Giorgio Locchi
Auszug aus dem Buch
Die Raumzeit der Geschichte
Das Vierdimensionale – das hat uns schon die Physik gelehrt – ist unanschaulich; unsere »natürliche« Sinnlichkeit, die biologisch bestimmt ist, vermittelt uns – voneinander getrennt – einen dreidimensionalen Raum und eine eindimensionale Zeit. Daher kommt es, daß wir das unanschauliche Vierdimensionale nur als ein Dreidimensionales darstellen können, unter Verzicht auf eine beliebige Dimension.
Das Kugelbild verräumlicht die Geschichtszeit, um deren Dreidimensionalität zu behaupten; eine dreidimensionale Zeit aber bleibt für uns sinnlich unanschaubar. Zeit als Bewegung können wir uns nur durch das Lineare und in dem Linearen darstellen, und eben deshalb kommt Nietzsche selbst so wie später die Autoren der sogenannten Konservativen Revolution vom Bild der Kugel zurück zum Bild des Kreises (oder auch der Spirale): Wir müssen Geschichtsbewegung linear darstellen, als Sukzession von Moment- Punkten, und das tun wir »ganz natürlich«, indem wir Geschichtszeit auf die »Linie« der bio-makro- physikalischen Zeit projizieren. Hier, auf dieser Linie, erscheinen Vergangenheit und Zukunft aus der Gegenwart ausgeschlossen; man ist immer in der Gegenwart, man ist nicht mehr und nie in der Vergangenheit, man ist noch nicht und nie in der Zukunft. In der Physis, im Leben, ist das wahr. In der Geschichte aber sind Vergangenheit, Aktualität und Zukunft immer zugleich da, von einer »Gegenwart« als ihr »Inniges« bestimmt, die das Dasein selbst (im heideggerschen Sinne) ist.
Daß es so ist, hat der Mensch immer irgendwie geahnt. Obwohl unanschaulich, ist die »eigentliche« dreidimensionale Zeit als zur Seinsverfassung unseres Daseins gehörend immer in uns und »schaut«. Schauend behauptet sie sich, wenn auch nur »negativ«, indem sie die »uneigentliche Zeit« irgendwie zu verschweigen versucht. Die Sprache kennt seit je dieses negative Behaupten, dies Verschweigen: sie redet von Leib und Seele, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Materie und Geist, von Weltlichem und Himmlischem, von Menschlichem und Göttlichem. All dieses Ahnen hatte in seiner geschichtlichen Gegenwart seine Richtigkeit; in einer anderen Gegenwart, in unserer Gegenwart, schlägt es in Irrtum um.
Nietzsches Wort vom »Tod Gottes« will auch dies besagen: Wir müssen Seele, Ewigkeit, Geist, Himmel, Göttliches an ihren Ursprungsort zurückholen, d. h. in unser menschliches Dasein als selbstbewußtes Dasein. Denn wie in jedem Moment-Punkt der makrophysikalischen »linearen« Zeit die Totalität des physikalischen Seins, der Masse-Energie, gegeben ist, so gibt jeder »Ich«-Punkt des linearen (eindimensionalen) geschichtlichen Raumes (der Tradition) die Totalität der Geschichte, indem er sie in der Erinnerung als geschichtliche Gewesenheit, in der Tat als geschichtliche Aktualität, im »vorlaufenden« Entwurf als geschichtliche Zukunft ordnet und bestimmt.
In einer so aufgefaßten Geschichtswelt, die »metapolitisch« schon im Mythem der »ewigen Wiederkunft des Gleichen« erfaßt wurde, gibt es – im Gegensatz zum »vulgären« Geschichtsbild – keine festgesetzte Vergangenheit, keine festgesetzte Zukunft. Vergangenheit ist nicht ein-für- allemal-in-Ewigkeit gewesen; sie wird in jeder Gegenwart sozusagen in Frage gestellt, ent-fügt und neu-gefügt (und die Historiker – glaube ich – sollten es als erste zugeben): »in jedem Nu beginnt das Sein«, in jedem »Nu« die Geschichte, »überall ist die Mitte«.
Was als »uneigentliche Vergangenheit« vorliegt, ist immer zweideutig im Sinne der »Möglichkeit«: Der Mensch als geschichtliches Dasein hat immer zwischen Vergangenheit und Vergangenheit zu wählen, zu entscheiden. Es gilt, je eine Vergangenheit zu zerstören und eine andere zu errichten: Auch unter diesem Gesichtspunkt sind das kritisch-philosophische Werk eben eines Nietzsche und das »metaphysische« Werk eben eines Heidegger wirkend-beispielhaft.
Die »Entscheidung« über die Vergangenheit ist immer – »gleichursprünglich« – Entscheidung über die Zukunft, es ist dieselbe Entscheidung. So begründet sich die geschichtliche Freiheit des Menschen. Da immer das Dasein vom Leben eingeholt wird, befindet sich das Dasein immer am Anfang seiner selber – und der Geschichte. Immer muß das Dasein, um es selbst zu werden, aus dem »Nur-Leben-sein« entscheidend heraustreten. Faktisch heißt das: Der Mensch ist ständig vor eine »Wahl« gestellt, immer steht er am Scheidewege vor antithetischen Möglichkeiten.
Was möglich ist, ist auch verwirklichbar, es kann ereignet werden. Da Dasein stets Mit-Dasein ist, da menschliches Dasein als geschichtliches immer auch gesellschaftliches Dasein ist, sind das, was geschichtlich zur Schicksalswahl steht, immer »epochale Möglichkeiten«, »epochal« das heißt, bestimmte Möglichkeiten, deren »weltgeschichtliche Verwirklichung« immer vom streitenden Streben der geteilten »Menschheit« abhängt.
Friedrich Nietzsche hat die zur Schicksalswahl stehenden Möglichkeiten unserer Epoche gezeigt: »letzter Mensch«, Ende der Geschichte oder »Zeit-Umbruch«, neuer »Anfang«. Beides ist möglich; beides kann – alternativ – Wirklichkeit werden. Vor dieser Alternative ist Nietzsches Werk auch Nietzsches Entscheidung: es zeichnet somit kultur-historisch (zusammen mit dem Werke Richard Wagners) die faktische Geburt der »neuen« »anti-egalitaristischen« epochalen Tendenz. (Nietzsche: »meine Bewegung«.)
Daß die dreidimensionale Zeit der Geschichte nur in einer Projektion auf die »Linie« der eindimensionalen sinnlichen Zeit, also als Kreis oder Spirale, anschaulich vorstellbar wird, wurde schon gezeigt. Wie sieht nun Weltgeschichte in dieser Projektion aus? Wie wird hier der Gang der Geschichte dargestellt?
Das egalitaristische Geschichtsbild zeichnet »segmentarisch« Geschichte als Gang von einem Anfang, der Ur-Verfallen ist, zu einem Ende, das Erlösung, Wiederaneignung des »wahren«, »vollen« menschlichen Seins ist. Anfang und Ende sind hier nur einmal gegebene Geschichtswenden, genauer: Schicksalswenden-, der Gang der Geschichte führt schließlich zur »unbeweglichen« Nachgeschichte, zum »geschichtslosen« Sein, er bringt das Sein der Vorgeschichte wieder und gibt an, es zu sublimieren.
Im »Kreis« oder in der »Spirale« als Projektionen der dreidimensionalen Geschichtszeit bietet jeder Geschichts- »Augenblick« (jede »Gegenwart«) drei verschiedene Aspekte, je nach den Perspektiven des Vergangenen, Aktuellen, Zukünftigen. Denn hier kann und soll jeder »Augenblick« als Anfang, als Mitte, als Ende zugleich betrachtet werden.
Nicht aber Anfang und Ende scheiden nun Geschichte von Vor- oder Nach- Geschichte, sondern die Mitte. Doch scheidet diese Mitte nicht Vor- oder Nachgeschichte von Geschichte, sondern Geschichte von Geschichte. Als Ende ist jeder »Geschichts-Augenblick« »Höchste Gefahr«, Fall in den tiefsten Abgrund; als Mitte kann er in »Großen Mittag« umschlagen; als Anfang muß er wiederangefangener »Ursprung« werden.
https://www.youtube.com/watch?v=Szdziw4tI9o
Wer sich als in einer dreidimensionalen Geschichtszeit befindlich versteht, wird nicht von dem an sich unzulänglichen Bild des »Kreises« oder der »Spirale« irregeführt und gibt sich damit zu erkennen, daß seine »geschichtliche »Entscheidung« stets zugleich ein Wach-Rufen eines epochal-vergangenen, d. h. nicht mehr anwesenden, »verlorenen« Ursprungs, ein Überwinden einer herrschenden »verfallenden« Gegenwart und ein unternehmender Entwurf eines zukünftigen, d. h. noch nie dagewesenen »Übermenschlichen« ist. So spricht die »Sprache des Kreises«von dieser »Entscheidung«wie von einem Willen der Wiederkehr, der Wiederholung. Ein solches Wieder-holen ist aber mit Heidegger so zu verstehen:
Das besagt nichts Geringeres als den Anfang unseres geschichtlich-geistigen Daseins wieder-holen, um ihn in den anderen Anfang zu verwandeln. Solches ist möglich. Es ist sogar die maßgebende Form der Geschichte, weil es im Grundgeschehnis ansetzt. Ein Anfang aber wird nicht wiederholt, indem man sich auf ihn als ein Vormaliges und nunmehr Bekanntes und lediglich Nachzumachendes zurückschraubt, sondern indem der Anfang ursprünglicher wiederangefangen wird, und zwar mit all dem Befremdlichen, Dunklen, Ungesicherten, das ein wahrhafter Anfang bei sich führt. Wiederholung, wie wir sie verstehen, ist alles andere, nur nicht die verbessernde Weiterführung des Bisherigen mit den Mitteln des Bisherigen.
Hier zeichnet sich anscheinend eine Ähnlichkeit der beiden antithetischen »Entwürfe«, des Egalitarismus und des »Anti-Egalitarismus«, ab. Denn will nicht »Wiederholung« den »Ursprung« irgendwie sublimieren, so wie »Nachgeschichte« im egalitaristischen Sinne »Vorgeschichte« zu sublimieren hat? Dieser Anschein ist aber nur eine Folge der Projektion der dreidimensionalen Geschichtszeit auf die »Linie« der sinnlichen Zeit.
Der grundsätzliche Unterschied ist sogar leicht zu erkennen: Was die neue »anti-egalitaristische« Tendenz im Anschein sublimieren will, ist nie »vorgeschichtlich«, ist nie ein geschichtsloses Sein, sondern stets ein als »Ursprung« verstandenes »Geschichtliches«, nicht ein »Garten Eden«, nicht eine vorgeschichtliche »natürliche« »kommunistische Gesellschaft«, sondern – faktisch, von Fall zu Fall – Urgermanentum (wie bei Wagner), Urgriechentum oder »blonde Bestie« (wie bei Nietzsche), nochmals – auf der metaphysischen Ebene – Heideggers Ur-Sein der griechischen Philosophie oder auch – in der neueren sowohl »kulturellen« wie politischen Strömung der Tendenz – Urrömertum, Urkeltentum und überhaupt – im neuesten Ausblick auf ein zukünftiges »Europa« – Urindogermanentum. Und das heißt auch immer in den verschiedensten zeitgemäßen Formulierungen: handelnde Überwindung der herrschenden verfallenden »egalitaristischen« Gegenwart, »Zerstörung« der abendländischen judäo-christlichen Tradition.
Das Schicksal Europas
Heidegger sagte 1935 in einer später unter dem Titel »Einführung in die Metaphysik« veröffentlichten Vorlesung:
Dieses Europa . . . liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und bodenlosen Organisation des Normalmenschen . . . Wir liegen in der Zange. Unser Volk erfährt als in der Mitte stehend den schärfsten Zangendruck, das nachbarreichste Volk und so das gefährdetste Volk und in all dem das metaphysische Volk. Aber aus dieser Bestimmung, deren wir gewiß sind, wird sich dieses Volk nur dann ein Schicksal erwirken, wenn es in sich selbst erst einen Widerhall, eine Möglichkeit des Widerhalls für diese Bestimmung schafft und seine Überlieferung schöpferisch begreift. All das schließt in sich, daß dieses Volk als geschichtliches sich selbst und damit die Geschichte des Abendlandes aus der Mitte ihres künftigen Geschehens hinausstellt in den ursprünglichen Bereich der Mächte des Seins.
Diese Worte gelten auch heute, heute mehr denn je, denn nicht nur steht das deutsche Volk in der Mitte, sondern die Mitte geht verwüstend durch dieses selbst hindurch. Und so sollen diese Worte Heideggers uns zu einer abschließenden Besinnung auf den »Sinn der Geschichte« führen.
Das »lineare Geschichtsbild«, das »dreidimensionale Geschichtsbild« wurden gezeigt. Das eine gründet sich in einer eindimensionalen Zeit, das andere in einer dreidimensional behaupteten Zeit. Welches ist »das wahre«? Welches entspricht der »Wirklichkeit«? Welche Zeit gibt es wirklich? Und dazu als Vorfrage: Sind diese beiden antagonistischen Bilder nicht etwa Niederschlag von seit jeher bestehenden Gefühlswelten des Menschen? Diese letzte Frage ist wohl zu bejahen, eben weil geschichtliches Dasein immer vor die Wahl gestellt ist, zwischen gegensätzlichen Möglichkeiten zu entscheiden, und ihm diese Entscheidung stets nach seinem »Gefühl« freisteht.
Man denke an eine Erscheinung wie die der Pyramiden! Für die eine »Gefühlswelt« sind die Pyramiden ein Symbol des menschlichen Verfalls, der menschlichen »Entfremdung«, weil nur Sklaventum, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, »schlechtes Bewußtsein« der Herrschenden, Aberglaube der »Niederen« zum Entwurf und zur Errichtung dieser »blutigen« Denkmäler verführen konnten. Die andere Gefühlswelt versucht aber, in die einzigartige Ursprünglichkeit dieser Kunstwerke einzudringen, andächtig eingedenk der »Größe und Furchtbarkeit« des geschichtemachenden Menschen.
Oder stellen wir uns jenen römischen Posten in Pompeji vor, an den einmal Oswald Spengler erinnerte! Dieser Posten starb, unter der niederfallenden Asche der Eruption begraben, da, wo er zu stehen hatte bis zum nie gekommenen Abruf. Diese Haltung des römischen Postens ist nur sinnlos für denjenigen, dem Geschichte selbst in sich sinnlos ist; ihm erscheint der Posten als Opfer einer »Illusion«, eines sinnlosen, unnützen »Irrtums«. Oswald Spengler sah aber in diesem römischen, »zwecklos« sich opfernden Soldaten das Musterbeispiel der »geschichtlichen Haltung«, des »Sich-selbst-werden- wollens« bis zum Tod und im Tod. Und so wollte er auch das nach seiner Theorie zusammenbrechende Abendland in einem »zwecklosen« heroischen Endkampfe enden sehen.
Diese antagonistischen Gefühlswelten sind aber selbst in der Geschichte; sie ändern sich je nach den zur Wahl stehenden epochalen Möglichkeiten. Wir wissen um die eine oder die andere nur aus unserer Gegenwart, von dieser Gegenwart her eignen wir uns die eine oder die andere an, und nur so, in uns selbst, verstehen wir sie. So verfahrend aber »schreiben« wir nur »unsere« Historie.
Nun fragen wir wieder: Welches ist das »wahre« Geschichtsbild? Das »lineare« oder das »dreidimensionale«? Welches entspricht der »Wirklichkeit«? Welche Zeit ist die Zeit der Geschichte? Die eindimensionale oder die dreidimensionale? Solches Fragen ist unser Fragen, das Fragen derjenigen, welche der neuen epochalen Tendenz irgendwie angehören. Wer der egalitaristischen Tendenz angehört, stellt keine solchen Fragen, denn er »glaubt« oder »weiß«, in der Wahrheit zu sein. Er weiß, wo Geschichte unwiderstehlich, unabwendbar hinstrebt: in das Nach-Geschichte eröffnende Ende. (Er fragt höchstens, wie dieses Ende »am schnellsten« zu erreichen sei, was für »unsere« Augen wohl ein unlogisches, »allzumenschliches« Fragen ist.)
Dieses Fragen, das »unser Fragen« ist, geschieht nur, damit es sich schließlich als kein eigentliches Fragen, sondern als handelndes Streben erweist. Weder das eine noch das andere Geschichtsbild ist »wahr«. Die aus der uneigentlichen Zeitlichkeit entspringende eindimensionale Zeit dringt als erste ins Bewußtseins des Menschen, und auch »weltgeschichtlich« ist sie als erste ins Geschichtsbewußtsein der Menschheit eingegangen. Sie ist aber nicht die Zeit der Geschichte, sie ist die Zeit, in der »man« lebt. Wird im Vollzüge des egalitaristischen Entwurfes jeder Mensch, jedes Volk zum »man«, dann wird Geschichte, dann wird Dasein selbst als Möglichkeit auf immer aufgehoben sein, dann wird Dasein nie dagewesen sein.
Das ist möglich. Ende der Geschichte ist möglich. Eigentliche Zeitlichkeit ist der einzige Sinn des Daseins. Als Sinn eines Möglichen ist sie auch ein Mögliches. Nun geht dieser Sinn, in einer neuen epochalen Tendenz (in einem neuen Menschen) bewußt werdend, selbst in die Geschichte ein, als »weltgeschichtlich« zu ergreifende Möglichkeit eines neuen geschichtlichen Ursprungs, »man« ist aber immer, denn »man« ist vom Leben eingeholtes Dasein, und Leben als Leben lebt auch ohne Dasein, auch ohne das »Rein-Menschliche«.
Deshalb sprach Richard Wagner von der Notwendigkeit, »das Rein-Menschliche zu regenerieren«. Deshalb mußte Nietzsche vom »Übermenschen« sprechen, d. h. von der Notwendigkeit, über das geschichtlich gewordene »man« hinaus einen neuen menschlichen Ursprung, einen neuen geschichtlichen »Anfang« zu verwirklichen. Auch das ist möglich.
Neuer Geschichtsanfang ist möglich. Auch das steht im Widerstreit der Epoche. Es gibt keine geschichtliche Wahrheit. Würde es sie geben, gäbe es keine Geschichte. Geschichtliche Wahrheit ist immer zu erwirken, immer zu verwirklichen. Das ist eben – für uns – der Sinn der Geschichte.