Alain de Benoist

Auzug aus dem Buch ›Das unvergängliche Erbe‹

Kapitel über ›Gleichheitslehre, Weltanschauung und „Moral“‹

 

Der Mensch ist der Partner Gottes,sein Verbündeter im Guten wie im Bösen. Beide erschaffen gemeinsam. Gott ist nicht über uns und nicht außerhalb von uns. Er ist auch nicht jenseits unserer Empfindungen. Wichtig ist nicht, an Gott zu glauben. Wichtig ist, so zu handeln, daß Er an uns glauben kann. Ihn in uns wiederzufinden und zu erkennen, uns zu erkennen zu geben wie Er. Körper und Geist sind ein und dasselbe. Eines auf das andere zurückzuführen oder diese Begriffe einander entgegenzusetzen, zeugt beides von derselben Krankheit des Geistes. Ein Gott, der sich nicht so benimmt, wie man das Recht hat, es von ihm zu erwarten, verdient es, verstoßen zu werden; vorausgesetzt, daß derjenige, der ihn verstößt, sein Bestes gegeben hat.

 

Es genügt nicht, geboren zu sein, man muß auch ›erschaffen‹ werden. Die Erschaffung vollzieht sich nach der Geburt; man kann sich nur selbst erschaffen.So gibt man sich eine Seele. Meister Eckhart spricht von ›Selbstschöpfung‹: „Ich war der Grund meiner selbst dort, wo ich ich selbst sein wollte, und ich war nichts anderes. Ich war, was ich sein wollte, und wollte sein, was ich war.“In der Edda (Hávamál, V) ist das Bild Odins das des Gottes, der sich sich selbst geopfert hat. Ein Volk schafft sich eine Kultur, wenn es sich Grund seiner selbst wird, – wenn es allein in sich selbst (in seiner Tradition) die Quelle zu ewiger Erneuerung findet. Dasselbe gilt für den Menschen: auch er muß in sich selbst die Gründe und die Mittel zu einer Selbstüberwindung finden. (Der dekadente Staatschef ist derjenige, der seine Autorität aus etwas ihm Fremden herleitet, aus etwas anderem als aus der Transzendenz des in ihm verkörperten Prinzipes.)

 

Die Tugend ist kein Mittel,das irgendeinem letzten Zweck dient. Sie ist sich selbst Zweck – sie ist ihr eigener Lohn. Sein Inneres wieder zu erobern oder sich selbst wieder zu erobern, ist Ausgangspunkt für jede Suche wie jede Eroberung. Animus und anima zuerst wieder in ihrem Sinn erkennen und ihr gegenseitiges Verhältnis wiederentdecken. Eine souveräne Herrschaft über sich selbst errichten. Sich selbst sein eigenes ziel sein. Dem Herrn in uns gehorchen und damit dem Sklaven in uns befehlen. Den rechten Ausgleich suchen.

 

Die Parole ›sei du selbst‹ genügt nicht.Man muß noch das werden, was man werden kann, – sich nach der Idee aufbauen, die man sich von sich selbst macht. Sich selbst ändern, bevor man die Welt ändert. Eher die Welt so akzeptieren wie sie ist, als uns selbst akzeptieren, wie wir sind. Unter den Möglichkeiten, die wir haben, die entwickeln, die uns spezifisch zum Menschen machen; und unter diesen jene entwickeln, die uns selbst spezifisch gemäß sind. Ein starker Wille erlaubt, so zu sein, wie man sein will, – fast ungeachtet dessen, was gewesen sind. Der Wille überwindet alle Determinismen, selbst der Geburt, unter der Bedingung, daß man wollen kann. Zuerst innere Energie kultivieren, diese Energie, „von der die Ameise, wie der Elefant zeugen kann“ (Stendhal) und die erlaubt, im Winter das zu sein, was den Frühling wieder erweckt.

Sich seine eigene Norm setzen — und sich daran halten.Das Gesetz unserer Handlungen in uns selbst finden, aber es nicht ändern.(Was nicht ausschließt, der gewählten Richtung neue Dimensionen geben). Nicht nachgeben und sich nicht beugen. Weitergehehen, auch ohne einen Grund zum Weitergehen. Einer verratenen Sache treu bleiben und treu bleiben denen, die es nicht gewesen sind. Gegen alle und gegen sich selbst die Idee verteidigen, die man sich von den Dingen macht und die man sich von sich selbst machen will

Die anderen nur dann führen wollen, wenn man sich selbst in der Gewalt hat:der Selbstzwang ist die erste Voraussetzung für das Recht, andere zu zwingen. Ebenso: seine Zeitgenossen ertragen, nachdem man gelernt hat, sich selbst zu ertragen. Der wertvolle Mensch stellt zuerst Anforderungen an sich, der gewöhnliche Mensch stellt Forderungen nur an die anderen (Konfuzius). Macht muß sich auf Überlegenheit gründen, nicht aber die Überlegenheit auf die Macht. Diejenigen, die leiten, haben das Recht, zu besitzen, doch die, die besitzen, haben nicht unbedingt das Recht, zu leiten. Der wertvolle Mensch jenseits jedes Despotismus: er beherrscht die Herrscher auf den ihm eigenen Wegen. „Ein neuer Adel ist allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen“ notwendigerweise „ein Widersacher“ (Nietzsche). Je höher man steigt, desto einsamer wandelt man: desto mehr muß man sich allein auf sich selbst verlassen. Diejenigen, die oben stehen, sind verantwortlich für die, die unten stehen: sie müssen ihren Erwartungen entsprechen; sie haben nur in dem Maße ›Privilegien‹, wie sie den anderen wirklich Lasten abnehmen. Tun sie das nicht, sind alle Revolten gerechtfertigt. Aus freien Stücken denen folgen, die uns überlegen sind: stolz sein, einen Meister gefunden zu haben (Stefan George). Das Gegenstück zur Unterwerfung ist nicht die Herrschaft, sondern der Schutz. Man hat das Recht, zu gehorchen, und die Pflicht, (sich) zu befehlen, – nicht das Gegenteil. Man muß sich zu der Pflicht bekennen, Rechte zu haben – und zu dem schönen Recht, Pflichten zu haben.

Die Welt ist eine unermeßliche Tragödie. Jedes Dasein ist tragisch, jede Aussage ist tragisch. Die Welt ist ein Chaos, – aber man kann ihr eine Form geben. Unsere Handlungen haben keinen anderen Sinn, als den, den wir ihnen geben. Folge davon ist: alles wirkt sich irgendwie aus. Unsere unbedeutendsten Gesten wirken bis in die entferntesten Teile des Weltalls. Das Böse hat keine positive Existenz. Es ist eine bloße Beschränkung des Werdens, – eine Beschränkung der Form, die die Lebewesen der Welt geben. Eine bloße ewige Verneinung.

Wir verdienen alles, was uns widerfährt,– individuell wie kollektiv. Über eine bestimmte Grenze hinaus gibt es weder mehr Glück noch Zufall: unsere Gegner sind, wenn wir es recht bedenken, letztlich nur durch unsere eigenen Schwächen stark. Also nicht nur akzeptieren, sondern wollen, was geschieht. Das, was geschieht, wollen, wenn wir nicht verhindern können, daß es geschieht. Dies hat nichts mit Resignation zu tun, sondern ist die Aufrechterhaltung unserer Freiheit. Amor fati: die einzige Art zu handeln, wenn man nicht mehr handeln kann. Stoa:das einzig mögliche Verhalten, wenn die anderen nicht mehr möglich sind. So handeln, daß das, worauf wir keinen Einfluß haben, auch uns nichts anhaben kann (Evola).

Am Anfang war die Tat. Alle großen und starken Dinge können ihre Existenz nicht rechtfertigen, gerade darum müssen sie getan werden. (Doch ist nicht alles unbedingt groß und stark, was unmotiviert ist). Die Tat ist das Wichtigste, nicht derjenige, der sie vollbringt, der Auftrag und nicht der, der ihn ausführt. Gegen den Individualismus – für unpersönliche Tatkraft. Was man tun muß, erklärt sich nicht in Form von Motiven. Adel schweigt.

Ehre heißt, nie den Normen untreu werden, die man sich gesetzt hat. Das Bild, das man sich von sich selbst macht, wird in dem Augenblick wahr – das ist evident –, wo man ihm entspricht. Von da an ist es bedeutungslos, ob es sich um ein ›Bild‹ oder um eine ›Wirklichkeit‹ handelt; beide Begriffe gehen ineinander über. Die Idee wird Fleisch: dies ist die wirkliche Fleischwerdung des Logos. Jedes Versprechen bindet, kein Umstand entbindet. Auf sich selbst stolz sein können ist das beste Mittel, sich der anderen nicht zu schämen.

Der Stil ist der Mensch.Die Liturgie hat mehr Bedeutung als das Dogma. Die Schönheit ist nie böse. Es ist besser, Mittelmäßiges gut zu tun, als Hervorragendes abzupfuschen. Die Art, wie man Dinge tut, bedeutet mehr als die Dinge selbst. Die Art, wie man Ideen lebt, hat mehr Gewicht als die Ideen als solche. Die Art, wie man lebt, zählt mehr als das, was man erlebt – und manchmal mehr als das Leben. Zeigt man mehr Natürlichkeit als Wohlerzogenheit, ist man ein Tölpel, zeigt man mehr Wohlerzogenheit als Natürlichkeit, ist man ein Pedant; der (wirklich) wertvolle Mensch hat ebensoviel Wohlerzogenheit wie Natürlichkeit (Konfuzius).

Nietzsche: „Was ist vornehm? – Die Situationen suchen, die uns Haltung abverlangen. Das Glück den vielen überlassen, jenes Glück, das Seelenfriede, Tugend, Bequemlichkeit, angelsächsischer Merkantilismus ist. Instinktiv die schweren Verantwortungen suchen. Sich überall Feinde machen können, schlimmstenfalls sich selbst zum Feind werden.“

Seine Pflicht über seine Leidenschaften stellen; seine Leidenschaften über seine Interessen. ›Gute Handlungen‹ vollbringen, um sein Heil zu erlangen, um ins Paradies zu kommen, heißt wieder, seinen Interessen leben. Das tun, was man tun muß, nicht das, was man gern tut. Doch will dies gelernt sein: der Mensch braucht Regeln, um sich aufzubauen, – weil er unbegrenzt verformbar ist. Arbeit sei Dienst, Pflicht sei Schicksal.

Die Gegebenheiten und die Prinzipien im Leben miteinander in Einklang bringen und diese Harmonie ewig neu schaffen. So handeln, daß die Taten den Worten entsprechen. Der Mensch, dessen Worte weiter reichen als seine Taten, ist ebensowenig Herr seiner selbst wie der Mensch, dessen Taten seine Worte übertreffen. Ehrlich sein heißt nicht, die Wahrheit zu sagen. Es heißt, ganz und gar, ohne Hintergedanken zu allem stehen, was man unternimmt.

Nicht bereuen, sondern Lehren ziehen. Alle Kräfte aufbieten, um nichts Schlechtes zu tun. Wenn man es getan hat, nicht versuchen, sich zu rechtfertigen. Die Rechtfertigungen, die man für sich findet, sind alle nichts als Ausflüchte vor uns selbst. Der Reue Ziel ist es nicht, den Fehler ungeschehen zu machen, sondern uns ein gutes Gewissen zu geben. Gutes mit Gutem vergelten, Böses mit Gerechtigkeit. (Belohnte man Böses mit Gutem, womit sollte man dann Gutes vergelten, – und welchen Wert hätte es dann?)

Nie verzeihen, viel vergessen. Niemals hassen, oft verachten.Gefühle des Pöbels sind: der Haß, die Rachsucht, die Reizbarkeit, die Eitelkeit, der Geiz. Der Haß als das Gegenteil der Verachtung, die Rachsucht als das Gegenteil von Vergessen, Reizbarkeit und Eitelkeit als Gegenteil von Stolz, der Geiz als das Gegenteil von Reichtum. Unter allen diesen Gefühlen ist das Ressentiment das verachtenswerteste. Und Nietzsche sagt: „Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, dessen, der sich selbst nicht mehr verachten kann.“

Gegen den Utilitarismus. Es ist mit den Menschen wie mit den Armeen. Die Truppen, die, um sich tapfer zu schlagen, wissen müssen, wofür sie sich schlagen, sind schon mittelmäßige Truppen. Es gibt noch eine tiefere Stufe: jene, die sich nur dann schlagen, wenn sie Aussicht haben zu gewinnen. Wenn man etwas tun muß, so soll man sich erst in zweiter Linie darum kümmern, ob das Unternehmen von Erfolg gekrönt sein kann oder nicht. Der Leitsatz des Taciturnus bleibt der Schlüssel zu Dürers Stich ›Der Ritter, der Tod und der Teufel‹. Aber es genügt nicht, auch ohne die Gewißheit eines Sieges etwas zu unternehmen, man muß auch dann noch etwas unternehmen, wenn man sicher ist zu scheitern, – eben weil man sicher ist zu scheitern: weil man seine Ehre nur wahrt, indem man den sich gesetzten Normen treu bleibt. An den ›Wachtposten von Pompeji‹ denken, von dem Spengler spricht. Und auch an das Beispiel des Regulus. So wie der Gegner handeln unter dem Vorwand, daß dies dem Gegner zum Erfolg gereichte, bedeutet, dieser Gegner zu werden – und nichts anderes zu sein als er. Man erniedrigt sich, sobald man sich fragt, ›wozu etwas dient‹, ›was es uns einbringt‹, ›was uns dazu verpflichtet, etwas zu tun‹. Um jeden Preis ein Leben zu behalten, das wir in jedem Fall verlieren werden, – diese Apologie der lebendigen Hunde und der sterbenden Löwen –, ist eine rechte Absurdität.

Tugend ebenso wie Laster können nur Attribute einer Elite sein.Beides erfordert dieselbe Fähigkeit zur Selbstbeherrschung; sie haben weniger mit ›Moral‹ zu tun als mit dem bloßen Willen. Die Freiheit zu handeln geht immer Hand in Hand mit einer Freiheit dem Ziel dieser Handlung gegenüber. Anders gesagt, darf man nur die Dinge wollen, auf die man sich auch imstande fühlt zu verzichten. Julius Evola sagt: „Du darfst etwas in dem Maße tun, wie du dich auch dessen enthalten kannst (. . .) Du darfst etwas wollen – und erreichen – insofern du auch fähig bist, dich dessen zu enthalten.“

Nicht versuchen zu überzeugen: versuchen zu erwecken.Das Leben findet einen Sinn in dem, was mehr als dieses Leben ist, und nicht, was jenseits dieses Lebens liegt. Das, was mehr als das Leben ist, drückt sich nicht in Worten, nicht durch Worte aus, aber manchmal spürt man es. Die Seele über den Geist stellen, das Leben über den Verstand, das Bild über den Begriff.

Die Lyrik kann als ›Moral‹regel dienen, vorausgesetzt, man nimmt nicht die Beziehung von Mensch zu Mensch als den Hauptbezug des Daseins an, sondern den Bezug vom Menschen zum Universum. (Die einzige Art, der Welt von oben anzugehören, ist es, sich in Analogie zu ihr aufzubauen). Die großen Staatschefs sind jene, dank derer die Völker sich dichterisch erdenken können.

In der Gegenwart lebt jede Vergangenheit und schlummert jede Zukunft. Die Gegenwart im Hochgefühl der Freude des Augenblicks akzeptieren bedeutet, gleichzeitig alle Augenblicke zu genießen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind drei gleich gegenwärtige Perspektiven (Blickpunkte), die in jedem Augenblick des geschichtlichen Geschehens existieren. Endgültig mit der linearen Geschichtsvorstellung brechen. Alle unsere Handlungen bringen das schon Geschehene ebenso ins Spiel wie das, was (wieder)kommen wird.

Lebensziel: zwischen sich und den Tod etwas Bedeutendes stellen. Die Zeitepoche wie die Gesellschaft können uns daran hindern. Es gibt zwei Arten für die Gesellschaft, die Menschen irrezumachen: zuviel zu verlangen und nicht genug zu bieten. Was für manche Menschen dasselbe bedeuten kann.

Einsamkeit.In der Stellung des Polarsterns stehen können: des Sternes, der unbewegt bleibt, wenn alles um ihn herum sich dreht. Im Mittelpunkt der Bewegung ist der Friede (Jünger) – in der Achse des Rades. In sich das kultivieren, was der wertvolle Mensch in jeder Lage in sich bewahrt: das Jen des Konfuzius, das Parusha der Arier, die humanitas der Römer –  den innersten Kern des Menschen.

Es gibt nur eine echte Frömmigkeit, die des Sohnes dem Vater gegenüber und weiter den Ahnen, dem Geschlecht, dem Volk gegenüber. Jesus, der angibt, daß Joseph nicht sein wahrer Vater ist – daß er Sohn eines einzigen Gottes ist und der Bruder aller Menschen –, leitet den Prozeß der Väterverleugnung ein. Unsere verstorbenen Ahnen sind geistig weder tot noch in eine andere Welt entschwunden. Sie stehen neben uns in einer unsichtbaren, sprechenden Menge. Sie sind um uns, solange ihr Andenken durch ihre Nachkommenschaft weitergetragen wird. Dies ist der Sinn des Ahnenkultes – und der Pflicht, ihren Namen in Ehren zu halten.

Alle wertvollen Menschen sind Brüder, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit, ihres Landes, der Zeit, in der sie leben.