Dr. Baal Müller

Im Wirbel der unzähligen Tonalitäten, die auf unserem Planeten wahrnehmbar sind, erscheinen die Konsonanzen und Dissonanzen als die erhabene Kargheit der Wüsten, die Majestät der hohen Berge, die Melancholie, die uns die weiten Heideflächen bringen, die geheimnisvollen Verschlingungen der tiefen Wälder, das Brodeln der Küsten, die vom Licht der Ozeane durchflutet werden. In ihnen hat sich die ursprüngliche Arbeit des Menschen eingegraben oder auf Impuls des Traums hin eingemischt.

 

Mit feurigen und pathetischen Worten wie den hier zitierten aus seinem bekanntesten Essay ›Der Mensch und die Erde‹ (1913) hat Ludwig Klages immer wieder die Erdverbundenheit und die natürliche Frömmigkeit der Urzeitmenschen gepriesen, deren Werke und Bauten noch immer die Seele der Landschaft atmen oder offenbaren, aus der sie entsprungen sind. Diese Einheit wurde durch das Eindringen des Geistes in der frühgeschichtlichen Zeit der Pelasger zerstört, ein Ereignis, das einem Fall in die kosmische Sünde gleichkommt.

Der Geist, als Prinzip verstanden, ist für Klages das grundlegende Übel und der Ursprung eines Verfallsprozesses, der die gesamte Geschichte beherrscht hat. In diesem Sinne ist der Geist ursprünglich weder eine Eigenschaft des Menschen noch eine dem Wirklichen wesenseigene Eigenschaft, sondern stellt vielmehr – sowohl für den Menschen als auch für die Realität – das ‚ganz Andere‘, das ‚völlig Fremde‘ dar.

Für Klages ist einzig die Welt von Raum und Zeit real, die er als ein Kontinuum von Bild-Phänomenen begreift – Phänomene, die noch nicht durch die Projektion des „Geistes” oder des „egohaften Bewußtseins”, das auf anthropologischer Ebene dessen Träger ist, verfälscht oder verdinglicht worden sind.

Maß und Zahl, Punkt und Grenze sind in Klages‘ Lehre von der Erkenntnis und vom Sein die Kategorien des „Geistes” – durch deren Kraft er die Phänomene, die ursprünglich ontologisch erlebt oder sich durch die Macht des Schicksals von selbst manifestieren, in disparate Sequenzen aufteilt und unterteilt; eben diese Aufteilung in disparate Sequenzen macht alles berechenbar und beherrschbar.

Die Unterscheidung, die durch den „Geist” vorgenommen wird, ermöglicht dem Menschen jedoch Erkenntnis: Weil er diese Feststellung trifft, kann Klages trotz seiner gelegentlichen verbalen Radikalität und seiner unzähligen Kritiken nicht als „Irrationalist” angesehen werden. Wenn aber der „Geist” Erkenntnis ermöglicht, ist er gleichzeitig und matrixartig die Ursache des gigantischen Verblendungs- und Zerstörungsprozesses, der nach Klages‘ Überzeugung die Welt sehr bald in eine riesige Mondlandschaft verwandeln wird.

Dieser Denker, geboren 1872 in Hannover und gestorben 1956 in Kilchberg, prangerte schon sehr früh mit erstaunlicher Weitsicht die konkreten Folgen der modernen Zivilisation an, wie die endgültige Ausrottung unzähliger Tier- und Pflanzenarten oder die weltweite Nivellierung aller Kulturen (die wir heute als „Globalisierung” bezeichnen).

Diese Weitsicht zeigt sich bereits in seinen ersten Schriften, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden und 1944 unter dem Titel ›Rhythmen und Runen‹ veröffentlicht wurden. Sie erschienen als ‚posthume Schriften’, obwohl der Autor noch lebte!

Klages ist ein faszinierender Philosoph – und eben diese Faszination ist für viele Interpreten seines Werkes zugleich seine Schwäche –, weil er versucht hat (und es ihm gelang), grundlegende philosophische Begriffe zu schmieden, mit deren Hilfe sich dieser beklagenswerte Zustand der Welt begreifen läßt – insbesondere in seinem Hauptwerk ›Der Geist als Widersacher der Seele‹ (1929–1932).

Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die sich wie er der breiten Bewegung der sogenannten „Lebensreform” angeschlossen hatten, die im wilhelminischen Deutschland weite Kreise zog, begnügte sich Klages nicht damit, die damals als „modern“ geltenden Heilmethoden wie Vegetarismus, Nudismus oder Eurythmie zu empfehlen.

Er predigte auch keine Weltrevolution, die Pubertierende hätte begeistern können, und beschränkte sich nicht darauf, die negativen Symptome des „Fortschritts“ zu beklagen. Vielmehr versuchte er wie jeder traditionelle Metaphysiker oder deutsche Systemphilosoph, die Wurzel des Übels ein für alle Mal theoretisch zu erfassen.

Das grundlegende Problem, das er hervorhob, nämlich den Gegensatz zwischen Geist und Seele, untersuchte und verfolgte er einerseits durch leidenschaftliche Polemiken, die ihm eigen waren, und andererseits durch subtilste philosophische Arabesken in jedem seiner zahlreichen und umfangreichen Werke.

Diese Werke befassen sich teils mit historischen Persönlichkeiten wie zum Beispiel ›Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches‹ (1926), zumeist jedoch mit systematischen Fragestellungen. Dazu gehören Disziplinen wie die ›Ausdrucks- und Charakterkunde‹, zu deren Entwicklung Klages wesentlich beigetragen hat. Besonders hervorzuheben ist die Graphologie, die Klages zur Wissenschaft erhoben hat.

1895 gründete er mit Hans H. Busse das ›Institut für wissenschaftliche Graphologie‹ in München, nachdem er zunächst widerwillig ein Chemiestudium aufgenommen hatte. Klages widmete der Graphologie mehrere theoretische Werke, darunter ›Handschrift und Charakter‹, das erstmals 1917 erschien. Dieses Werk erlebte zahlreiche Neuauflagen und verschaffte seinem Autor ein sehr breites Publikum.

Zu den weiteren Erfolgsbüchern von Klages zählt ein ganz besonderes Werk mit dem Titel ›Vom kosmogonischen Eros‹ (1922). Dieses Buch handelt von einer „Pan-Erotik“ und beschreibt mit unbestreitbarer Leidenschaft heidnische Totenkulte. All dies erinnert natürlich an die Ideen seines Freundes Alfred Schuler, der wie Klages um 1900 das literarische und künstlerische Bohème-Viertel Schwabing in München frequentierte.

Dieses Werk über den kosmogonischen Eros wurde von Hermann Hesse und Walter Benjamin in höchsten Tönen gelobt. Es gelingt ihm perfekt, die richtige Balance zwischen Philosophie und Wissenschaft einerseits und prophetischem Diskurs und Poesie andererseits zu halten: Zwischen diesen Polen oszilliert das gesamte Werk von Klages.

Diese permanente Oszillation ermöglicht es Klages und seinem so typischen Stil, erfolgreich zwischen Charybdis und Scylla zu navigieren, zwischen gewagten Passagen einer ausgefeilten Philosophie, die für den heutigen Leser schwer zu verstehen ist: Zwar beherrscht Klages die deutsche Sprache perfekt, aber seine Sätze sind viel zu lang  und enthalten eine enorme Menge an philosophischem Stoff, insbesondere in seinem 1500 Seiten starken Werk ›Der Geist als Widersacher der Seele‹. Schließlich erschwert das archaische Pathos des Visionärs und Verkünders, das Klages mit vielen Vertretern seiner Generation teilte, unseren heutigen Lesern die Lektüre.

Wenn der heutige Leser jedoch die anfänglichen Schwierigkeiten überwindet, entdeckt er ein Werk von großer philosophischer Dichte, ausgedrückt in einer Sprache, die Lichtjahre vom heutigen Medienjargon entfernt ist.

Diese Sprache erklärt uns seine Beobachtungen zur „atmosphärischen“ und „formgebenden“ Wahrnehmung, zum wachen Bewußtsein und zum Traumbewußtsein oder auch zu den Strukturen der Sprache und des Denkens: Sie verbietet uns, in der Simplizität des Dualismus von Seele und Geist zu verharren, der seiner Grundidee zugrunde liegt (die in allen Einzelheiten nicht haltbar ist und die oberflächliche Kritiker ständig wieder hervorholen).

Angesichts seines Programms, ein neues Heidentum zu beleben – das sich aus seinem philosophischen Gesamtprojekt ableiten läßt –, sollte man sich davon nicht auf den ersten Blick abschrecken lassen oder es vorschnell bejubeln.

Der Neopaganismus von Klages, der nichts mit Astrologie, Runologie oder ähnlichen Ableitungen zu tun hat, ist vor allem als „Metaphysik des Heidentums“ zu verstehen, d. h. als eine philosophische Erklärung a posteriori einer heidnischen und vorrationalen Weltanschauung.

Es geht also nicht darum, an personalisierte Götter oder Götter mit einer bestimmten Funktion zu „glauben“, sondern eine Sichtweise anzunehmen, die nach Klages‘ Rekonstruktion den Kosmos als „belebt“, „beseelt“ und lebendig erscheinen läßt.

Während der moderne Mensch durch seine Erkenntnisanstrengungen die Welt letztlich zur bloßen Sache macht, betrachtet der Heide es als Frevel und Sakrileg, den Schleier der Isis zu lüften.

Baal Müller

 

Quelle: https://www.terreetpeuple.com/paganisme-memoire-35/9801-ludwig-klages-metaphysicien-du-paganisme.html

 

Der Geist als Widersacher der Seele als PDF:

https://www.calameo.com/read/000127172b1161ab5d764

 

Was ist Heidentum?