Dr. Pierre Krebs

Aus: Pierre Krebs, Mut zur Identität, Alternativen zum Prinzip der Gleichheit II, 1988

 

Der Widerstreit Paganismus/Monotheismus wird offenbar, wenn man um die Unversöhnlichkeit von Polytheismus und Dualismus weiß: Mythos oder Logos, das heißt Schicksalsschöpfung oder blindes Fügen in ein unwandelbares Gesetz. Beide Weltanschauungen streiten seit zwei Jahrtausenden im europäischen Geistesleben miteinander. Ein metaphysischer, radikaler Kampf zwischen Paganismus und Christentum, dessen Spannungen und Nachwirkungen an der Ambiguität mancher Autoren abzulesen sind, die zwar als Christen etikettiert werden, den heidnischen Grund ihres Denkens jedoch offenbaren.

In ›Europas eigene Religion‹ deckte Sigrid Hunke den heidnischen Leitgedanken auf, der die gesamte europäische Geschichte durchzieht, von Heraklit bis Pelagius, von Eriugena bis Cusanus, von Giordano Bruno bis Goethe, von Hölderlin bis Rilke. Besonders ausgeprägt ist diese Ambiguität bei Meister Eckhart, dessen „nominalistischer Monismus (,Gott erscheint nur dort, wo die Geschöpfe ihn nennen‘) mit dem idealistischen Dualismus jenes weiteren Christen, des hl. Augustinus, unversöhnlich ist, der den Vorrang des Gottesstaates vor dem Weltstaat postulierte, oder mit dem ebenso dualistischen Rationalismus eines Thomas von Aquin, der in Gott die transzendente, universale Ursache (prima causa) der Welt und des Denkens erkannte“. In dieses rationalistisch-dualistische Denkschema gehören ― bei allen Abweichungen ― ebenfalls Sokrates‘ „atheistische, deistische oder christliche“ Erben, ob es sich um Rousseau oder die Neomarxisten, etwa Adorno und Marcuse handelt, oder auch um den kantischen Moralismus, den hegelschen Historizismus oder den Szientismus des Auguste Comte’.

Giordano Bruno, ᛉ Januar 1548 in Nola als Filippo Bruno; ᛣ 17. Februar 1600 in Rom

Nun scheint der Mythos dem Menschentum innezuwohnen. Yves Christen definiert darum den ›Homo sapiens‹ als ›erobernden, mythoszeugenden Primaten‹. Somit könnte sich die heidnische Rückbesinnung als entscheidend für die Zukunft erweisen, wenn sie den neuen Gründungsmythos einzugeben vermöchte, den die europäische Kultur zu ihrer Regenerierung so sehr benötigt. Begünstigt wird eine derartige Entwicklung durch die außergewöhnlichen Erschütterungen, die die moderne Wissenschaft (von Physik bis zur Molekulargenetik) den dualistischen Theorien zufügten. Der Paganismus trägt daher die Neugeburt des urwüchsigsten europäischen Geistes in sich, des polytheistischen und vielschichtigen Geistes eines Heraklit, Goethe, Nietzsche oder Heidegger.

Das heidnische Göttliche bildet wohl die Antiwelt des Christlichen. Letzteres läßt sich nicht anders auffassen als durch das absolutistische Gesetz eines zeit- und weltfernen tyrannischen Gottes, eines eigentlich ›terroristischen Gottes‹ sofern er die Menschen unter die Allgegenwart seiner Gesetze niederdrückt und dabei das Sakrale abschafft. Dagegen erhöht das ›heidnische Heilige‹ die Menschen in den Taten, die sie frei beschlossen haben und verantworten können. Das heidnische Heilige spricht das Gedächtnis mit der Sprache der Zukunft an; es ist weder versteinerte Tradition noch grenzenloses Hirngespinst, sondern vielmehr „Regenerierung und Verwandlung der Götter, die aus der Zukunft hervortreten, um das Volk aufzurufen“. (Guillaume Faye, L’Occident comme déclin, 1984). Das heidnische Heilige ist eigentlich ein innerer Aufruf an das griechische, in unserem Gedächtnis verwurzelte ›Werde-was-du-bist‹. Dieses ›Werde-was-du-bist‹ ist der Schlußstein unserer Geschichte; es soll die Säule einer neuen Ordnung werden.

 

Wir begreifen auf einmal die außerordentliche Möglichkeit, die der Paganismus enthüllt: die eines aktiven Humanismus nämlich, die zur Selbstüberwindung, zur ständigen Verschiebung der intellektuellen und spirituellen Grenzen, zur Einübung schöpferischer Freiheiten und gründender Entscheidungen anregt. Mit anderen Worten: der Paganismus gibt eine Antwort auf jene ewige Frage, die den Menschen vor das Dilemma der Geschichte stellt, nämlich entweder die Geschichte fortsetzen und damit dem Leben einen Sinn verleihen, ein Schicksal schaffen oder den Status quo der Dogmen aushalten, aus der Geschichte austreten und damit unumgänglich den Bereich des Untergangs und des Todes betreten.

Schon Heraklit hatte den Konflikt ― folglich auch das Risiko ― als bestimmendes Lebensprinzip aufgefaßt. Die Humanwissenschaften (u.a. Konrad Lorenz) bekräftigen diese Ansicht und damit auch die Erkenntnisse, die von der Physik im Bereich der antagonistischen Energiegesetze gewonnen wurden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß alle nicht-christlichen Lebensauffassungen, von den griechischen bis zu den hinduistischen, diese lebensbestimmende polemologische Konstante in ihrer Kosmogonie aufweisen.

Der Paganismus erbringt somit den Nachweis, daß er die naturwissenschaftlichen Entdeckungen viel eher werten und anwenden kann als der christliche Dogmatismus, dem die Wissenschaft bis in die verborgensten Winkel seines Denkens widerspricht. Die Wissenschaft erklärt zwar die Wirkungen, schweigt aber über die Ursachen. Sie stellt uns nackt und frei vor uns selbst, vor unsere Wahlentscheidungen und unsere Pflichten. „Da wir zögern, die Ära der Surhumanität zu betreten, stehen wir uns erneut gegenüber. Werden wir den Schritt wagen? Wenn ja, werden wir selbst unsere Zukunft schmieden. Sonst wird die Zukunft über uns richten. Ein uraltes Problem: Muß man die Normen prägen oder sie duldend ertragen? (…) Ein schrecklicher, ein prächtiger Augenblick. Werden wir es wagen?“ (Yves Christen, L’Homme bioculturel, 1986)

Der Paganismus antwortet mit ›ja‹ im Namen des höheren Humanismus. So nennen wir ›Willen zur Macht‹ die Tatsache, daß jedes Lebewesen, jeder Mensch, jede Gemeinschaft, jedes Volk sich in seinem Milieu zu entwickeln sucht, um sein Leben und das seiner Nachkommen auf eine höhere Daseinsstufe zu erheben. Soweit diese Deutung des Lebens zu einer ständigen Überwindung der menschlichen Bedingtheit durch den Menschen selbst aufruft, können wir sie im wesentlichen als Lehre vom ›Übermenschen‹ bezeichnen.

Diese Lehre ist religiös im tiefsten Sinne des Wortes, denn sie verbindet das Wesen des europäischen Menschen mit dem, was dieses Wesen im gesamten Verlauf der Geschichte kennzeichnet: mit diesem Mehr-Sein, das in den Künsten, Naturwissenschaften, Techniken und Eroberungen Europas enthalten ist. Der Paganismus enthüllt den religiösen Aspekt der künftigen europäischen Wiedergeburt. Mazzinis berühmter Ausspruch erhält einen besonderen Sinn: „Die Republik, die wir anstreben, wird nicht nur ein politisches Ereignis, sondern ein großer religiöser Aufbruch sein.“

Beitragsbild: Konstantin Wassiljew, Walküre

Pierre Krebs (Hrsg.) Mut zur Identität. Alternativen zum Prinzip der Gleichheit.