Dr. Carlos Dufour

Auszug aus seinem Buch: Das Wesen des Systems

Jede Veränderung setzt etwas Bleibendes als ihren Träger voraus. Regierungen kommen und gehen, was aber bleibt, nennt man das System.

Was ist es eigentlich, und woraus besteht es?

Ein System ist eine Herrschaft ohne sichtbare Herren, ein ausgeklügelter, relativ anonymer Mechanismus, in dem jedes Rad zur Funktion des Ganzen beiträgt. Dabei ergeben sich Stabilität und Wagnis zugleich: kleine politische Veränderungen, Wahlen und Regierungswechsel sind voraussagbar, Revolutionen kaum.

Manche Komponenten des Systems sind Institutionen und sonstige Regelwerke – sie bestehen eine Weile unabhängig von Meinungen und Einstellungen, sie stellen die feste Infrastruktur dar.

Andere Komponenten sind ideologischer Oberbau, sie werden durch ein Geflecht von Aussagen und Überzeugungen gebildet, die unmittelbar innere Zustimmung verlangen.

Infrastruktur und Oberbau arbeiten verschieden:

  • Die Marktwirtschaft wirkt auf ein Subjekt, gleichgültig, ob es eine kritische Einstellung zu ihr hat oder nicht;
  • das Christentum aber funktioniert nicht so gut, wenn das Subjekt nicht daran glaubt.

Im System greifen institutionelle und ideologische Bestandteile ineinander. Sie bedingen und ergänzen sich, sie verbinden sich durch eine ›Wahrscheinlichkeitskette‹: Ist eine Komponente gegeben, um so wahrscheinlicher wird es, daß auch eine andere Komponente erscheint. Außenstehenden mögen die Komponenten wie Mißbildungen erscheinen, doch Gewöhnung und Überredung verschaffen ihnen den Anstrich von Selbstverständlichkeiten.

Im System paßt alles zusammen. Seine offensichtliche Kohärenz bürgt für Solidität und Zählebigkeit. Diese Eigenschaft kann trotzdem eine Schwäche bedeuten, denn die Wahrscheinlichkeitskette verläuft in beide Richtungen: ein Vertrauensschwund an der öffentlichen Berichterstattung oder der Wirtschaftsform erodiert die politischen Strukturen der Demokratie.

Wie bei der Zustimmung schlägt die Ablehnung der einen Komponente leicht in die Ablehnung einer anderen um.

In einem sterbenden System fällt am Ende alles zusammen.

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