Julius Evola

Wir haben von einer urnordischen Tradition gesprochen. Sie ist kein Mythos, sie ist unsere Wahrheit. Schon in der ältesten Vorgeschichte, dort, wo der positivistische Aberglaube bis gestern den affenhaften Höhlenbewohner vermutete, hat es eine einheitliche und mächtige Urkultur gegeben, von der noch ein Echo nachtönt in allem, was uns die Vergangenheit an Größtem zu bieten hat als ewiges Symbol.

Die Iranier sprechen von airyanem vaéjó, im äußerten Norden gelegen, und sehen darin die 1. Schöpfung des ›Gottes des Lichtes‹, den Ursprung ihres Geschlechtes und ebenso den Sitz des ›Glanzes‹ — hvarenô —, jener mystischen Kraft, die den indoeuropäischen Rassen und vor allem ihren göttlichen Königen eignet; sie erblicken darin — symbolisch — den Ort, wo sich die kriegerische Religion Zarathustras zum ersten Male geoffenbart haben soll.

Römisch-antike Skulptur: Abgrenzung der ›arischen Rasse‹ von Semiten und Schwarzafrikanern mittels Schwert

Die Tradition der indischen Arier kennt dementsprechend die sweta-dvipa, die ›Insel des Glanzes‹, ebenfalls im äußersten Norden gelegen, wo Naraydna seinen Sitz hat, der ›das Licht ist‹ und ›der, welcher über den Wassern steht‹, d. h. über dem Zufall des Geschehens. Sie spricht auch von den uttarakura, einer nordischen Urrasse; unter nordisch versteht sie den solaren Weg der Götter — devayâna — und in der Bezeichnung uttara interferiert der Begriff alles dessen, was erhaben, erhöht, hochgelegen ist — was im übertragenen Sinn aryâ, arisch genannt werden kann — mit dem Begriff des Nordischen.

Erben der achäisch-dorischen Stämme sind wiederum die sagenhaften nordischen Hyperboreer; von dort soll der für dieses Geschlecht bezeichnende Gott oder Held gekommen sein, der solare Apollon, der Vernichter des Python; von dort soll Herakles — der Verbündete der olympischen Götter gegen die Riesen, der Vernichter der Amazonen und der Elementarwesen, der ›schöne Sieger‹, als dessen avatára sich später gleichsam viele griechischen wie römischen Könige betrachteten den Ölbaum gebracht haben, mit dessen Laub man die Sieger bekränzt (Pindar).

Herakles und der Sonnengott Apollon mit seiner Lyra

Aber dieses nordische Thema in Hellas interferiert auch mit jenem von Thule, des geheimnisvollen nördlichen Landes, das manchmal zur ›Insel der Helden‹ und zum ›Land der Unsterblichen‹ wird, wo der blonde Radamantys regiert, zur ›Sonneninsel‹ — Thule ultima a sole nomen habens —, woran die Erinnerung wachblieb so sehr, daß, im Glauben, sie in Britannien wiederzuerkennen, Constanz Clorus mit seinen Legionen dorthin aufbrach, weniger des militärischen Ruhmes halber, sondern gleichsam um seine Cäsaren-Apotheose vorwegzunehmen, um sich dem Orte zu nähern, ›der dem Himmel am nächsten und heiliger ist als jede andere Gegend‹.

Wissen eint! Wille siegt!

In den nordisch-germanischen Traditionen steht oft Asgard, der Sitz der Asen und der verwandelten Helden, für einen anderen, gleichartigen Göttersitz, und die nordischen Könige, die als Halbgötter und Asen angesehen wurden — Semideos id est ans is — und ihren Völkern den Sieg durch ihre mystische Macht des »Glückes« verschafften, verlegtenin jenes ›göttliche‹ Land den Ursprung ihrer Dynastie. Nordisch oder nordisch-westlich ist in den gälischen Traditionen Avallon, dem das gleichfalls göttliche Geschlecht der Thuata dé Danann entstammte, heldische Eroberer des vorgeschichtlichen Irlands, unter denender Held Ogma genau dem dorischen Herakles entspricht — Avallon, das andererseits mit Tir na mbeo verschmilzt, dem ›Land der Lebendigen‹, welches das Reich des Boadog, des ›Siegers‹ ist.

Auch die Azteken haben ihre ursprüngliche Heimat im Norden — im Aztla, das auch die ›weiße Erde‹ oder das ›Land des Lichtes‹ heißt, von dem sie unter Führung eines Krieger- Gottes, Huitzilopochtli, auszogen: ebenso wie die Tolteken als Ursprungssitz Tialocan, Tollan oder Tula für sich in Anspruch nehmen, das wie das griechische Thule auch das ›Sonnenland‹ ist und mit dem ›Paradies‹ der Könige und der auf dem Schlachtfeld gefallenen Helden verschmilzt.

Der Rabe, der heilige Vogel Wodans. (Foto: Fritz Siedel)

Das sind nur einige übereinstimmende Bezüge, wie sie in den verschiedensten Traditionen auffindbar werden als Erinnerung an eine nordische Urkultur und Heimat, worin sich eine transzendente, außermenschliche Geistigkeit aufs engste verband mit einem heldischen, königlichen und triumphalen Element: zur sieghaften Form über das Chaos; zum sieghaften Übermenschentum über alles, was menschlich und tellurisch ist; zur ›Solarität‹ als Hauptsymbol einer transzendenten Männlichkeit, als Ideal einer Würde, die in der Ordnung der geistigen Kräfte dem entspricht, was auf der materiellen Ebene der Herrscher, der Held sind. Und während uns die Spuren der Überlieferung auf einen Weg vom Norden nach dem Süden, vom Abendland nach dem Morgenland verweisen, den die solchen Geist bewahrenden Rassen gegangen sind, zeugen in neuerer Zeit die größten indoeuropäischen Völkergebilde im Typus ihrer reinsten Werte und Kulte, ihrer bezeichnendsten Gottheiten und Einrichtungen gerade von dieser Kraft und dieser Kultur.

Andererseits aber — und schon die obigen Hinweise zeigen es auf — wurde das, was Geschichte war, zur Übergeschichte: Während das ›Land der Lebendigen‹, die ›Burg der Helden‹, die ›Sonneninsel‹ auf der einen Seite das Geheimnis des Ursprungs umschlossen, enthüllten sie auf der anderen das Geheimnis des Weges zur Wiedergeburt, zur Unsterblichkeit und zur übermenschlichen Macht: des Weges, der in hervorragendem Maße zur traditionellen Königswürde zu führen vermag. Die geschichtlichen Faktoren wurden somit zu geistigen Faktoren, die reale Tradition wurde zur Tradition im transzendenten Sinn und darum zu etwas, das über der Zeit stehend von beständiger Gegenwärtigkeit ist. Symbole, Zeichen und Sagen berichten uns so auf unterirdischen Wegen von ein und  derselben Tradition, um uns ein und dieselbe ›Orthodoxie‹ zu bezeugen, wo immer die entsprechenden Höhepunkte erreicht worden sind, wo immer die ›solare‹ Geistigkeit über den inferioren Kräften gethront hat.

Dementsprechend wurde in späterer Zeit, die schon gebunden war an das Schicksal der Verdunkelung des ›Göttlichen‹ — ragna-rökkr —, bei den in ihren Kräften und Führern versprengten Stammen das nordische Rassenelement, vom Geistes-Element sich lösend, zu dem es ursprünglich gehörte, zu einer Kategorie, einem allgemeinen Typus der Kultur und des Verhaltens gegenüber dem Übermenschlichen, der sich auch dort wiederfinden läßt, wo keine ethnische Wechselbeziehung im engeren Sinn erinnerlich ist; ein Typus, der folglich verschiedene Kulturen wieder miteinander zu verbinden vermag, sobald diese eine geistige Gestaltungskraft verraten, wie sie innerhalb jener Urtradition auf die mannigfaltige Materie eingewirkt hat.

Wilde Jagd, Gemälde von Peter Nicolai Arbo, 1872

Derart betrachten wir das heidnische Römertum als die letzte große Schöpfungstat des nordischen Geistes, als den letzten universalen und während eines ganzen Zyklus zum Großteil geglückten Versuch, die Kräfte der Welt in den Formen einer heldischen, solaren Kultur wiedererstehen zu lassen: einer Kultur, die versperrt war für jede mystische  Flucht; die festhielt am aristokratisch-indoeuropäischen Typus der patres, der Herren des Speers und des Opfers; die geheimnisvoll bestätigt wurde durch die nordischen Zeichen des Wolfes, des Adlers und der Axt; die lebendig war vor allem im olympischen Kult eines Zeus und eines Herakles, eines Apoll und eines Mars; im Gefühl, dem Göttlichen ihre Größe und ihre aeternitas zu verdanken; in der Tat als Ritus und im Ritus als Tat; im klaren und doch mächtigen Erlebnis des Übernatürlichen, das im Imperium selbst erkannt wurde und im Symbol des Cäsaren als numen kulminierte.