Julius Evola

 

Dieser Aufsatz wurde erstmals 1951 veröffentlicht.

 

Heute gewinnt die europäische Idee unter den verantwortungsbewußtesten Köpfen unseres Kontinents immer mehr an Boden. Über einen Punkt von grundlegender Bedeutung herrscht jedoch selten Klarheit: ob diese Idee aus der Notwendigkeit erwächst, sich gegen den bedrohlichen Druck außereuropäischer Mächte und Interessen zu verteidigen, oder ob man ein höheres Ziel verfolgt und eine organische Einheit anstrebt, die einen positiven Inhalt und ein eigenes Gesetz hat.

Soll die europäische Einheit nur eine realpolitische Bedeutung haben, oder soll sie vor allem eine geistige Grundlage haben? Die meisten föderalistischen Lösungen gehören zur ersten Alternative und können nur den zufälligen Charakter eines Zusammenschlusses von Kräften haben, die – ohne innere Bindung – bei veränderten Umständen wieder auseinanderfallen. Die andere Lösung – die organische – ist jedoch mit Voraussetzungen verbunden, die schwer zu erfüllen sind.

Wir wollen dies kurz untersuchen. Zunächst ist festzustellen, daß der Ausdruck „europäische Nation“ zwar als Mythos Bedeutung haben mag, aber vom Standpunkt eines streng systematischen Denkens aus nicht unangreifbar ist. Der Begriff der Nation gehört im Wesentlichen eher auf die naturwissenschaftliche als auf die politische Ebene und setzt die unveräußerliche Einzigartigkeit eines bestimmten Ethnos, einer bestimmten Sprache und einer bestimmten Geschichte voraus.

All diese Besonderheiten können und sollten nicht zu einem einzigen Mischgebilde Europa verschmolzen werden. Ebenso wenig dürfen wir uns von den mehr oder weniger standardisierten Merkmalen der europäischen Lebensweise täuschen lassen. Diese Merkmale sind eher Zeichen der Zivilisation als der Kultur. Sie sind nicht so sehr europäisch als vielmehr modern, und man findet sie heute fast überall auf der Welt.

Die europäische Einheit kann nur von höherer Art sein als die, die den Begriff der Nation als solchen definiert. Sie kann nur die Form eines „Organismus, der aus Organismen besteht“ annehmen; an seiner Spitze und in seinem Zentrum müssen die geistige Realität und die übergeordnete Autorität des „unum quod non est pars“ – um diesen Dante’schen Ausdruck zu verwenden – vorherrschen. Eine organische Einheit ist ohne ein Prinzip der Beständigkeit nicht denkbar. Es ist nun zu überlegen, wie diese Dauerhaftigkeit für die europäische Einheit gesichert werden kann.

Es liegt auf der Hand, daß keine Dauerhaftigkeit in einem Ganzen gefunden werden kann, wenn sie nicht schon in den Teilen vorhanden ist. Die Voraussetzung für die europäische Einheit ist daher das, was wir als organische Integration der einzelnen Nationen bezeichnen wollen. Dem europäischen Gebilde würde es an echter Solidität fehlen, wenn es sich einerseits auf eine Art internationales Parlament stützen würde und andererseits politische Systeme umfassen würde, die wie das demokratisch-repräsentative System keine Kontinuität von Richtung und Führung garantieren können, da sie ständig von unten bestimmt werden. Die historische Betrachtung bestätigt diesen Zusammenhang.

 

EU-Parlament, Bildquelle: dpa

 

Die Auflösung der europäischen mittelalterlichen Ökumene begann in dem Moment, als die Nationalstaaten – allen voran Frankreich durch die Juristen Philipps des Schönen – auf die übergeordnete Autorität des Reiches verzichteten und ein neues Recht geltend machten, indem sie behaupteten, jeder König sei ein „Kaiser“ in seiner eigenen fragmentierten und absolutistischen Nation. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß diese Usurpation in einer Art historischer Nemesis eine weitere nach sich zog: Innerhalb der souveränen Nationalstaaten, die sich vom Reich losgelöst hatten, erklärten sich die einzelnen ihrerseits für souverän, unabhängig und „frei“. Sie verzichteten auf ein höheres Konzept von Autorität und setzten das atomistische und individualistische Prinzip durch, das den „demokratischen“ Systemen zugrunde liegt.

Die organische Erneuerung setzt also einen doppelten Integrationsprozeß voraus: die nationale Integration durch die Anerkennung eines Prinzips überindividueller Autorität als Grundlage für die organische und korporative Strukturierung der politischen und sozialen Kräfte innerhalb jeder einzelnen Nation; und die supranationale Integration durch die Anerkennung eines Autoritätsprinzips, das über den einzelnen ethnischen Einheiten stehen sollte, so wie ersteres über den einzelnen Mitgliedern eines bestimmten Staates steht. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, verbleibt man auf der Ebene des Formlosen, des Zufälligen und des Instabilen. Von einer Einheit im höheren, organischen Sinne kann dann kaum die Rede sein.

Hier stoßen wir jedoch auf den heikelsten Punkt des gesamten Problems. Schon aufgrund ihres übergeordneten Charakters kann diese Autorität keinen rein politischen Charakter haben, was jede Lösung im Sinne eines Bonapartismus oder eines schlecht verstandenen Cäsarismus ausschließt. Was kann dann das wesentliche innere Fundament der neuen Ordnung sein?

Ein solches Fundament sollte differenziert sein, denn es muß der europäischen Einheit ein unverwechselbares Gesicht geben und die Gewähr dafür bieten, daß es sich um Europa – um die „Nation Europa“ – als ganzheitlichen Organismus handelt, der sich von anderen, außereuropäischen Gebilden abgrenzt und ihnen entgegensteht. Die Annahme, daß dieses Fundament ein rein kulturelles sein kann, ist unseres Erachtens illusorisch, wenn man Kultur im herkömmlichen, intellektualistischen und modernen Sinne versteht.

Kann man heute von einer Kultur sprechen, die eindeutig europäischer Natur ist? Es wäre gewagt, dies zu bejahen, und der Grund dafür liegt in der Neutralisierung (wie Christoph Steding es ausdrückte) durch die moderne Kultur. Diese Kultur hat sich von jeder politischen Idee emanzipiert; sie ist „privat“ und gleichzeitig kosmopolitisch ausgerichtet; sie ist richtungslos, antiarchitektonisch, subjektivistisch und selbst in ihren „positiven“ und wissenschaftlichen Formen gesichtslos und damit neutralisiert.

Nur im perversen Sinne eines nivellierenden „Totalitarismus“ hat man im Westen hier und da versucht, die Idee einer absoluten, politisch-kulturellen Einheit durchzusetzen. Jedenfalls Eändigungen und Konferenzen von mehr oder weniger ruhmhungrigen Intellektuellen und Literaten etwas für die wahre europäische Einheit gewonnen werden kann.

Streng genommen sollte die „Seele” einer supranationalen Einheit religiös bestimmt sein, aber nicht abstrakt, sondern mit Bindung an eine präzise, positive und normative geistige Autorität. Abgesehen von den tiefgreifenden Prozessen der Säkularisierung des allgemeinen Lebens in Europa gibt es heute auf unserem Kontinent kein solches Zentrum. Der Katholizismus ist nur der Glaube einiger europäischer Nationen. Schon in der nachnapoleonischen Ära, unter weitaus günstigeren Bedingungen als heute, war die Heilige Allianz, in der sich gerade die Idee der traditionsgebundenen Einheit der europäischen Staaten ausdrückte, nur dem Namen nach heilig, es fehlte eine wirklich religiöse Weihe und eine übergeordnete universelle Idee.

Sollte man nun nicht vom Katholizismus, sondern nur vom Christentum sprechen, würde dies eine allzu unbestimmte und instabile, nicht ausschließlich europäische und kaum brauchbare Grundlage für die europäische Kultur allein bedeuten. Außerdem ist die Vereinbarkeit des reinen Christentums mit einer „Metaphysik des Reiches“ fraglich; das hat uns schon der mittelalterliche Streit zwischen den beiden Mächten gezeigt – wenn man ihn in seinen tieferen, von mir an anderer Stelle gewürdigten Gründen versteht.

Man spricht oft von der europäischen Tradition, aber das ist kaum mehr als eine Floskel. Der Westen weiß schon lange nicht mehr, was Tradition im höheren, organischen und metaphysischen Sinne bedeutet; fast seit der Renaissance sind abendländischer Geist und antitraditioneller Geist fast synonym geworden. Tradition im ganzheitlichen Sinne ist eine Kategorie, die einer fast verlorenen Zeit angehört, jenen Epochen, in denen sich eine einzige prägende, metaphysisch verwurzelte Kraft in Brauchtum, Kult, Recht, Mythos, Kunst und Weltanschauung manifestierte – in jedem einzelnen Bereich der Existenz.

Niemand wird es wagen zu behaupten, daß es heute eine europäische Tradition in diesem für unsere Frage allein entscheidenden Sinne gibt. Man muß also von der unangenehmen Erkenntnis ausgehen, dass wir uns heute in einer Welt der Trümmer befinden und daß wir uns vorerst mit provisorischen Lösungen begnügen müssen, wobei wir zumindest bestrebt sein müssen, unsere Maßstäbe nicht zu verlieren und uns nicht von den falschen Lehren des „Westens“ und des „Ostens“ ablenken zu lassen.

Die Ablehnung der föderalistisch-parlamentarischen und „sozialen“ Vorstellungen von der europäischen Einheit, die Durchsetzung des organisatorisch-qualitativen Gedankens innerhalb eines hierarchischen und funktionalen Systems – das wäre ein erster positiver Schritt! Dementsprechend sollte das Prinzip der Autorität in seinen verschiedenen Formen und Stufen, die den verschiedenen Bereichen und Ländern angemessen sind, anerkannt werden.

Die supranationale europäische Einheit sollte vorerst heroisch bestimmt werden, auch wenn es nicht um Krieg oder Verteidigung geht. Wenn zumindest einige Eliten wieder fähig sind, frei von materiellen Zwängen, von der Enge der Partikularinteressen und von nationalistischer Hybris zu handeln und zu denken, dann entsteht ein Fluidum und eine Spannung, die kreativ wirken kann.

Auch in anderen Zeiten ist es vorgekommen, daß sich hinter solchen elementaren Bedingungen ein neues Prinzip offenbart hat. Durch dieses Prinzip erhielt ein großer politischer Organismus auf unsichtbare und mächtige Weise eine höhere Weihe, die Idee einer supranationalen Autorität gewann an Legitimität, und eine neue Epoche begann. Aus den Trümmern würde dann nicht so sehr die europäische Nation, sondern vielmehr das europäische Imperium hervorgehen und die drohende Gefahr der endgültigen Zersetzung und Versklavung unserer Völker abwenden.

 

Quelle: https://www.arktosjournal.com/p/europe-and-the-concept-of-organic
Beitragsbild: „Reitende Europa auf dem Stier”, Skulptur am Wittelsbacher Brunnen in München