Dr. Walter Gallard
In der nordeuropäischen Tradition erscheint der Julleuchter als ein unentbehrlicher Gegenstand, der gleichsam die Seele der Sonnenwende in sich trägt. Beim ersten Blick fällt eines auf: Durch seine Form läßt dieser Leuchter an einen Berg denken. Es ist, als stelle er einen Berg dar, dessen sakrale Dimension schon in der Gestalt, im geometrischen Erscheinungsbild angelegt ist. Hier wird jedoch mitnichten eine beliebige ›Anhöhe im kleinen‹ gefaßt: Vielmehr handelt es sich um einen Berg, der auf keinem Atlas wiederzufinden ist, auch und zumal wenn real existierende Berge aus anderen Traditionen (vom Olymp bis zum japanischen Fudschijama) symbolhafte Projektionen im konkreten Raum sind: Dieser Berg, noch gewaltiger als irgendein anderer auf den fünf Kontinenten, ragt in den Raum des Symbolischen und des Mythos. In ihm ist der heilige Berg schlechthin zu sehen.
In der uralten Tradition der vedischen Aryas war diese Anhöhe, ›Meru-Berg‹ genannt, gleichbedeutend mit dem Pol, der wiederum als das geographische Zentrum und die sagenumwobene Entstehungsstätte einer Ur-Kultur aufgefaßt wurde. Aus jener Kultur sollen mehrere Volksteile entsprossen sein, vor allem auch die Indoeuropäer. Das germanische Gegenstück zum Meru-Berg heißt ›Himinbjórg‹ (s. 13. Strophe vom Grimnismál) — zu deutsch ›Himmelsberg‹.(1) Dort hält sich Heimdal auf, der ›Weiße Ase‹, als Verkörperung der Weisheit und einer unentwegten Wachsamkeit, hütet er doch den ‚Regenbogen‘, der die Brücke schlägt zwischen den irdischen, dem Menschentum anvertrauten Weiten und der himmlischen Unendlichkeit, wo die Waltenden sind.
Der Leuchter hat vier Seiten. In Anbetracht der allgemein mit der Zahl vier verbundenen Symbolik hat man Grund anzunehmen, daß jede Seite nach je einer Himmelsrichtung blickt, was den zentralen Charakter dieses Gegenstands hervorhebt. Man kann sagen, daß dieser Begriff eines ›Mittelpunkts‹ mit der Achsenbezogenheitdurch die Pyramidenform nahegelegte ― Wertgradierung zwischen Himmel und Erde auszudrücken.
Als Sinnbild des ›Mittelpunkts‹ verweist uns der Leuchter, der ›Himinbjórg‹ heraufbeschwört, auch auf die altgermanische Vorstellung vom »Midgard«. Bekanntlich ist der Midgard als ›Mittel-Erde‹, wo die Menschen sind, die Mitte der Schöpfung; so heißt es zumindest in der ›Völuspá‹.
Mit diesem Begriff der Mittel-Lage untrennbar verbunden ist die Tatsache, daß Midgard mithin gleichzeitig die Bedeutung des geordneten Raumes, des Kosmos hat als Gegensatz zum chaotischen ›Utgard‹, der alles umrandend begrenzt. Dort, wo ›Himinbjórg‹ (oder auch die Irminsul, wenn man ein anderes germanisches Symbol der Mitte heranziehen will) steht, entfaltet sich eine durch den Willen der Asen geordnete Welt. Die Asen sind nämlich gestaltende Mächte, die auf den Zusammenhalt der Welt bedacht sind.
Auf jeder Seite des Leuchters sind zwei Motive zu sehen: ein Herz und ein Rad, genauer: ein sechsspeichiges Sonnenrad. Das Herz weist auf die Mitte hin, doch es symbolisiert auch jenen besonderen Aspekt des Verstands, der sich nicht aus der intellektuellen Schlußfolgerung ergibt, sondern aus einer erfahrungsbedingten Erkenntnis, die auch Mut voraussetzt, quillt. In früheren Zeiten war ›Herz‹ übrigens gleichbedeutend mit ›Mut‹.
Die Verbindung von Herz und Rädchen weist folglich auf eine von unseren Altvorderen hergestellte Beziehung zwischen Körper und Kosmos hin: Hier knüpft das Herzbild an das Sonnenbild an. Doch wieso das sechs- statt vierspeichige Rädchen? Hier spricht eine Symbolik, die mit dem Thema der Sonnenwenden in direkter Verbindung steht. Dieses Rädchen stellt sich tatsächlich als die einfachste Versinnbildlichung des ›glänzenden Gottes‹ dar, von dem in der 15. Strophe einer berühmten nordischen Dichtung die Rede ist. (2)
Man kann mit Recht in diesem Rädchen die überspitzte Stilisierung einer Figur ― des Sonnengottes ― erblicken, deren Arme sich gleichzeitig in zwei Richtungen recken: der Erde zu (hier fällt uns die 16. Rune im Futhark der Wikingerzeit ein) und zum Himmel hin (in Anlehnung an die 14. Rune, deren Name ›Madr‹ den Mann bezeichnet). Auf ganz symbolische Weise stellt das Rädchen die Abwandlungen der Sonnenstrahlen von einer Sonnenwende zur anderen dar: Zwischen SommerWende und WinterWende senkt das Gestirn, dargestellt durch ein Rad in Menschengestalt, seine Arme zur Erde nieder, als wolle es dadurch bekunden, daß sein Licht abnimmt.(3) Die Abnahme des Gestirns deutet auf eine Schwächung der höheren Mächte, auf jene ›Götterdämmerung‹, von der Wagners Oper erzählt. Umgekehrt lassen die sich wieder emporreckenden Arme an das aufgehende Licht, an eine Zunahme der Strahlungskraft und somit an die dämmernde Morgenröte denken.
Doch die Gleichzeitigkeit dieser beiden Bewegungen gibt zu folgenden Überlegungen Anlaß: Das Rädchen versinnbildlicht nicht nur die Abwandlungen des Lichtes im Jahreslauf, sondern auch jenen Zeitpunkt der Sonnenwende, wo die Sonne, an dem Punkt ihrer geringsten Strahlungskraft angelangt, wieder in neuer Kraft emporsteigt. Dieses gleichzeitige Auf- und Abwärts der Arme bzw. Speichen kann auch als das dauernde Bündnis zwischen Himmel und Erde aufgefaßt werden: Das durch ein Rädchen dargestellte Gestirn neigt sich der Erde (gemeint als der zentral gelegene, geordnete ›Midgard‹) zu und steigt zugleich in den Himmel (›Asgard‹), wo die Waltenden sind.
Bekanntlich waren in den alten Mythen Symbolkunde und Ontologie untrennbar. Aufgabe des Mythos war es, eine Art ›Mahnung‹ zu sein in ontologischer Hinsicht: Das Symbol ruft das sakrale Gedächtnis wach und stellt die Verbindung wieder her zwischen Midgard, der Menschenwelt, und Asgard, der Götterwelt. So gesehen doppelten Motivs (Herz / Rädchen) die bildliche Erfassung jenes entscheidenden Augenblicks: der Sonnenwende.
Als Sinnbild des unwandelbaren Berges sowie der Mittel-Lage verkörpert der Leuchter in der Tat einen ›Höhepunkt‹ des jährlichen Zyklus des Lichtes, nicht minder aber all derjenigen, die die Bedeutung und den Sinn der Sonnenwende in sich aufnehmen: Ein solcher Mensch steht fortan in Midgard und stellt in die Mitte, an die Spitze und in den Kern seines Erlebens durch einen Willensakt das Element der Beständigkeit.
Auf diese Weise begnügt er sich nicht mehr damit, »am Rande« zu leben und dabei das stete Auf und Ab der Lebenssituationen und der Gefühle über sich ergehen zu lassen. Dazu kommt, daß der Begriff des Mittelpunkts symbolisch an den Begriff des Höhepunkts / Gipfels knüpft. Es entsteht dadurch jene ‚Erhabenheit‚, die Situationen zu meistern vermag, denen das ›Allzumenschliche‹ anhaftet, das schon der Seher von Sils-Maria gebrandmarkt hatte. Nur so nämlich ist der Mensch fähig, auf den ›Höhen‹ zu verweilen ― das ist jener Augenblick, wo das Gestirn aufhört, unterzugehen, um wieder emporzustreben. In diesem Sinne stellen das Sonnenrädchen und Herz das Wappenschild dar, mit dem das Wesen, auf ›Himinbjórg‹ stehend, an der Hoch-Zeit seiner selbst teilhabend, sich den Willen der Waltenden zu eigen macht. ◊
(1) Der höchste ›Berg› Dänemarks (147 m) heißt ›Himmelbjaerget‹.
(2) Es handelt sich um ›Sigrdrifumal‹.
(3) In diesem Sinne ist auch das bekannte Kult- oder Runenzeichen in der großen Höhle des Externsteines (Fels 1) als Sinnbild der fallenden Jahreshälfte sinkender Lichtkraft gedeutet worden. (Anm. der Redaktion)