
Dominique Venner
Dominique Venner sieht in dem griechischen Mythos von Theseus, der das versteckte Schwert seines Vaters entdeckt, ein Sinnbild dafür, dass die Europäer über ein in Vergessenheit geratenes kulturelles und spirituelles Erbe verfügen, das schlummert und darauf wartet, zurückgewonnen zu werden. Venner meint, dass dieses Erbe – das in allen europäischen Kulturen durch ähnliche Schwertmythen (Excalibur, Sigurds Schwert) symbolisiert wird – nur durch bewusste Anstrengung, persönliche Würdigkeit und historisches Wissen wiedergewonnen werden kann.
Unter all den Heldentaten, die Theseus, dem legendären Helden der Athener, zugeschrieben werden, ist die berühmteste die Tötung des Minotaurus, eines kretischen Ungeheuers, dem die alten Völker Attikas einen blutigen Tribut zollten.
Die mythische Erzählung über die Entdeckung seines Erbes, überliefert von Pindar und Plutarch, kann uns nicht gleichgültig lassen. Theseus war der Sohn des Aegeus, König von Athen. Da er mit seiner rechtmäßigen Frau keinen Sohn zeugen konnte, folgte Aegeus dem Rat der Götter und schwängerte Aethra, die Tochter des Königs von Troizen. Auf diese Weise wurde Theseus geboren.
Das Kind wuchs in der Familie seiner Mutter auf und wußte nichts von seinem Vater. Dieser hatte angeordnet, ihm nichts über seine Herkunft zu verraten, solange er nicht in der Lage wäre, einen Felsen zu heben, unter dem Ägeus sein Schwert versteckt hatte, bevor er fortging. Und so geschah es auch.
Als Theseus sechzehn Jahre alt war, führte ihn seine Mutter zu dem Felsen. Der junge Mann hob den Stein mühelos an und nahm das Schwert an sich. Daraufhin wurde ihm das Geheimnis seiner Geburt offenbart. Er beschloß, zu seinem Vater zurückzukehren, und vollbrachte während der Reise eine Reihe von Heldentaten, die bewiesen, daß er wahrhaftig der Sohn eines Königs war.
Athen wurde immer noch von Ägeus regiert. Dieser war jedoch in die Macht der Zauberin Medea geraten. Diese erkannte Theseus und beschloß, ihn zu vergiften. Doch während eines zu diesem Zweck organisierten Banketts zog Theseus sein Schwert, um ein Stück Fleisch zu schneiden. Sofort erkannte ihn sein Vater und rettete ihn. Dann, seiner Macht sicher, nahm er seine Rechte wieder wahr und vertrieb Medea.
Ähnlich wie Theseus sind die Europäer die Hüter eines ebenso königlichen Erbes, nämlich ihres Ursprungs und ihrer Geschichte, aber sie wissen es nicht. Dieses Erbe wurde ihnen vorenthalten. Sie werden es nur wiederfinden, wenn sie sich in Prüfungen als würdig erweisen. Das ist die Bedeutung des Mythos vom unter dem Stein verborgenen Schwert.
In ähnlicher Form findet sich dieser Mythos der wiedergefundenen Erinnerung auch in den Gründungslegenden anderer großer europäischer Kulturen wieder, in den keltischen Ländern mit dem Schwert von Artus, in den nordischen Ländern mit dem Schwert von Sigurd. Beide Schwerter stammen von ihren Vätern, ohne daß sie es wissen. Excalibur wurde von König Uther vor seinem Tod in einen Stein gerammt. Das Schwert von Sigurd stammt aus der geheimen Hinterlassenschaft seines Vaters Sigmund, über den Schmied Regin, der die zerbrochenen Teile wieder zusammengefügt hat.
Eine solche Ähnlichkeit kann kein Zufall sein. Zusammen mit vielen anderen Zeichen zeigt sie die Verwandtschaft, die die europäischen Völker durch ihre Gründungsmythen verbindet. Der Mythos vom verborgenen Erbe sagt uns auch, daß wir, ohne es zu wissen, auf den Spuren unserer oft unbekannten Vorfahren wandeln.
Als Metapher für Königtum, Rechtschaffenheit und Tapferkeit steht das Schwert für ein spirituelles Erbe. Dieses wird nur durch das Streben nach Erkenntnis bewußt, was die Aufgabe der Geschichte par excellence ist, indem sie die Realität lehrt und das kollektive Gedächtnis wachhält.