Graf Hermann Keyserling

aus seinem Buche

›Das Reisetagebuch eines Philosophen‹

 

Ein Allgemeines kann nicht zur Lebensmacht werden, nur Bestimmtem gelingt dies; was im Falle einer Weltanschauung besagt: eine bestimmte Auffassung und Ausdeutung ihrer, eine bestimmte praktische Anwendung. So sind die noch so universellen Erkenntnisse des Rishis von vornherein spezifisch verstanden worden.

Der Atman, lehren die Veden, ruht jenseits der Erscheinungen rein in sich, nicht Name, nicht Gestalt, nicht leidend, nicht handelnd. Des Daseins höchstes Ziel ist, eins mit ihm zu werden, d. h. sich so tief zu verinnerlichen, daß das Bewußtsein im Prinzip des Lebens Wurzel faßt. Aus dieser Lehre können mehrfache praktische Konsequenzen gezogen werden.

Die Hindus haben als Höchstes hingestellt, sich aus dem Leben in die Gottheit zurückzuziehen, mithin die Schöpfung zu eskamotieren. ›Plus royalistes que le roi‹, weiser als Brahman selbst, der es für gut befand, sich zum Weltall zu entfalten, haben sie ihr ganzes Streben darauf gerichtet, über das Werden hinauszugelangen. So mußten ihnen die Entsager als absolut höchste Menschentypen gelten, konnten sie in der Gestaltung dieses Lebens keinen Wert erkennen.

Ich würde aus den gleichen Lehren mit gleicher logischer Berechtigung die entgegengesetzten praktischen Schlüsse ziehen. Wir sollen den Atman in uns erkennen und dann verwirklichen in dieser Welt; wir sollen Brahman, dessen Teilausdrücke wir sind, dazu verhelfen, sich in der Erscheinung zu vollenden. So aufgefaßt, wirken die vedischen Lehren nicht sterilisierend, sondern im höchsten Grade produktiv.

Unsere Handlungen, erkennt die Vernunft, stehen in keinem notwendigen Verhältnis zum Selbst: man bringe es dahin, daß alle den Atman spiegeln! Das Bewußtsein, das der Synthesis des Verstandes entspricht, ist an sich nicht das tiefste Ich: man bilde es soweit aus, daß es diesem zum Ausdrucksmittel wird. Und so fort.

Hätte einer nun dieses erreicht, hätte er sein Göttliches im Irdischen ganz verwirklicht, dann stellte sich für ihn die ganze Frage des Unterschiedes zwischen Absolutem und Relativem nicht mehr, dann brauchte er sie weder zu bejahen noch zu verneinen, da er als Wesen in der Erscheinung lebte. Daß die Inder nicht diese Alternative gewählt, die sie doch wieder und wieder als höhere erkannt haben und die zweifelsohne alle Vorzüge für sich hat, ist auf empirische Umstände zurückzuführen: vorzüglich wohlauf die Einflüsse der Tropenwelt. Diese haben die arischen Einwanderer mehr und mehr aus energischen zu indolenten Geschöpfen umgewandelt, ihrem Leben mehr und mehr jenen vegetationsartigen Charakter verliehen, der seinen vollendeten Ausdruck dann im Buddhismus fand. Es hat nichts genützt, daß sie diesen als solchen überwunden haben, wohl aus der unbewußten Erkenntnis seines Entartungscharakters heraus; seine Tendenz war die Tendenz ihres Blutes.

Nun fragt es sich: Hätten die Hindus als Erkenner und Schauer des Göttlichen eine so einzig hohe Stufe erreicht, wenn sie als Menschen anders gewesen wären? Hätten sie das, was not tut, so klar erkannt, wenn sie fähig gewesen wären, es zu verwirklichen? Wahrscheinlich nicht. Der große Moralist ist typischerweise amoralisch, weil Vorurteilsfreiheit Hemmungslosigkeit bedingt; der große Versteher typischerweise charakterlos, weil er keine Gestaltung als absolut beste beurteilen kann; umgekehrt ist der große Täter typischerweise beschränkt. Hier bestätigen die Ausnahmen nur die Regel, sofern sie nicht einer höheren Daseinsstufe angehören, auf welcher die menschliche Kompensationsnorm nicht mehr gilt.

Daß die Inder sich der Einseitigkeit ihrer Veranlagung gefühlsmäßig auch bewußt sind, beweist ihre gut katholische Gesinnung, ihre ausgesprochene Abneigung gegen alles Protestantisieren: sie fühlen, daß sie, innerlich allzu frei, der festen äußeren Normen bedürfen, um nicht auseinanderzugehen. Es wird ferner bewiesen dadurch, daß sie in unerhörtem Grad bei allen Erkenntnisfähigen das Erwerben vollkommener Erkenntnis (nicht eines edlen Charakters, einer vornehmen Gesinnung usw.) als das Ziel des Lebens hingestellt haben: der wesentlich erkennende Mensch kann sich nur aus der Verstandeseinsicht heraus entscheiden.

Aber gleichviel, ob sie es gewußt haben oder nicht: die Tatsache steht fest. Zur höchsten Vollendung in den Sphären des Erkennens und des religiösen Realisierens ist eine Naturbasis erforderlich, die Vollendung in anderen Richtungen, wenn nicht ausschließt, so doch äußerst erschwert. Das weiß das Volk, sofern es sich wundert, wenn ein »Kluger« gleichzeitig »gut« ist; das weiß die Wissenschaft, sofern sie konstatiert, daß ein höheres Maß von Religiosität außerordentlich häufig an eine Naturanlage gebunden erscheint, die sie als »pathologisch« beurteilt; das weiß im Fall der Künstler die öffentliche Meinung der ganzen Welt. Nur ganz selten sind solche menschlich vollwertig.

Es ist, um eine Analogie aus der Biologie, die vielleicht mehr als eine Analogie ist, anzuführen, als ob im Erkenner, im Religiösen, im Dichter »Gene« in Kraft träten, welche die Äußerung derer des Täters, des Charakters, des Ethikers hindern. Bei jenen verläuft das eigentliche Leben in der Sphäre des Psychischen; dessen Umsetzen in und Wirkung auf das, was anderen das »wirkliche« Leben ist, bedeutet fast nichts in bezug auf ihr Wesen. Um vollkommen zu erkennen, muß man nicht allein ganz der Erkenntnis leben, man muß gewissermaßen Erkenntnis sein; man muß sich ausleben im Erkennen, wie Frauen in der Liebe. Wer dies nun tut, der kann seine primäre Energie der Anwendung seines Wissens auf das Leben nicht zuwenden, denn sie ist schon anderweitig gebunden.

So bedeutet es letzthin ein Mißverständnis, den Hindus einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich in der Welt des praktisch tätigen Lebens nicht ebenso groß erwiesen haben wie in denen der Erkenntnis und des religiösen Gefühls. Ihre Schwächen bezeichnen den Kaufpreis ihrer Vorzüge. Freilich sind nicht alle Hindus Erkenner, und die Nichterkenner unter ihnen sind dementsprechend minderwertiger als europäische. Aber im gleichen Sinn sind die Faulenzer Europas unverhältnismäßig viel schlimmer als die von Indien.

Jedes Kultursystem ist am Durchschnittscharakter des Volkes orientiert, das es erfand, und Erziehung in dessen Geist und Rahmen gereicht mit Unvermeidlichkeit denen zum Nachteil, deren Art von der durchschnittlichen abweicht. Nun mag man die Frage aufwerfen, ob nicht irgendeine Richtung in der Gestaltung vor den anderen absolute Vorzüge besitze? so die christlich-europäische vor der indischen? Viele halten dafür; ich kann mich nicht entscheiden.

Sofern die größte Vollkommenheit der Massen als Maßstab angesetzt wird, ist es wohl möglich, daß wir das bessere Teil erwählt haben. Aber kommen quantitative Gesichtspunkte in wesentlichen Verhältnissen in Frage? – Ich bescheide mich bei der Feststellung der Tatsache, daß Indien und nicht Europa die bisher tiefste Metaphysik und das bisher vollkommenste religiöse System hervorgebracht hat.

Sintemalen nun den Indern das Psychische das Primäre bedeutet, insofern ihr Realisieren in der Vorstellung biologisch äquivalent ist dem Realisieren in der Praxis unter uns, ist es klar, daß ihnen die Erkenner, die Versteher, die weltfeindlichen Schauer und Ekstatiker als höchste Typen gelten müssen. Unter ihren Voraussetzungen sind sie es. Und es ist nicht weiter befremdlich, daß sie verwundert aufschauen, wenn ein Europäer sie fragt, ob nicht höhere Daseinsformen denkbar seien.

So bezeichnen denn die Rishis, die stillen Weisen aus den Himalayas, nicht den höchsten Menschentypus überhaupt? Ist ein höherer denkbar? – Beide Fragen sind zu verneinen; die erste schlechthin, die zweite, weil sie ein Mißverständnis einschließt.

Daß der höchste Erkenner nicht gleichzeitig der höchste Mensch überhaupt ist, geht aus den vorhergehenden Betrachtungen eindeutig hervor; jener setzt eine Naturbasis voraus, die, als solche beschränkt, viel wertvolle Möglichkeiten ausschließt. Die Frage aber, ob ein höherer denkbar sei, schließt ein Mißverständnis ein, insofern sie der Voraussetzung entspringt, es könne einen absolut höchsten geben. Es gibt keinen solchen, kann ihn nicht geben, weil jeder bestimmte Typus an Grenzen gebunden ist, die ihn vom Standpunkte der Universalität entwerten. Keine Beschränkung ist ein Vorzug, kein Trieb sollte erstickt werden; der absolut höchste Mensch wäre der, welcher sämtliche Potenzen des Menschentums in sich zu vollendeter Verkörperung brächte; dies aber kann nicht gelingen, weil jede verwirklichte Möglichkeit viele andere aufhebt oder ausschließt.

Alle konkretisierbaren Ideale stehen in Wechselbeziehung zu einer bestimmten Naturbasis; so lassen sich vollendete Engländer oder Franzosen, vollendete Weise, Heilige, Könige, Künstler denken, aber keine vollendeten Menschen schlechthin. »Der vollendete Mensch«, als Typus gedacht, ist ein Unbegriff. Daß die Menschheit dies so lange nicht begriff, hat ihr unberechenbaren Schaden zugefügt.

Wie teuer ist uns die Nachfolge Christi zu stehen gekommen! Auch er bezeichnet nur die Vollendung eines bestimmten Typus (der freilich gewechselt hat, je nach der Vorstellung, die man sich von Jesus machte), und dessen Hypostasierung zum allgemeingültigen Menschheitsideal hat Millionen schönster Anlagen an der Entfaltung verhindert. Daher die in so vielen Hinsichten niedrigere Kulturstufe der christlichen Menschheit gegenüber der antiken, daher gewisse auf Verdrängungen zurückgehende unreinliche Züge, die den Christen überall noch heute vor allen Andersgläubigen unvorteilhaft auszeichnen.

 

Michelangelo, Erschaffung Adams

 

Die indische Weltanschauung hat freilich in der Theorie diesen Gefahren vorgebeugt; aber eben, wie wir sahen, nur in der Theorie. In der Praxis hat die Idealisierung der entsagenden Erkenner den Tätern die Kraft gelähmt, alle äußere Lebensgestaltung entmutigt, den Tonus des ganzen Daseins herabgestimmt. Immerhin ist die Theorie gar wundersam. Sie lehrt einerseits, daß jeder Typus sein besonderes Dharma habe und nur diesem nachstreben soll, andererseits aber statuiert sie eine normale Folge: aus dem Dharma des Çudra erstehe das des Vaiçya, aus dem des Vaiçya das des Kschattrya, aus dem des Kschattrya das Dharma des Brahmana, und wer dieses vollkommen erfüllt, verkörpere den höchstdenkbaren Menschentypus. Sie statuiert also wohl den Zustand des Rishi als höchstes Menschheitsideal, lehrt aber andrerseits, daß dieser Zustand nur einer bestimmten Anlage erreichbar sei, die ihrerseits vom – Alter der Seele abhänge.

Das höchste Ideal ist ihr sonach das höchste nicht eigentlich im Sinn absoluter Allgemeingültigkeit, sondern in dem, daß es das letztmögliche darstelle. Damit haben die Inder in der Tat die Wahrheit erfaßt, welche wahr bleibt, auch wenn man das mythische Gerüst, das sie trägt, ganz fallen läßt.

Unzweifelhaft trägt die Weisheit Alterszüge, unzweifelhaft steht sie der Jugend nicht an; unzweifelhaft läßt sie den alt erscheinen, der sie in noch so jungen Jahren gewann. Aber ebenso unzweifelhaft bezeichnet sie die Krönung des Lebens. Mehr als weise kann man nicht sein. 

Wären die Inder in der Praxis ebenso einsichtig gewesen wie in der Theorie, so könnte man wohl sagen, sie hätten das Lebensproblem gelöst. Aber die Voraussetzung trifft eben nicht zu. Trotz ihrer besseren Einsicht haben sie im Weisen als Typus ein allgemeingültiges Vorbild gesehen. So ist es zu erklären, daß die modern-europäische Menschheit, trotz ihrer Roheit, Erdbefangenheit und Seelenblindheit, ja wegen ihrer materialistischen Ideale, die eben die echten Ideale ihrer Naturstufe sind, im ganzen auf einer menschlich höheren Stufe steht als die von Indien.

Es ist ein Aberglaube – vielleicht der Aberglaube, welchen abzulegen heute am meisten not tut –, daß das Ideal in irgendeinem bestimmten Zustande verkörpert liegt. Kein Wesen steht vereinzelt da; vom Standpunkte des Alls ist die ganze lebendige Natur ein Zusammenhang, ist das Einzelne nie mehr als ein Element, und keins ist denkbar, welches die übrigen resümierte, wie dies der Fall sein müßte, damit es allen als Vorbild gelten könnte. Jedes ist ein Organ des Lebens, nicht mehr, und daher nur vom Ganzen her zu verstehen, nur in Wechselbeziehung zu anderen, anders qualifizierten Organen in seiner Sonderart daseinsberechtigt.

Aber es gibt Elemente von verschiedener Bedeutung; auf einigen ruht viel Nachdruck, auf anderen wenig. Und auf die hin, welche viel bedeuten, ist das übrige abgestimmt. Die Typen, welche die Menschheit seit je als höchste verehrt hat, verkörpern die Grundtöne in der Symphonie; je richtiger diese verteilt sind, je voller und reiner sie erklingen, desto schöner die Musik.

Die Heiligen und Weisen verkörpern die Grundtöne, während in den übrigen Typen nur Mittel- und Obertöne inkarniert sind: dies ist der einzige Sinn, in welchem jene über den anderen stehen. Aus dieser Bestimmung ergibt sich von selbst, wie sich die einen zu den anderen verhalten sollen. Die Obertöne sollen nicht zu Grundtönen werden wollen, aber abstimmen sollen sie sich nach ihnen: in diesem Verstand tut allen Menschen die Verehrung der Weisen und Heiligen gut. Insofern diese Grundtöne sind, ist ihr Dasein auch notwendig – notwendiger fürwahr als alles nützliche Handeln der Männer der Tat: sogar ein verhaltener, ja ein nicht angeschlagener Grundton wirkt; ist die Musik auf ihn nur abgestimmt, so ist es gut.

Deshalb schadet es nicht, daß Heilige selten sind, daß ein Christus, wie wir ihn verehren, vielleicht niemals gelebt hat. So ist es durchaus in der Ordnung, daß die verehrten Großen Metamorphosen durchmachen im Laufe der Zeit: wo die Melodie ihre Tonart ändert, muß gleiches mit den Grundtönen geschehen. Aber diese allein tun es nicht; keine Baßgeige ersetzt das Orchester; nur in diesem kommt sie selber zur Geltung. So macht der Heilige das Weltkind nicht überflüssig, sondern beide sind unmittelbar aufeinander angewiesen.

Von hier aus scheint denn die alte Frage der absoluten Werte gelöst. Freilich gibt es solche, aber nur im Sinn von Grundtönen. Auf sie ist das Lebensganze bezogen; immer gelingt es, sie als das Wesentliche zu erweisen. Aber andrerseits mißlingt es je und je, von ihnen allein aus dem Leben theoretisch gerecht zu werden oder es praktisch zu gestalten. Sooft dies versucht ward, erschien es verdürftigt, verarmt; es war, als ob die Pastoralsymphonie von lauter Kontrabässen aufgeführt würde.

Eine puritanische Weltauffassung hat immer nur geschädigt; wo das Moralische oder das Spirituelle allein als wertvoll anerkannt ward, ist dieses immer zum Nachteil der menschlichen Vollkommenheit geschehen. So mußte es kommen. Allerdings sind die absoluten Werte an sich selbst in den Typen des Heiligen und des Weisen verkörpert, aber für sich allein sind diese nichts; sie setzen alle anderen voraus. Drum ist es lächerlich, verfehlt, ja frevelhaft, vom Standpunkt absoluter Werte her irgendwelche Erscheinungen vernichten zu wollen, die in ihrer Art vollkommen sind: was immer sie seien, sie widerstreiten den absoluten Werten nicht; diese bedingen vielmehr jene von innen her, wie der Grundton die Diskantfolgen bedingt. So münden denn auch diese Betrachtungen in der Erkenntnis ein, die sich so oft schon als letztes Wort erwies: Vollendung, spezifische Vollendung ist das eine, einzige Ideal, welches jedem gemäß ist. Ob einer zum Grund- oder zum Oberton geboren ward, ist Gottes Sache; die seine ist, rein zu erklingen.

Nun ist klar, inwiefern Buddha und Christus nicht allein, sondern auch die großen indischen Erkenner, die Rishis, doch als allgemeingültige Vorbilder gelten dürfen: nicht als Typen, sondern als Vollendete. Als Typen bezeichnen sie Sondererscheinungen, nur denen als Ideale ersprießlich, die dem gleichen Typus angehören wie sie. Aber als Vollendete, als Wesen, die im Rahmen eines beliebigen Typus ihre Möglichkeiten vollkommen erfüllt haben, können und sollen sie allen ein Beispiel sein.

 

Graf Hermann von Keyserling: Eine Erfahrung des Göttlichen