Filipe Carvalho

 

Europa als Idee und Zivilisation befindet sich heute in einer düsteren Zwischenphase. Es handelt sich nicht nur um eine wirtschaftliche oder geopolitische Krise, sondern um eine Tragödie metaphysischer Natur. Das 20. Jahrhundert hat uns so abgrundtiefe ideologische Gegensätze hinterlassen, daß die historische Wahrheit in der Rhetorik der Angst untergegangen ist.

Auf der einen Seite steht Richard von Coudenhove-Kalergi, der kosmopolitische Aristokrat, dessen Projekt ›Paneuropa‹ in der Zwischenkriegszeit ein idealistischer Aufschrei gegen den Nationalismus war. Seine Überlegungen zum „Menschen der Zukunft” als „Mischling” waren damals eine philosophische Prognose, elitär in ihrer Entstehung, aber ohne unmittelbare Ambitionen auf soziales Engineering.

Das Vereinigungsprojekt, obwohl aus bester Absicht entstanden, scheiterte an seiner eigenen strukturellen Inkonsistenz. Was als politische Föderation von Subjekten versprochen wurde, wurde zu einem Regulierungskomplex, der von technokratischen Objekten verwaltet wurde.

Die ›Paneuropäische Bewegung‹ ist historisch gesehen die älteste und beständigste Organisation, die sich für die europäische Einigung einsetzt. Sie wurde 1923 von Graf Richard von Coudenhove-Kalergi konzipiert und gegründet, einem österreichisch-japanischen Visionär, der sein Leben der Umwandlung des damals zersplitterten und kriegführenden Europas in ein Projekt des Friedens und der politischen Kohäsion widmete.

In seinem Buch ›Praktischer Idealismus‹ (1925) stellte Kalergi eine soziologische und philosophische Prognose über die Zukunft der Menschheit auf, in der er davon ausging, dass es aufgrund der Überwindung von Vorurteilen und der Mobilität zu einer natürlichen Vermischung der Völker kommen würde.

Er war der Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten (Heinrich) und einer japanischen Mutter (Mitsuko Aoyama). Er wuchs in wohlhabenden Verhältnissen in einem Umfeld auf, das verschiedene Kontinente, Kulturen und Religionen (Katholizismus, Buddhismus, Judentum) umfaßte.

Für Kalergi war seine eigene Herkunft kein „Fluch”, sondern ein Vorteil. Er sah die Vermischung der Rassen als etwas, das Menschen hervorbrachte, die reicher, offener und freier waren als die starren rassischen Identitäten seiner Zeit. Seine Vorhersage der „eurasisch-negroiden Rasse” war eine utopische Vision einer Zukunft, in der rassische Unterschiede irrelevant sein würden und die Menschheit vereint sein würde.

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Es ist jedoch gerade im Bereich der Rassenmischung, daß Kalergis Schatten in unserer turbulenten Gegenwart am dichtesten wird. Die Rassenmischung, die Kalergi als historisches Schicksal betrachtete, wird heute als rhetorische Waffe gegen die von ihm so sehr gewünschte Integration eingesetzt.

Die heutigen Staats- und Regierungschefs, gefangen in der Tyrannei des Konsenses, sind Geiseln der Verwaltung des Augenblicks geworden und ziehen die Vorsicht des kleinsten gemeinsamen Nenners dem Mut einer strategischen Vision vor. Der Staatsmann, einst Architekt der Geschichte, wurde durch den Krisenmanager ersetzt, der sich durch Reaktivität und niemals durch Initiative auszeichnet.

Dieses Fehlen eines starken und einigenden politischen Willens hat eine Sinnlücke geschaffen. Die europäischen Bürger, hilflos angesichts der Langsamkeit und Ineffizienz, erlebten das Nietzsche’sche Gefühl, daß die Werte, die die Union begründet hatte, tot sind. Und in diesem Vakuum emotionaler Legitimität blühte die Angst vor dem Anderen auf, denn die Idee des „Wir” selbst verschwand.

Die Einwanderungskrise kann weniger als logistisches Versagen, sondern vielmehr als Paradigma für die Krise der Souveränität und Identität betrachtet werden. Das kosmopolitische Ideal, das der Pionier der Vereinigung vor Augen hatte – er selbst sagte voraus, daß „der Mensch der Zukunft gemischter Abstammung sein wird“ –, hat sich nicht in einer Gesellschaft verwirklicht, die fähig ist, diesen Menschen zu akzeptieren.

Man könnte argumentieren, daß diese Vision paradoxerweise elitär war. Obwohl er die Rassenmischung befürwortete, sah Kalergi (der aristokratische Wurzeln hatte und in einem Lebensumfeld lebte, das über den Grenzen und den übrigen sozialen Klassen stand) in diesem „neuen Adel” ein Produkt der Vereinigung intellektueller und spiritueller Eliten, was ihn von einer einfachen „Mischung der Massen” unterschied.

Sein zentraler Fehler war die Illusion einer unkontrollierten Kontrolle. Als sich der Nationalstaat, die letzte Bastion erkennbarer Identität, als unfähig erwies, die ontologische Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten (die Kontrolle darüber, wer ein- und ausreist), brach Angst aus. Die Einwanderung, die zur Bekämpfung des realen Bevölkerungsrückgangs notwendig schien, wurde somit als Vollstreckung eines historischen Urteils und nicht als pragmatische Lösung interpretiert.

Die europäische Tragödie war letztendlich die Fragmentierung des Subjekts. Das Ideal eines neuen „europäischen Menschen” – frei von Nationalismen – wurde nicht verwirklicht, und was übrig blieb, war ein isoliertes Individuum, ohne den Schutz der traditionellen politischen Gemeinschaft, den Marktkräften ausgeliefert.

An diesem Bruchpunkt erhoben sich die Stimmen des identitären Ressentiments, ausgedrückt von Denkern wie (unter anderem) Ernesto Milá. Seine Vision akzeptierte die Auflösung des „Wir” in der Abstraktion des Kosmopolitismus nicht; im Gegenteil, er bekräftigte den Vorrang der tellurischen Identität, verbunden mit dem Boden, der Geschichte und der Vererbung.

Eine Generation später trat Ernesto Milá Rodriguez (geb. 1952 in Barcelona) auf den Plan, ein Journalist und Schriftsteller, der die Kehrseite der Medaille repräsentierte und den Idealismus Kalergis wieder aufgriff und ihm entgegenstellte. Während es dem Aristokraten nicht gelang, den Frieden zu mobilisieren, triumphierte Milá darin, ihn unter seinem Blickwinkel zu verbreiten und zu festigen, indem er ihn als „Kalergi-Plan” bezeichnete; ein rhetorischer Kunstgriff, der die Einwanderung und die europäische Integration als Umsetzung eines geheimen Plans zur Vernichtung der nationalen Identität darstellt.

Während das paneuropäische Ideal die Zukunft in einer gemischten und freien Menschheit sah, kehrte der antikosmopolitische Diskurs diese Sichtweise um: Die Vermischung der Völker wurde nicht als Bereicherung, sondern als Verwässerung und Vernichtung angesehen. Sein zentrales Argument war, daß die Förderung einer „gemischten Rasse” keine soziologische Prognose sei, sondern ein perverser Plan der Eliten, um die europäische Vielfalt auszurotten.

Für diese Denkrichtung war die Migrationskrise kein Problem des Versagens der Politik, sondern der eindeutige Beweis für den „Verrat der Eliten”, die bewußt den ethnischen und kulturellen Zusammenhalt Europas zerstörten. Die Kritik von Milá und seinen Anhängern, die die Schwäche Europas instrumentalisierten, diente als Spiegelbild des Kosmopolitismus und beschuldigte das Ideal der Vereinigung, eine „negative Eugenik” zu sein, die sich gegen die einheimische Bevölkerung richte.

In Werken wie El Libro Negro de la Inmigración (Das schwarze Buch der Einwanderung) bietet Ernesto Milá eine verschwörerische Erklärung dafür, daß die Masseneinwanderung nicht nur ein marktwirtschaftliches oder geopolitisches Phänomen ist, sondern auch die Umsetzung eines machiavellistischen Plans zur „Ersetzung” der europäischen Bevölkerung.

 

Quelle: http://filipecarvalhotextos.blogspot.com/2025/11/do-idealismo-inconsequente-mobilizacao.html

Yukio Mishima und der Selbstmord Europas