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In diesem unveröffentlichten Text, der kurz vor seinem Tod am 6. Dezember 2020 für die Fotoausstellung ›La Nature pour socle‹ verfaßt wurde, ruft Jean-François Gautier dazu auf, die Natur sowohl ästhetisch als auch politisch, d. h. als zu verteidigendes Territorium, zu begreifen. Welche Bestimmung haben die Europäer? Ihre Kräfte für den Kampf von morgen wieder aufzubauen: den Kampf um die Rückeroberung ihrer angestammten Gebiete!

Der Europäer ist von Natur aus ein politisches Lebewesen. Diese Formel ist nicht neu. Sie leitete vor fünfundzwanzig Jahrhunderten die Politeia‹ von Platon ein. Sie ist Ausdruck zweier natürlicher Realitäten. Die erste besagt, daß das kollektive Wesen verfassungsrechtlich über das individuelle herrscht. Die zweite, daß das Kollektivwesen Stadt ohne ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit für den Schutz seines eigenen Territoriums Gefahr läuft, die Natur, in der es sich verkörpert, zu verlassen, und daß es, weil es keinen eigenen, nach Bedarf strukturierten Raum hat, aus der Geschichte herausfallen könnte.

Eine Tatsache, die die Moderne zu leugnen versucht. Die erste ihrer Taktiken ist die forcierte Entwicklung von Städten, in denen das Territorium niemandem mehr gehört, nicht einmal der Gemeinschaft, sondern häufig von Lobbygruppen als Geisel genommen wird.

WAS UNS DIE NATUR LEHRT

Die Verbundenheit mit einem umgrenzten Gebiet

Gegen dieses Ausblenden der notwendigen Territorialisierungen ist die Suche nach und die Darstellung von offenen Landschaften Teil der notwendigen Pädagogik. Ob Meeres-, Berg- oder halbhimmlische Landschaft, ob sie in ihren Dimensionen oder in ihren Abbildungen unendlich oder undefiniert erscheint, sind Landschaften geeignet, daran zu erinnern, daß jeder Raum bewohnt werden muß, das heißt: politisch eingegrenzt.

Die Beherrschung und Verteidigung des eigenen Landes

Die Weite oder Unermeßlichkeit der Landschaft, die durch die Fototechnik suggeriert wird, erweckt manchmal das Gefühl majestätischer Größe. Dies ist nicht ohne Bedeutung für die notwendige Beherrschung des öffentlichen Raums. Dieser Kampf wird einer der wichtigsten für die kommenden Generationen sein. Und die Aufmerksamkeit für die Landschaft wird dann zu einer Übung, mit der sich der moderne Europäer täglich an die Zerbrechlichkeit seiner geerbten Hoheitsgebiete erinnert. Die Natur, in der er lebt, die Natur, die er außerhalb der Städte entdeckt, wird somit zu einer der Grundlagen seiner täglichen Meditationen über die bald notwendigen Kämpfe werden.

DIE LEKTION DER ANTIKE

Die Verbindung zwischen Mensch und Natur, verkörpert in den Göttern.

Die antiken Lehren gewinnen hier wieder an Aktualität. Was bedeuten die göttlichen Präsenzen in den jewiligen Gebieten, in denen die Menschen tätig sind? Demeter verkörperte in der hellenischen Mentalität die beständige Achtung, die der Bodenbearbeitung, der Ernte und der Fruchtbarkeit gebührt. Artemis stand für die Rücksichtnahme auf die Tiere, die als Jagdobjekt der Ernährung dienten. Hestia beschützte den Raum des Hauses und die gemeinsamen Güter der Sippe. Hermes war der Hüter der Reisenden, des Handels und der Geschäfte; seine Statuetten, die noch immer die griechischen Straßen markieren, waren unseren heutigen Straßenmarkierungen durchaus vergleichbar. Am anderen Ende Europas wachte die keltische Damona über die Reinheit der Quellen und Gewässer, Epona beschützte die Haustiere als Quelle des Reichtums und Belisama, die Göttin der Schmiedekunst, spielte eine ähnliche Rolle wie Hephaistos bei der Bereitstellung von Werkzeugen. Es gab also eine große Anzahl von Göttern, die Tugenden, Klugheit, Respekt, Frömmigkeit und die nötige Ehrerbietung mit der Natur und den gewöhnlichen Gepflogenheiten des Gemeinwesens in Verbindung brachten.

Die Natur als Grundlage des Lebens

In diesen Welten, in denen die Natur weder als abstraktes oder ästhetisches Konzept noch die Ökologie als Sammlung von Kunstgriffen aus verschiedenen Wissenschaften existierte, war der besiedelte Raum das Fundament aller Lebendigkeit, aller gut aufgebauten Beziehungen, sowohl mit anderen im Unmittelbaren als auch mit sich selbst und mit anderen im Zukünftigen. Die unzähligen Götter und Göttinnen der Aussaat und der Fruchtbarkeit zeugen davon im gesamten europäischen Raum. Niemand war geneigt, seinen Raum oder seine Zukunft zu verpfänden. Diese Existenzweisen, die durch die modernen, von Urbanismus und Universalität geprägten Sitten obsolet wurden, erhalten unter dem Druck der Tatsachen wieder Aktualität, wenn die Reterritorialisierung von Menschengruppen wieder eine vitale, d.h. politische Dringlichkeit erlangt.

DER ÜBERGANG VON DER ÄSTHTISCHEN ZUR POLITISCHEN NATUR

Eine notwendige ästhetische Besinnung

Die in dieser Ausstellung zusammengestellten Fotografien, mit oder ohne Vögel, mit oder ohne Zeugnisse von Steinen, die von Menschen errichtet wurden, mit oder ohne Insekten, Personen, Lichter, Nebel, Berge, mit oder ohne ruhendes oder sprudelndes Wasser, mit oder ohne Wolken in ihrem Gefolge, alle sprechen von der Verlockung des Städters: der Besinnung auf die Einsamkeit. Dies ist eine Meditation, die notwendig ist, um wesentliche Kräfte wiederzuerlangen.

Sich für den Kampf von morgen wappnen

Sie nehmen die Herausforderungen von morgen vorweg, jene, die sich erhellen werden, sobald die politische Natürlichkeit und ihre manchmal gewalttätige Unruhe wieder die Vorherrschaft über das Wiegenlied der ästhetischen Natürlichkeit gewinnen. Denn das ist das Schicksal der Europäer: Sie müssen ihre Kräfte für die Rückeroberung ihrer Heimatländer wieder aufbauen, denn ohne diese würden sie ihr Schicksal verfehlen, das aus der räumlichen Behauptung ihrer Natur besteht. Die Natur, die von einem ästhetischen und subjektiven Standpunkt aus betrachtet wird, träumt von räumlicher Einheit. Die politische Natur hingegen kümmert sich um die materiellen und praktischen Bedingungen, d. h. die Bedingungen des Kampfes.

Jean-François Gautier (1950-2020)

 

Quelle: https://institut-iliade.com/la-nature-comme-socle-ou-comment-lesthetique-permettra-a-lhomme-de-retrouver-un-destin-politique/
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