Wilhlem Kusserow

 

Abstandsgefühl (Distanz)

Zu den Grundeigenschaften des nordischen Menschen gehört die Fähigkeit, den inneren Abstand zum andern Menschen zu wahren. Dies will recht verstanden sein, damit es nicht mit Hochmut verwechselt wird. Es gibt Menschen, die versuchen, sich beim andern „lieb Kind“ zu machen, indem sie schnell auf ihn eingehen, zu ihm auch mal ›ja‹ sagen, wo sie es nicht so meinen, ihm ein Stück zu nahe zu kommen, wo es nicht erwünscht ist, sich durch Gefälligkeiten beliebt zu machen oder übergroßes Lob zu spenden, wo Zurückhaltung am Platze wäre. Kurz und gut: diese Menschen rücken dem andern „zu dicht auf den Leib“, wie der Volksmund sagt, und wirken dadurch zudringlich und gewöhnlich, zu liebenswürdig oder gar schmeichlerisch-unwahr. Dies nennt man Abstandslosigkeit.

Der berühmte Dichter und Philosoph Friedrich Nietzsche nennt dies „Distanzlosigkeit“ und sagt, sie sei das Zeichen eines innerlich unvornehmen Menschen. Er meint damit, daß der wahrhaft innerlich Vornehme Gefühl und Wesen des andern zu sehr achtet, um ihm, ohne dazu angerufen zu werden, näher zu treten. Vor allem mischt man sich nicht in die Angelegenheiten des andern ein, man wahrt Zurückhaltung, ohne kalt zu sein. Daher wirken freilich solche Menschen nicht nur häufig kühl, sondern auch abweisend und hochmütig. Dies jedoch nur bei Menschen, die selbst kein Gefühl für Abstand besitzen. Der echte Mensch unserer Art ist zwar nicht kaltherzig, aber er zeigt Reserve, einmal, um den andern zu prüfen, und zum andern, um sich selbst vor unerwünschtem Eindringen in eigene innere Bezirke zu bewahren.

Auch im Falle des Leides anderer Menschen zieht er sich nicht aus Gefühllosigkeit zurück, sondern in der Annahme, daß es dem andern peinlich sei, seinen Schmerz zu zeigen und daraufhin angesprochen zu werden.

In dem bedeutendsten Werke des deutschen Mittelalters, dem ›Parzival‹ von Wolfram von Eschenbach, gibt es ein Kapitel, wo dieses uns angeborene Distanzgefühl vor fremdem Leid zu großer Tragik führt.

Reiter von Valsgärde, Gemälde von Wilhelm Petersen

Der junge Parzival, ein Königskind, das in die Welt hinaus zieht, um die Ritterschaft zu erlernen, kommt eines Tages zu einer Burg. Er wird nach dem Empfang in einen Saal geführt, wo ein alter vornehmer Mann, offenbar ein König oder ein anderer hoher Herr, auf einer Bahre liegt und aus einer furchtbaren Speerwunde, die eitert und blutet, sichtlich an ihr leidet. Der junge Ritter ist eingedenk der Mahnung seiner Mutter, nicht zuviel zu fragen – wie die Kinder es tun –, und er kann auch sein eigenes Abstandsgefühl, das ihm Schweigen und Zurückhaltung gebietet, angesichts dieses Leidens nicht überwinden. Da er keine Worte findet, geht der Kranke ungetröstet aus dem Saale, und Parzival muß die Burg verlassen, die von Seufzern und Klagen widerhallt.

Viel später erfährt er, daß dieser alte vornehme Mann der Gralskönig ›Amfortas‹ ist, den er durch eine mitfühlende Frage hatte erlösen können. Ein ganzes Leben muß er nun wandern, sich in Schuld verstricken, töten und Liebesunrecht begehen, bis er endlich am Ende seines Lebens, geläutert und gereinigt durch sein immerwährendes Bemühen, gut zu machen, und durch seine Erfahrung des leidvollen Wesens der Welt, zur Gralsburg zurückfindet und dem König Erlösung von seinem Leiden bringt.

Wenn auch die Begründung für den Irrgang des ›Parzival‹ für unser Gefühl nicht ausreicht, da sie auf christ-katholischer Ebene liegt, zeigt die Szene doch deutlich, wie das Abstandsgefühl des nordischen Menschen wirkt. Es wird hier – vom Christlichen aus – verworfen, aber es ist doch ein Wert, der innerlich zu achten ist, wenn er hier auch das heilende Wunder nicht bewirkt.

Achtsamkeit – Rücksichtnahme

In den Beziehungen der Volksgefährten untereinander ist der Mensch unserer Art rücksichtsvoll und achtsam. Da er den Persönlichkeitswert des Anderen hoch einschätzt, tritt er ihm nicht nur nicht zu nahe, sondern vermeidet es auch, ihn in seinen Gefühlen zu kränken. Er achtet darauf, in welcher Lage sich das Gegenüber befindet, und richtet sich in Haltung und Wortgebrauch danach ein. Dies nennen wir achtsam. Wer solche Haltung von sich aus zwanglos darstellt und natürlich verkörpert, braucht darüber keine Belehrung. Es gibt aber auch Naturen, die übersprudelnd und naiv dazu neigen, unbedacht Dinge zu äußern oder Vorstellungen auszusprechen und Meinungen zu vertreten, welche den Andern verletzen können, ohne daß eine böse Absicht damit verbunden war. Diese müssen – schon recht früh, also in Kindheit und Jugend – daraufhin erzogen werden, sich nicht allzu frei und ohne Rücksicht auf mögliche innere Folgen zu äußern und ihr Verhalten den Geboten der Rücksichtnahme anzupassen. Dies mag nicht leicht sein. Es setzt auch eine Grenze dem unbefangen-natürlichen Triebe, sich jederzeit freimütig auszusprechen und seine eigene Meinung achtlos zu vertreten.

Jedoch soll diese Mahnung nicht bedeuten, daß man sich nicht frei in sachlichen Fragen oder in weltanschaulichen Problemen äußern darf. Achtsamkeit und Rücksichtnahme sind meist dann geboten, wo der Andere persönlich in seinen Empfindungen an der Grenze seiner inneren Festigkeit berührt werden kann. Daher sollte jeder Gesprächsteilnehmer das Gefühl dafür aufbringen, nur Dinge zu behandeln, die allgemein ohne Verletzung anderer erörtert werden können. Man nennt das Gefühl für solche Lagen und die persönlichen Empfindlichkeiten von Menschen auch Taktgefühl. Jedoch bezieht sich dieses nicht nur auf Dinge der äußeren Sitte und des gesellschaftlichen Umganges, sondern ebensosehr auf die Wahrung der inneren Gefühle des anderen Menschen.

Theodor Storm, Bildquelle: Metapedia

Ein Dichter, der uns seinem heidnischen Wesen nach sehr nahe steht, Theodor Storm, hat das Verhältnis von Rücksichtnahme und Rücksichtslosigkeit in einem Spruche treffend – und sehr nordisch – gekennzeichnet:

Blüte edelsten Gemütes ist die Rücksicht,
Doch zu Zeiten sind erfrischend wie Gewitter Goldne Rücksichtslosigkeiten.

Dieser Ausspruch und die innewohnende Mahnung bezieht sich natürlich auf normale, gesunde, verantwortungsfähige Menschen, die einmal die „Wahrheit“, wie sie ein anderer ausspricht, vertragen können. Sie soll der muffigen Atmosphäre bürgerlichen Verschweigens von unangenehmen Dingen einen Stoß versetzen, und Storm war der rechte Mann dafür, der selbst von feinster Gemütsart war und von inniger Rücksichtnahme im persönlichen Bereich, etwas Derartiges sagen zu können. Denn hier, auf dem Gebiete der sittlichen und weltanschaulichen Klärung, ist äußerste Deutlichkeit und Eindeutigkeit Gebot und Gesetz. Die geistigen Probleme unserer Zeit können nur in voller Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit „bewältigt“ werden, auch wenn es vielen interessierten Kreisen von links und rechts nicht gefällt, daß ihre Tabus (die zimperlichen Unberührbarkeiten ihrer Programme) verworfen, durchlöchert und unwirksam gemacht werden. Mit „Links“ oder „Rechts“ meinen wir hier keine politischen Parteien oder Gruppen, sondern weltanschaulich bestimmte Haltungen und Programme zwischen konservativ-reaktionär und fortschrittlich-illusionshaft.

Ehrliche und „totale“ Aussprache haben nur diejenigen zu scheuen, welche ihre wahren Ziele (z. B. die anarchistische Diktatur) nicht offen bekennen können und wollen, weil sie ihre Entlarvung zu diesem Zeitpunkt fürchten. Jede ehrliche Weltanschauung aber muß sich der allgemeinen, offenen, demokratischen Erörterung stellen, sonst ist sie unwahr und verlogen.

Verschwiegenheit

Zu den großen Eigenschaften des vollbürtigen Menschen, nämlich dessen, der sich jederzeit seiner Verantwortung vor anderen und für andere bewußt ist, gehört die Fähigkeit, zur rechten Zeit schweigen zu können. Alle noch in Ordnung befindlichen Völker der Frühzeit (und einige noch heute) waren wortkarg. Sie überlegten sich, was sie sagten und ob sie es sagen sollten. Sie prüften die Notwendigkeit zu reden oder zu schweigen, und sie entschieden sich Heber dafür, wenig Worte zu machen, als zu viel zu sagen.

Heute gilt das als ein Zeichen von Verklemmtheit, wenn ein junger Mensch nicht plappert, das heißt, naiv seine „kluge“ Meinung überall äußert in der Annahme, daß das, was er sagt, unendlich bedeutungsvoll sei und unbedingt notwendig für die „Diskussion“ der Angelegenheit. In früheren Zeiten schwieg die Jugend, wenn erfahrene Menschen sprachen und ihre Gedanken darlegten. Heute werden alle Lebensfragen, auch die Lebenswerte, zerredet, und wenn genug darüber geredet zu sein scheint, wird abgestimmt. Man hält das für sonderlich demokratisch und macht so der Masse, die gern schwätzt, eine Konzession, damit diese sich wohlfühlt und auch als „gleichberechtigt“ erscheint. Wir brauchen im Zusammenhang der Erörterung echter Werte solche Zugeständnisse nicht zu machen. Der freie Mann kann und soll reden, wo er es für richtig und notwendig hält. Er hat bei uns das größte Feld echter Aussprache, nämlich der Gelegenheit, eine begründete andere Meinung zu hören. Dies ist unter Freien und „Gleichberechtigten“ möglich und förderlich, unter Schwätzern führt es nur zu unendlichem Breittreten von Gemeinplätzen, die nur dem Törichten nicht klar geworden sind. Wer Gelegenheit hat, junge Menschen zu beobachten, die alle Stufen von Intelligenz umfassen, wird die Erfahrung machen, daß es selten die Klugen sind, die viel reden.

 

Gemälde von Wilhelm Petersen

Der Geltungsbedürftige, der Wichtigtuer und der Propagandist irgendeiner Ideologie redet unaufhörlich. Der wahrhaft Kluge spricht wenig oder schweigt. Für Schweigen-Können sind bekannt die Nordvölker, die Indianer und die Japaner. Bei ihnen hat dann aber auch das wohlgesprochene, das heißt überlegte und gut formulierte Wort eine besondere Bedeutung, es wird als „bedeutend“ beachtet und gewürdigt.

Das schönste und treffendste Beispiel hierfür ist im Schrifttum die isländische Saga, welche in bannender Wortkargheit alles wiedergibt und zurückspiegelt, was im Herzen, in der Seele und im Denken des anderen vor sich geht – mit einem geringsten Aufwand an Worten und an zergliedernder Seelenkunde (Psychologie). Das Gegenbild dieser vornehmen Zurückhaltung der Darstellung ist z. B. Thomas Mann in seiner Geschwätzigkeit und Ausgesponnenheit von Worten, Gedanken und Szenen. Die moderne Literatur ist durch eine maßlose Geschwätzigkeit auf Gebieten gekennzeichnet, wo man weit besser schweigen und mit zartestem Wort und mindester Andeutung das darstellen sollte, worüber man am liebsten ganz schweigen möchte. Wortkargheit grenzt an vornehme und berechtigte Scham, verschwenderischer Wortreichtum und südliche Plapperhaftigkeit deutet für uns den Ausdruck einer andersartigen und fremden Seelenverfassung.

Nun sei zum eigentlichen Begriff der Verschwiegenheit noch ein Wort gesagt. Eigene Geheimnisse zu behüten und fremde, einem anvertraute Geheimnisse zu bewahren, ist Pflicht jedes nach Vornehmheit und Sauberkeit des Inneren strebenden Menschen. Vertrauen setzt Verschwiegenheit voraus, und Geheimnisse bewahren können ist das Zeichen und der Beweis echter Freundschaft. Besonders aber pflegt der Mensch unserer Art sein eigenes Innere vor anderen zu bewahren, man nennt dies auch bei uns, wenn es mit Reinheit gepaart ist, Keuschheit der Seele.

Verantwortungsbewußtsein

In einer natürlich gegliederten Menschengruppe wird sich, wenn diese eine gemeinsame Aufgabe zu erfüllen hat oder ein gemeinsames Vorhaben durchführen will, immer einer herausheben, der die Leitung des Unternehmens oder der beabsichigten Arbeit übernimmt. Dieser kann gewählt werden; es kann aber auch sein, daß er sich aus der größeren Sachkenntnis oder aus dem unausgesprochenen Vertrauen der Mitarbeiter ergibt. Dieser Einzelne, den das Vertrauen der Gruppe hält und beauftragt, handelt für seine Gefährten stellvertretend und ist – zunächst – der Erste unter Gleichen. (Primus inter pares)

Er wird mit einem stärkeren Gefühl der Verantwortung ausgestattet sein und muß die gemeinsamen Interessen seiner Geährtschaft übernehmen und vertreten.

In fast allen Lebensbereichen, wo noch gewachsene und natürliche Verhältnisse und Bindungen herrschen, ist das Verantwortungsbewußtsein das maßgebende Kennzeichen solcher Menschen. Nur wo Funktionäre von ihrer Partei um des äußeren Ansehens willen in ihren Verfügungen und Taten gedeckt werden, tritt an die Stelle des Eigengewissens die Rücksicht auf die Ideologie, Reklame und Prestige. (Es ist bemerkenswert, daß diese „modernen“ Wirklichkeiten mit Fremdwörtern bezeichnet werden. Der tiefere Grund dafür ist, daß sie etwas uns Wesensfremdes enthalten, das im reichen deutschen Sprachschatz nicht vorhanden ist.)

Zeichnung von Wilhelm Petersen

Verantwortungsbewußtsein ist also die hohe Eigenschaft des natürlichen Führers einer Gruppe. In echten Jugendbünden sind solche Menschen immer aus der Menge der Gefolgsleute emporgetaucht, kraft ihrer besonderen Fähigkeiten und kraft des Vertrauens, das sie genießen. (Daß hierbei auch Irrtümer vorkommen, sei nicht vergessen. Dann aber trägt die wählende Menge für eine falsche Wahl die Verantwortung.)

Der verantwortlich handelnde, leitende und führende Mensch einer Gruppe oder Gemeinschaft kann aber nicht nur schlechthin ein Vertreter sein, das heißt also ein beliebiges gewähltes Durchschnittsglied dieser Gesellschaft, sondern er muß ein Stück weitersehen können als die gewöhnlichen Angehörigen des Kreises, erwarten diese von ihm doch die Förderung ihrer Interessen oder Ziele. Er muß auch sozusagen eine Summe von menschlichen Möglichkeiten und Eigenschaften verkörpern, ein Mehr oder Tiefer an Einsicht und Erfahrung, an Weitblick und auch Fähigkeit und Stärke des Willens, die für alle angestrebten Ziele durchzusetzen. Solche Menschen finden sich bei natürlicher Wahl in echten Volkskreisen immer seltener, sie werden heute normalerweise durch die oben erwähnten Funktionäre ersetzt, die von vornherein gebunden sind an bestimmte Partei- und Organisations-Verpflichtungen. Diese können nicht frei handeln, sie haben nicht das persönliche Gewissen und die letzte eigene Verantwortung zum Richter und Gesetz ihres Tuns, sondern einen – noch dazu meist bezahlten – Auftrag, von dem sie abhängig sind. Sie sind also im Grunde das Gegenteil natürlicher und echter Volksvertretung.

Wir meinen aber mit Führer und Leiter diejenigen, welche aus der freien Wahl ihrer Gemeinschaft als die vertrauenswürdigen Vertreter der Gesamtbelange hervorgehen und die diese uneigennützig zum Wohle und zur ausgreifenden Verwirklichung der Ziele und Ideen ihres Bundes fördern und vertreten. Echtes Verantwortungsgefühl setzt also die Befragung des eigenen Gewissens voraus. Wenn die Ergebnisse solcher Gewissenerfragung und die daraus hervorgehenden Entschlüsse und Leistungen der Gemeinschaft entsprechen, werden die Leiter und Führer immer eine gute Mehrheit für ihr Tun finden. Wenn sie sichtbar Wesen und Ziele der Gruppe fördern und verwirklichen, werden sie geachtet und geehrt sein, im Sinne artgemäßer Wertbegriffe und echter Volksführung.

 

Der Maler Wilhelm Petersen