und dann zu einem globalen Konflikt entwickeln können, mit einer Reihe von militärischen roten Linien, hinter die zurückzugehen fast unmöglich ist, bevor ein verhandelbarer militärischer Sieg errungen wurde.
Und genau das ist es, was derzeit im Donbass zu beobachten ist.
1. Gefahr einer globalen Ausweitung des Konflikts
Zunächst einmal erfolgt die geopolitische Entwicklung eines Konflikts von einer territorialen Dimension zu einer anderen nicht abrupt, sondern wird von Indizien, Ereignissen und progressiven Verpflichtungen, die sie organisieren, vorweggenommen und angekündigt.
Im Falle des seit acht Jahren andauernden lokalen Konflikts im Donbass beispielsweise mußte die zunehmend aggressive russophobe Doxa Kiews, die ständigen Verletzungen der Friedensabkommen (Minsk 2) durch die ukrainischen Streitkräfte, die überhöhte Konzentration ihrer Angriffseinheiten an der Frontlinie, all dies passiv oder aktiv von der NATO gefördert, letztendlich zu einem regionalen russisch-ukrainischen Konflikt führen.
Ebenso trägt dieser russisch-ukrainische Konflikt, obwohl er erst vor zwei Monaten aus seiner lokalen Puppe geschlüpft ist, bereits die Keime eines potenziellen globalen Wandels in sich, und zwar stets kultiviert von einem westlichen Bellizismus, bei dem man sich fragen kann, ob die NATO nicht tatsächlich „hirntot“ ist, aber um letztlich nur noch besser vom US-Imperialismus unterjocht und instrumentalisiert zu werden.
Während die NATO und ihre Verbündeten Öl ins Feuer gießen, indem sie in der Ukraine immer mehr und immer bessere Militärhilfe leisten, bis sie den Konflikt verschärfen und über ihre ukrainischen Hilfstruppen sogar das Territorium Rußlands bedrohen, kann man beobachten, daß die Schockwelle des ukrainischen Erdbebens hier und da asymmetrische und periphere Konflikte dieser wiedererweckten Ost-West-Tektonik zu beleben beginnt: Neue Zusammenstöße in Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, Spannungen in Georgien, Gebiete, in denen sich pro-russische abtrünnige Republiken befinden, deren Kriege gerade erst eingeschlafen sind.
Noch schlimmer als ihre logistischen Militärhilfen für die Ukraine dürfte die allmählich offensive Einbindung der strategischen Geheimdienstressourcen der NATO sein, die das Feuer entfachen könnte. Seit 2014 beobachten die USA den Donbass und die russischen Grenzregionen mit einem zunehmenden Einsatz von strategischen Drohnen und elektronischen Suchflugzeugen (täglich mehrere Einheiten). Die gesammelten Informationen wurden schnell an die ukrainischen Streitkräfte weitergeleitet, doch seit der Ausweitung des Konflikts unterstützen die NATO-Geheimdienstmissionen die Offensivmaßnahmen der ukrainischen Streitkräfte in Echtzeit, wie z. B. bei dem erfolgreichen Angriff auf den Kreuzer ›Moskwa‹ am 13. April vor der Küste von Odessa.
Auf militärischer Ebene, wenn auch nicht bewaffnet, hat das direkte Engagement der NATO im russisch-ukrainischen Konflikt mit Satelliten, Drohnen, Flugzeugen und wahrscheinlich auch landgestützten Humanforschungs-Einheiten bereits begonnen.
Jetzt braucht der Westen einen Auslöser, um den Konflikt zu internationalisieren, und zwar immer noch, offiziell, ohne die Schuld dafür zu tragen:
2. Alarm in Transnistrien!
In den letzten Tagen wurde die moldauische Republik Pridnestrovie (PMR), im Westen besser bekannt als Transnistrien, von einer Reihe von Terroranschlägen heimgesucht. Diese pro-russische separatistische Republik, die nach dem Ende der UdSSR vor 30 Jahren entstand, ist eine lange, schmale Region zwischen Moldawien und der Ukraine, in der eine russische Kampftruppe von etwa 1500 Mann stationiert ist.
- Am 25. April wurde das Gebäude des Ministeriums für Nationale Sicherheit in der Hauptstadt Tiraspol mit Panzerabwehrraketen beschossen. Ein weiterer Angriff wurde auf die Kaserne einer Militäreinheit im Dorf Parkany verübt.
- Am 26. April erschütterten zwei weitere Explosionen einen Rundfunksender im Dorf Mayak am 26. April und zerstörten die beiden größten Antennen der Republik, die russische Radiosender übertrugen.
- In der Nacht vom 26. auf den 27. April wurden mehrere aus der Ukraine kommende Drohnen am Himmel über Transnistrien über dem Dorf Kolbasna in der Region Rybnitsa gesichtet.
Ersten Berichten zufolge gab es keine Opfer, doch vor dem Hintergrund des aktuellen russisch-ukrainischen Konflikts hatten diese Angriffe sofort verschärfte regionale Auswirkungen: Transnistrien wurde in die rote Antiterrorwarnstufe versetzt, während Moldawien zwar zur Ruhe aufrief, aber erklärte, daß es eine militärische Option nicht ausschließe, um den alten Konflikt mit Transnistrien zu lösen, obwohl die Kämpfe bereits 1992 eingestellt worden waren.
Am 27. April erklärte Witali Ignatjew, der Außenminister der RMP (Transnistrien), daß die Attentäter von Überwachungskameras entdeckt und später bei der Flucht in die Ukraine beobachtet worden seien.
Einige Stunden später bestätigten weitere Anschläge seine Behauptung:
- Am 27. April um 08:45 Uhr wurde eine ukrainische Sabotagegruppe gesichtet, die in Richtung des pridnestrovischen Dorfes Kolbasna infiltrierte. Es kam zu einem Feuergefecht mit den örtlichen Sicherheitskräften.
Es ist anzumerken, daß sich in dem letztgenannten Gebiet, das nur 2 km von der ukrainischen Grenze entfernt ist, ein Munitionslager aus der Sowjetzeit befindet, das nach Schätzungen der moldauischen Nachbarbehörden mindestens 20.000 Tommes aus dem Land, aber auch aus der DDR zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung enthält.
Es scheint also, daß es sich bei den „Vorfällen“ in Transnistrien nicht um zufällige Ereignisse, sondern um geplante Aktionen der ukrainischen Streitkräfte handelt.
3. Wem nützt das Erwecken des moldauischen Vulkans?
Die Vorfälle in Transnistrien sind sehr ernst, da sie ein Resonanzboden für den russisch-ukrainischen Konflikt sind und die pro-russische Republik im Westen der Ukraine trotz ihrer winzigen Größe (4163 km2) von großer strategischer Bedeutung ist:
Erstens ist es eine Pufferzone zwischen der pro-atlantischen Republik Moldau und der Ukraine, die die überwiegende Mehrheit der Landverbindungen zwischen Rumänien (also der NATO) über die Republik Moldau und die Ukraine kontrolliert, darunter auch die strategische Region Odessa, die nur etwa 50 km von ihren Grenzen entfernt ist und Ziel der russischen Militäroperationen ist. Die russischen Streitkräfte begannen diese Woche damit, die wenigen Straßen und Eisenbahnlinien zwischen Moldawien und der Ukraine im Süden Transnistriens zu zerstören und damit den direkten Nachschub nach Odessa zu schließen.
Zweitens ist der geopolitische Kontext vor Ort besonders günstig, um eine zweite Front gegen Rußland zu eröffnen, da weder die Ukraine noch Moldawien offiziell Mitglieder der NATO sind, so daß die NATO einerseits rechtlich nicht in die Ausweitung des Konflikts involviert wäre und andererseits die westliche Propaganda wie beim Donbass-Konflikt ihre Erzählung von der Reaktion auf diese Art terroristischer Provokationen beginnen würde, um „wie üblich“ Moskau die Verantwortung für den Krieg zuzuschieben.
Für welches Szenario?
Die ukro-atlantischen Interessen an der Eröffnung einer zweiten Front durch die Eroberung des transnistrischen Schloßes sind offensichtlich, aber die moldauischen Streitkräfte reichen nicht aus, um dies zu erreichen, selbst mit Hilfe der ukrainischen Streitkräfte, die aufgrund ihrer Priorität für die Nikolajew-Front und die Verteidigung der Küste von Odessa zwangsläufig reduziert werden müssten.
Heute stehen auf der Seite Transnistriens etwa 1500 russische Soldaten und 7500 transnistrische Soldaten (plus eine Reserveeinheit). Auf der moldauischen Seite stehen 5.200 Mann und auf der rumänischen Seite 70.000 Mann. Aber es sind sicherlich die polnischen Streitkräfte, die besser ausgerüstet und ausgebildet und vor allem am stärksten für einen Einsatz gegen die Russen motiviert sind, die bei Militäroperationen gegen Tiraspol an vorderster Front stehen würden.
Man könnte sich also ohne weiteres den Einsatz eines polnisch-rumänisch-moldauischen Kampfkorps vorstellen, das auf Ersuchen der Regierung in Chisinau zur „Befriedung“ einer chaotischen Situation in Transnistrien und in Koordination mit Angriffen im Osten, die beispielsweise von ukrainischen Spezialkräften und Artillerie durchgeführt werden, intervenieren würde.
Diese chaotische Situation, von der wir gerade einen Vorgeschmack mit diesen Anschlägen bekommen haben, die eine Alarmierung Transnistriens (bis hin zur Absage der bevorstehenden Feierlichkeiten zum 9. Mai 1945), eine Einberufung des Sicherheitsrats in Moldawien und eine überstürzte Abreise eines Teils der Bevölkerung nach Rumänien oder in die Ukraine bewirken, wird mit Sicherheit von ukrainischen Sondereinheiten herbeigeführt werden, bis Transnistrien Rußland um Unterstützung bittet und Moldawien die NATO um Hilfe bittet!
Für welche Interessen?
Für Moldawien ist ein neuer Konflikt weder politisch noch militärisch von Interesse, auch wenn das Transnistrien-Problem dort oft als Hindernis für die Integration Chisinaus in die Europäische Union angeprangert wird. Die moldauische Präsidentin kommentierte die aktuellen Spannungen, berief zwar ihren nationalen Sicherheitsrat ein, wiederholte aber, daß „die Transnistrien-Frage nur mit politischen Mitteln gelöst werden kann„. Aber ernsthaft, wie viel Gewicht hat die Stimme von Maia Sandu im belizistischen Konzert der westlichen Nationen? Höchstens kann sie ihre Soldaten in die zweite Reihe stellen und die polnischen und rumänischen Brigaden in Richtung Transnistrien vorrücken lassen.
Die ukro-atlantische Seite hingegen wird Rußland eine zweite Front aufzwingen, die sowohl politisch als auch militärisch ist, und so die militärische Initiative zurückgewinnen und den russischen Generalstab zwingen, mehr Karten auf der Landkarte abzulegen. Sie wird in diesem Sektor ihre auf Geschwindigkeit ausgerichtete Strategie wieder aufnehmen, die sehr teuer an Menschen und Material, aber auch an zivilen Kollateralschäden ist (denn sie müssen Nikolajew einnehmen, koste es, was es wolle). Und wenn die russischen Einheiten in Tiraspol ankommen, müssen sie sich erheblich verstärken, da ihr Landkorridor wahrscheinlich lokalen ukrainischen Gegenangriffen (mindestens Bombardements) aus Odessa im Süden und Voznessensk im Norden ausgesetzt sein wird und möglicherweise mit polnisch-rumänischen Einheiten, die zur Verstärkung gerufen wurden, in Kontakt kommen könnte.
Welche Folgen hätte dies?
Militärisch gesehen würde ein solches Szenario Rußland dazu zwingen, seine Anstrengungen auf diesen Sektor zu konzentrieren, um so schnell wie möglich eine territoriale Verbindung mit Transnistrien herzustellen, und somit seine Truppen, die an der Cherson-Front derzeit nicht mehr als 30.000 Mann umfassen, erheblich zu verstärken. Diese russischen Bemühungen würden entweder auf Kosten der Donbass-Front gehen oder auf die Reservekräfte des Generalstabs zurückgreifen – oder beides.
Geopolitisch würde dies eine radikale Internationalisierung des Konflikts einleiten, ohne jedoch die automatische Verteidigungshilfe der NATO-Länder in Anspruch zu nehmen, da diese Front territorial außerhalb des Bündnisses und unter der alleinigen rechtlichen Verantwortung der daran beteiligten Staaten verlaufen würde.
Und zum Abschluß dieses Absatzes hier der Kommentar vom 27. April von Arestovich, dem Berater des ukrainischen Präsidenten Zelensky, zur Lage in Transnistrien:
Moldawien sollte sich wegen der Verschärfung in Transnistrien an die Ukraine und Rumänien wenden, um Hilfe zu erhalten. Wenn sich Moldau an die Ukraine wendet, dann können wir die Kontrolle über Transnistrien übernehmen. Die ukrainischen Streitkräfte haben genügend Kräfte dafür
Das bestätigt, wem das Verbrechen nützt!
4. Und wie es der Zufall so will…
Erstens sind seit Anfang April große polnische ›InterArm Tactical Groups‹ nach Rumänien verlegt worden, um gemeinsame Trainingsmanöver mit den rumänischen Streitkräften durchzuführen, aber auch Übungen…. auf dem Gebiet der Republik Moldau! Die bereits eingetroffenen polnischen Streitkräfte werden auf 8000 Mann geschätzt.
Zweitens: Am 24. April, dem Tag vor den Anschlägen, besuchten US-Außenminister Anthony Blinken und Pentagon-Chef Lloyd Austin Kiew, um unter anderem zu erörtern, wie man den russischen Streitkräften eine Ausweitung ihrer Kontaktlinie in unvorbereiteten Operationen, die ihre militärischen Kräfte zerstreuen, aufzwingen könnte.
Abschließend
Wie auch immer, wenn ein solches Szenario eintreten sollte, mit oder ohne Konfrontation zwischen Russen und Polnisch-Rumänisch-Moldawiern, würde es durch sein Eindringen in moldawisches Gebiet eine radikale Überschreitung der roten Linie darstellen, die die regionale und die globale Dimension des Konflikts trennt und die bereits durch westliche Militärhilfe mit Füßen getreten wird. Und genau das scheinen die Falken aus Washington zu wollen, die an diesem 24. April 2022 nach Kiew gekommen sind.
Und es ist nicht abwegig anzunehmen, daß in der russischen Einflußzone weitere Feuer entzündet werden könnten, wie zum Beispiel in Zentralasien oder im Kaukasus…