Moshe Zuckermann

Anmerkungen zum historisch-politisch-kulturellen Zusammenhang von Zionismus und Kolonialismus.

 

Im Krieg Israels gegen die Hamas, der vorerst durch ein Waffenstillstandsabkommen (wenn man ihn so nennen darf) beendet worden ist, manifestierte sich nicht nur eine monströs eskalierende Rache-, Vergeltungs- und Vernichtungspraxis der israelischen Politik und Armee, sondern es tauchten in ihm, zumindest zeitweilig, auch enthusiasmierte Parolen dessen auf, was man den ›israelischen Kolonialismus‹ zu nennen pflegt.

Es seien hier einige historische und ideologische Zusammenhänge erörtert, die diesen problematischen Begriff beleuchten und einordnen. Man hat sich in Israel während des Gazakriegs über die palästinensische Parole „From the River to the Sea Palestine will be Free” echauffiert. Auch im Hinblick darauf bietet sich der folgende Text an, der bereits im Jahr 2022, also noch vor dem 7. Oktober und dem dann folgenden Gazakrieg, publiziert wurde.

Als Theodor Herzl nach dem ersten Zionistischen Kongreß (1897) in sein Tagebuch schrieb, in Basel habe er den Judenstaat gegründet, enthielt sein Diktum bereits, wohl ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre, die Verschwisterung von Zionismus und Kolonialismus. Denn seine Worte besagten nichts anderes, als daß er in Europa die künftige Gründung eines Judenstaates auf einem Territorium im Nahen Osten initiiert habe, welches noch gar nicht im Besitz seiner künftigen Bürger war, und daß das Kollektiv, das dieses anvisierte Staatsterritorium als Bürger bevölkern sollte, noch gar nicht als eine homogene, zionistisch gesinnte soziale Gemeinschaft bestand, geschweige denn, zu Herzls visionärem Vorhaben befragt worden wäre. Entsprechend fügte Herzl hinzu: „Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten“, aber in fünfzig Jahren werde es jeder einsehen.

Nun, nach fünfzig Jahren ist der Staat Israel in der Tat errichtet worden, aber wahrhaft nicht jeder hat dies eingesehen bzw. goutiert. Denn was die zionistischen Juden in den Jahrzehnten der sogenannten „prästaatlichen Ära“ (Jischuv) betrieben, basierte auf einem der zentralen Ideologeme des Zionismus, demzufolge ein Volk ohne Land in ein Land ohne Volk einziehe – was eine grandiose Lüge war.

Die Zionisten mochten sich noch so sehr auf das Postulat berufen, sie kehrten nach langem Exil in das Land der Urväter, das des biblischen Judentums, zurück, aber in diesem Land lebte damals schon seit Jahrhunderten eine arabische Bevölkerung, die sich zwar noch nicht als palästinensisches Volk mit nationalen Interessen konsolidiert hatte, aber realiter das Territorium bevölkerte und zum Teil auch besaß. Entsprechend mußte das Land, das man sich als das des Judenstaates erkoren hatte, kolonisiert werden.

Das bedeutete zunächst: Juden aus den (fast ausschließlich europäischen) Exilgemeinschaften in Palästina zu versammeln, um – so wörtlich – „das Land zu erobern“ (kibusch ha’aretz). Gemeint war damit damals nicht die militärische Eroberung – Palästina wurde vom britischen Mandat beherrscht –, sondern die expansive Landnahme, die teilweise legal über Landkauf abgewickelt wurde, aber wenn nötig, auch durch Errichtung von Siedlungen, die den künftigen Herrschaftsbereich der Zionisten markieren sollten. So geschehen zwischen 1936-39 im Rahmen der kolonisierenden Ausbreitungsaktivität von choma u’migdal (Mauer und Turm), als innerhalb von knapp vier Jahren mehr als 50 Siedlungen heimlich, im Wortsinne „über Nacht“ errichtet wurden.

Das will wohlverstanden sein: Die zionistische Territorial- und Besiedlungsexpansion war kein Kolonialismus im klassischen Sinne. Es gab kein „Mutterland“, das Gebiete in Übersee militärisch erobert hätte, um das eigene Imperium zu erweitern und seine wirtschaftlichen Kapazitäten zu vergrößern. Entsprechend gab es in dieser frühen Phase auch keinen Kolonialherrn, der eine autochthone Bevölkerung im eroberten Kolonialbereich beherrscht hätte.

Das Kolonisierende am Zionismus basierte auf dem aus sich selbst generierten Postulat, durch Emigranten aus Europa ein Territorium zu besiedeln, das völkerrechtlich mitnichten den Eindringlingen gehörte, obgleich sie meinten, einen der Bibel und der Bibelzeit entstammenden Anspruch darauf erheben zu dürfen. Das Paradoxe war, daß die Zionisten dabei die britischen Kolonialherren bekämpften und sich in diesem Kampf teilweise mit den Palästinensern eins wußten.

So sang man in der exponiertesten Kolonialmacht Großbritannien bereits im 18. und mit noch größerer Emphase im sogenannten imperialen 19. Jahrhundert das vor patriotischer Euphorie nur so strotzende „Rule, Britannia“, welches vielen Briten als ihre inoffizielle Nationalhymne gilt: „When Britain first, at heaven’s command, / Arose from out the azure main, / This was the charter of the land, / And Guardian Angels sang this strain: // The nations not so blest as thee / Must, in their turn, to tyrants fall, / While thou shalt flourish great and free: / The dread and envy of them all. // Rule, Britannia! Britannia, rule the waves! / Britons never, never, never shall be slaves. […]“

Der Aufstieg Britanniens zur Kolonialmacht wird einem „himmlischen Gebot“ affiliiert und von „Engelsgesang“ begleitet; und da das Imperium „mächtig und frei blüht“, wird es zum Gegenstand von „Furcht und Neid“ anderer Nationen. Daher auch der nachgerade jingoistische, also ultranationalistische Aufruf: „Herrsche Britannien! Beherrsche die Meere“.

Der koloniale Zionismus läßt sich besonders deutlich anhand des Liedes „Nivne artzenu, eretz moledet“, das Ende der 1920er Jahren von Moshe Bik auf Jiddisch geschrieben und vertont und etwa ein Jahrzehnt später von Avraham Levinson ins Hebräische übersetzt wurde. Es errang sowohl wegen seines patriotischen Texts und seiner marschartigen Vertonung eine Sonderstellung im hebräischen Gesang der Jischuv-Zeit, das als eines der herausragenden nationalen Hymnen stets bei festlichen Anlässen ertönte: „Laßt uns unser Land, unser Heimatland erbauen, / Denn uns, nur uns gehört dies Land. / Laßt uns unser Land, unser Heimatland erbauen, / Es ist das Gebot unseres Blutes, Gebot der Generationen. / Laßt uns unser Land erbauen trotz unserer Zerstörer / Laßt uns unser Land erbauen kraft unseres Willens […]“.

In dieser zionistischen Kolonialhymne muß das Land erste erbaut werden, aber der Anspruch darauf ist bereits klar artikuliert, und zwar so exklusiv, wie es nur geht. Im Gegensatz zum britischen Lied und trotz der langen Exilzeit wird hier eine uralte über Generationen und kraft der biologischen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk gefestigte historische Kontinuität suggeriert.

Das kolonisierende Projekt, zu dem aufgerufen wird, kann allen Feinden trotzen, wenn nur der Wille dazu da ist. Die Kategorie des Willens ist bekanntlich schon bei Herzl zur Parole geronnen: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“

Aber nicht nur der britische Kolonialismus durfte sich besagten himmlischen Segens gewiß sein. Der zionistische Kolonialismus sparte zwar anfangs die dezidiert religiöse Selbstvergewisserung aus, aber es war kein Zufall, daß Palästina (= Eretz Israel) zum Territorium der Errichtung des Judenstaates und Hebräisch zur Nationalsprache erkoren wurden.

Die religiöse Dimension gelangte erst nach dem Sieg der israelischen Armee im 1967er Krieg und der Eroberung der palästinensisch bevölkerten Gebiete, allen voran des Westjordanlands, zur vollen Blüte. Nun durfte das nationalreligiöse Judentum, welches die „Versöhnung“ von Zionismus und Messianismus vollzogen hatte, sich in seiner Doktrin bestätigt sehen: Man war in das „Land der Urväter“ zurückgekehrt, welches nicht mehr zur politisch verhandelbaren Disposition stand, sondern im Gegenteil als gottverheißenes Land jüdisch besiedelt werden mußte.

In welche katastrophale Sackgasse das damals einsetzende Kolonisierungswerk den Nahostkonflikt jahrzehntelang führte, mithin die den Palästinensern zugefügte Barbarei intensivierte und verfestigte, dürfte allseits bekannt sein.

Die religiös getönte Kolonialideologie des zionistischen Staates zeitigte viele Lieder, literarische und andere kulturelle Erzeugnisse. Als besonders beredt sei hier das 1967 – vor dem Krieg! – von Naomi Schemer geschriebene Lied „Jeruschalajim schel sahav“ (Jerusalem aus Gold) angeführt.

Jerusalem war bis zum Krieg eine geteilte Stadt, deren Altstadt Juden unzugänglich war. Und so heißt es in einer Strophe des Liedes: „Die Brunnen sind leer von Wasser, / Der Marktplatz wie ausgestorben, / Der Tempelberg dunkel und verlassen / Dort in der Altstadt.“ Der pathoserfüllte Refrain lautet: „Jerusalem aus Gold, aus Bronze und aus Licht, siehe, ich bin eine Laute für all Deine Lieder.“

Erwähnt sei, daß nach der blutigen Eroberung der Altstadt israelische Soldaten den Refrain umdichteten: „Jerusalem von Stahl, Eisen und Finsternis, / Durch Deine Mauern haben wir dich befreit, / Die Soldaten rannten hinein in Blut und Rauch, / Und nach dem Tod kam die Trauer“. Das hielt sich allerdings nur kurz in jenem dramatischen Moment des Krieges; der von Schemer gedichtete Refraintext wurde beibehalten. Aber Schemer selbst trug dem israelischen Sieg euphorisch Rechnung. Sie fügte im Nachhinein eine Strophe hinzu: „Die Brunnen sind wieder mit Wasser gefüllt, / Der Platz mit einer freudigen Menge, / Vom Tempelberg ertönt über die Stadt / Laut der Schofar„.

Kann man verlogener sein? Kann man die Realität perfider entstellen? Die Brunnen waren nicht leer vor dem 1967er Krieg, der Marktplatz war nicht wie ausgestorben, sondern damals schon mit einer freudigen Menge, nur eben einer palästinensischen Menge gefüllt. Und daß vom Tempelberg der Schofar laut ertönt, ist kein Anlaß zur jüdischen Hegemonialerregung, sondern Grund zur Befürchtung, daß gewalttätige Empörungen ausbrechen könnten – von Juden bewußt provoziert und von israelischen Sicherheitskräften (zumeist mit palästinensischen Verletzten) rigoros gedrosselt.

Der Zionismus kannte zwar keinen Kolonialismus im klassischen Sinne, aber Dünkel und Sitten kolonialer Herrschaft haben seine israelischen Sachwalter eifrig erlernt.

Quelle: https://overton-magazin.de/top-story/nur-uns-gehoert-das-land/
Beitragsbild: Jüdische Pioniere am 1. Juni 1910. Bildquelle: GPO/public domain

Heilige Legitimation für unheilige Politik?