Die Volkskundler Anatole Le Braz, Arnold Van Gennep und Bernard Rio berichten in ihren verschiedenen Werken über den Glauben an den Tod, der in der Bretagne vor dem Zweiten Weltkrieg noch sehr lebendig war.
Nach diesem Glauben ist das irdische Leben nur ein Übergang zwischen einem früheren und einem späteren ewigen Leben. Die daraus resultierende Konsequenz ist eine nicht vorhandene Trennung zwischen Toten und Lebenden, die in zwei unergründlichen, aber ähnlich organisierten „Gesellschaften“ nebeneinander leben.
Die Mitglieder der als „Anaon“ bezeichneten „Gesellschaft der Toten“ bewohnen den Friedhof und sind auch tatsächlich dort anzutreffen. Sie behalten ihren Charakter, ihre Sympathien und Abneigungen gegenüber anderen Toten wie auch gegenüber den Lebenden, denen sie je nach ihrer Liebe oder ihrem Hass helfen oder sie belästigen. Sie öffnen ihre Augen um Mitternacht und können in ihre Dörfer zurückkehren, um ihre Häuser zu sehen und ihre Familien zu beobachten, aber nicht, um sie zu erschrecken oder etwas von ihnen zu verlangen – der Gedanke an eine zu sühnende Schuld ist hier in der Vision des Jenseits gänzlich unbekannt.
Die im ›Anaon‹ versammelten Seelen kommen dreimal im Jahr zusammen: am Weihnachtsabend, am Johannistag, der mit der Sommersonnenwende zusammenfällt, und am Abend von Allerheiligen, der mit Samain, dem Fest der Toten in der alten keltischen Tradition, zusammenfällt.
Genau über diese Tradition berichtet Bernard Rio in der Neuauflage seines Buches ›Les Bretons et la mort. Rites, croyances et traditions‹. Für ihn erwähnen die „griechischen und lateinischen Quellen eine besondere Beziehung der Bretonen zum Jenseits“, die sie von anderen Völkern Kontinentaleuropas unterscheidet. Anknüpfend an die Arbeit von Anatole Le Braz entwickelt er die Idee weiter, daß die Bretonen ein einzigartiges Verhältnis zum Tod haben:
Der Tod macht ihnen keine Angst. Oder ich sollte sagen, der Tod hat ihnen keine Angst gemacht, weil sich ihre Mentalität weiterentwickelt hat.
Für den Autor ist die besondere Beziehung der Bretonen zum Tod so einzigartig, daß sie den Tod nicht fürchten und manchmal sogar dazu neigen, ihrem Leben leichter ein Ende zu setzen als andere Europäer. Diese Tendenz wird insbesondere durch die Zahlen des INSEE (Das Nationale Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) gestützt, die zeigen, daß die Bretagne die Region in Frankreich ist, in der die meisten Menschen Selbstmord begehen.
Dieses Verhältnis zum Tod erklärt auch die Schwierigkeiten der katholischen Kirche, die Bretagne zu einem fruchtbaren Missionsland zu machen. Obwohl die Kirche in dieser Region tatsächlich Wurzeln geschlagen hat, mußte sie sich allerdings mit den bretonischen Bestattungsriten auseinandersetzen. Daher integrierte sie widerwillig nichtchristliche Praktiken wie die außerhalb der Friedhöfe verstreuten „Erinnerungsgräber“ oder den Gebrauch des „Mell Beniget“, des „gesegneten Hammers”, der symbolisch dazu diente, die Seele des Verstorbenen zu befreien. Der „Hammer” wurde auf die Fontanelle gelegt, die sich auf der Mittellinie des Schädels befindet, wo verschiedene Knochen aufeinandertreffen, um den Körper symbolisch zu öffnen und die Seele zu befreien, damit sie gehen kann:
Im gesamten Blavet-Tal haben wir diesen gesegneten Hammer, der in den Kapellen gelagert wurde.Und wenn es eine Person gab, die im Sterben lag, wurde der Dorfweise von der Familie kontaktiert, um den „Mell Beniget” auf den Scheitel des Sterbenden zu legen.[…] es ist sowohl in den Volkstraditionen als auch in der Kunstgeschichte bekannt, da es ein wunderschönes Fresko gibt, das den Tod des Heiligen Méen in der Abtei von Saint Méen le Grand in Ille-et-Vilaine darstellt, wo man den Heiligen mit der Seele, die durch die Fontanelle entweicht, darstellt.
Die Praxis des „Mell Beniget” wirft ein bezeichnendes Licht auf einen weiteren bretonischen Volksglauben: Für sie existierte die Seele bereits vor dem Körper und wurde neun Monate vor der Geburt, d. h. ab der Empfängnis, in den Körper integriert :
Wir werden das in der irischen Mythologie oder im Zyklus von Fintan zum Beispiel finden, diesem mythischen Helden Irlands, dessen Seele den Körper von der Empfängnis an integriert. Dasselbe haben wir bei der Geburt Merlins, der von einer Jungfrau und einem Inkubus gezeugt wird.
Für Bernard Rio finden sich die Spuren dieser Beziehung der Bretonen zum Tod und des Volksglaubens an die „Gesellschaft der Toten” in verschiedenen Zeugnissen im Laufe der Jahrhunderte: Von einer Erwähnung bei Prokopios von Caesarea über einen Artikel in der Zeitung ›Le Télégramme‹ über eine weiße Dame, die auf der Seite von Landévennec gesichtet wurde, bis hin zum Zeugnis von Anatole Le Braz über den Untergang des Schiffes ›La Gorgone‹ Ende des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Belege für diese Glaubensvorstellungen. Manche sind beeindruckender als andere: Der Autor berichtet unter anderem von einer wilden Jagd, die 1914 in den Monts d’Arrée im Armorikanischen Massiv auftauchte und den bevorstehenden Weltkrieg ankündigte. Er erwähnt auch das Beispiel eines kollektiven Phänomens :
In den 1930er Jahren sahen mehrere Dutzend Menschen in der Nähe von Malestroit im Departement Morbihan ein brennendes Schloß.Nur, daß das Schloß gar nicht existierte… Es gab eine Art kollektive Halluzination.Der Pfarrer dieser Gemeinde berichtete über das Phänomen im Pfarrblatt und erklärte: „Mehrere Gemeindemitglieder sind zu mir gekommen, um mir mitzuteilen, daß sie an dieser oder jener Stelle ein brennendes Schloß gesehen haben.“ […]
Gut zehn Jahre später, im Frühjahr 1944, baute ein Industrieller an derselben Stelle ein Schloß. Das Schloß wurde jedoch von den deutschen Truppen (wegen Partisanen) niedergebrannt. Es handelt sich hier also nicht um einen einfachen Glauben: Es ist ein berichtetes, datiertes und lokalisiertes Phänomen.Das Pfarrblatt berichtet 1930 darüber.Und gut ein Jahrzehnt später trat das Phänomen auf.
In seinem Buch bezeugt Bernard Rio also, daß in der Bretagne der Glaube an den ›Anaon‹ fortbesteht: das Volk der Seelen der Verstorbenen, die frei unter den Lebenden wandeln und in der Nacht von Allerheiligen und Johanni mit ihnen in Kontakt treten. Ein noch immer lebendiger Glaube, der von der einzigartigen Beziehung der Bretonen zum Tod und zu den Toten zeugt.
Quelle: https://institut-iliade.com/lanaon-ou-le-domaine-des-morts-chez-les-bretons/
Anmerkung:
Die Aussagen von Bernard Rio, auf die wir uns hier beziehen, stammen aus einem
Interview mit TVL am 8. Oktober 2024.