Konrad Lorenz

Der Mensch und seine Fähigkeit des Erkennens

Konrad Lorenz, der Zoologe und Mediziner, gilt als Hauptvertreter der klassischen Verhaltensforschung. AusRückseite des Spiegels, Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens‹, München 1973 – auszugsweise Gedanken zur kulturellen Evolution.

 

 

Über die Richtung, in der die Evolution von Kulturen verläuft, wissen wir aus der Menschheitsgeschichte, daß sie analoge Zickzackwege beschreiten kann wie die genetische Evolution von Tier- und Pflanzenarten. Eine weitere Tatsache, deren wir sicher sind, ist die, daß die kulturelle Evolution – die psychosoziale, wie Julian Huxley sie genannt hat – um ein Vielfaches schneller verläuft als die phylogenetische.

Ich habe in meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« den Versuch einer natürlichen Erkenntnistheorie unternommen und die Hypothese aufgestellt, daß das begriffliche Denken des Menschen durch eine Integration mehrerer, vorher schon existenter Erkenntnisleistungen zustandekam. Unter diesen ist die Fähigkeit der Raumvorstellung als erste zu nennen. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit sind, meiner Meinung nach, in Wirklichkeit nur eine, nämlich die Anschauungsform von Bewegung in Raum und Zeit.

Die zweite wichtige Leistung, die mit der Raumvorstellung zusammen die neue Systemfunktion des begrifflichen Denkens möglich macht, ist die Abstraktionsleistung der Gestaltwahrnehmung, ohne die wir uns in sich konstante Gegenstände gar nicht vorstellen könnten; eine dritte aber ist das explorative Verhalten mit seinem sachlichen Interesse an Gegenständen.

Ich glaube, daß begriffliches Denken und Sprache Hand in Hand entstanden sind, denn sowie auch nur Ansätze zu Begriffen gegeben waren, konnte es nicht ausbleiben, daß sprachliche Symbole dafür gefunden wurden. Die Entstehung des begrifflichen Denkens und der Wortsprache hat unabsehbare biologische Folgen. Es wurde zwischen Biologen seit der Entdeckung der Evolution viel darüber diskutiert, ob erworbene Eigenschaften vererbt werden könnten oder nicht. Ich habe schon vor Jahren einen sarkastischen Aphorismus geprägt, der besagt:

Daß etwas im allgemeinen nicht vorkommt, wird dem Forschenden oft erst klar, wenn ein Ausnahmefall ihm zeigt, wie es aussehen würde, wenn es regelmäßig vorkäme.

Das neu entstandene, nie dagewesene begriffliche Denken des Menschen macht die – selbstverständlich nicht genetische – Vererbung erworbener Eigenschaften möglich.

Wenn ein Mensch Pfeil und Bogen erfindet, so hat zunächst seine Familie und sein Stamm, bald aber die ganze Menschheit dieses nützliche Werkzeug, und die Wahrscheinlichkeit, daß es wieder vergessen wird, ist nicht größer als die, daß ein körperliches Organ von vergleichbarer Wichtigkeit rudimentär wird. Die ungeheure Anpassungsfähigkeit des Menschen, der in denkbar verschiedenen Lebensräumen sein Fortkommen findet, ist ein Ausdruck der hohen Geschwindigkeit, mit der sich die kulturelle Evolution vollzieht.

Nur als Mitglied einer geistigen Gruppe kann er voll Mensch sein. Geistiges Leben ist grundsätzlich überindividuelles Leben; die individuelle konkrete Verwirklichung geistiger Gemeinsamkeit nennen wir Kultur.

Die Kultur als lebendes System

So groß auch der AbstandNicolai Hartmann würde sagen: der ›Hiatus‹ – zwischen einer rein genetischen Evolution und dem geistigen Werden einer Kultur zu sein scheint, so bleiben beide doch grundsätzlichen Spielregeln des Werdens unterworfen.

Die Annahme, daß die Entwicklung einer Kultur von Einsicht und geistigem Wissen gesteuert werde und in weiser Sicherheit den Pfad zum »Höheren« hin verfolge, ist ein Irrtum. Keine der noch nicht spezifisch menschlichen Grundfunktionen wird durch ihre Integration zum begrifflichen Denken entbehrlich gemacht; keine verliert auch nur im geringsten an Bedeutung.

Sie alle sind beim Menschen stärker entwickelt, als irgendeine von ihnen es bei einer Tierart ist, selbst wenn sie bei dieser die lebenswichtigste Funktion erfüllt. Neugierverhalten ist die wichtigste lebenserhaltende Leistung der Ratte – der Mensch ist noch neugieriger. Optische Wahrnehmung gestalteter Ganzheiten ist eine der wichtigsten Leistungen gewisser Vögel, aber der Mensch ist ihnen darin überlegen usw.

Der menschliche Geist ist von Elementarleistungen abhängig, vor allem vom Gleichgewicht ihres Zusammenspiels, das viel leichter gestört werden kann als jede einzelne der unentbehrlichen Teilfunktionen. Ein geringes Zuviel auf der einen Seite, ein geringes Zuwenig auf der anderen, bedeutet eine Erkrankung dieses Geistes. Diese aber ist, bei dem Begriff von Geist, wie ich ihn eben definiert habe, notwendigerweise eine epidemische Erkrankung.

Die Menschheitsgeschichte teilt uns mitleidlos die Tatsache mit, daß Kulturen wie alle lebenden Systeme zugrundegehen können. Vergleichende Studien, wie sie z. B. Oswald Spengler angestellt hat, sagen uns, daß unsere eigene Kultur am Rande des Grabes steht. Wie schon im Vorwort gesagt wurde, war Oswald Spengler genau das, was Karl Popper einen »histori-cist« nennt; er glaubte, das Altern und Zugrundegehen von Hochkulturen logisch vorhersagen, d. h. aufgrund einer »Logik der Zeit« und eines »natürlichen Alterns aller Kulturen« erklären zu können.

Nichts liegt dem evolutionären Erkenntnistheoretiker und auch dem Arzt ferner als Fatalismus. Deshalb bin ich verpflichtet, nach Ursachen des Verfalls unserer Kultur zu fahnden und, soweit sie erkennbar sind, Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. In meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« habe ich in dem Kapitel, dessen Titel dem des vorliegenden Abschnittes gleich ist, darzutun versucht, in wie vielen Punkten die Entwicklung einer Kultur derjenigen einer Tier- und Pflanzenart analog ist. Diese Vorgänge spielen sich auf sehr verschiedenen Ebenen ab; dennoch sind beide Systeme »Unternehmen mit gekoppeltem Macht- und Wissensgewinn«.

Die Analogien zwischen den beiden verschiedenen Arten der Entwicklung gehen so weit, daß sich analoge Methoden ihrer Erforschung ausgebildet haben. Die Kulturgeschichte und insbesondere die historische Sprachforschung verwenden dieselben Methoden wie die Stammesgeschichtsforschung, um aus Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der gegenwärtig lebenden Systeme ihre Abstammung zu erforschen und sich Vorstellungen von der gemeinsamen Ahnenform zu bilden. Bis ins vorige Jahrhundert haben Geschichtsphilosophen versucht, an der Theorie einer einheitlichen historischen Entwicklung festzuhaltcn.

Arnold Toynbee und andere haben gezeigt, daß die Entwicklung menschlicher Kulturen einen genauso regellos verzweigten Entscheidungsbaum darstellt, wie ich es in meinem Lehrbuch für den Lebensstammbaum zu zeigen versuchte. Meines Wissens ist Erik Erikson der erste gewesen, der auf die Parallelen zwischen der Verzweigung des Artenstammbaumes und der historischen Kulturentwicklung hingewiesen hat. Er hat den treffenden Ausdruck »pseudo-speciation«, also »Quasi-Artenbildung« geprägt.

Kulturgruppen verhalten sich in vieler Hinsicht zueinander wie verschiedene, aber sehr nah verwandte Tierarten. Die nahe Verwandtschaft muß betont werden, weil in keinem bekannten Fall zwei menschliche Kulturen sich in ihrer ökologischen Entwicklung so weit voneinander entfernt haben, daß sie, ohne einander Konkurrenz zu machen, im gleichen Lebensraum existieren könnten, wie es z. B. zwei nahe verwandte Entenarten, Löffelente und Stockente, ohne weiteres können. In dem erwähnten Buch habe ich in den Abschnitten über kulturgeschichtliche Ritenbildung und kulturelle Invarianz der wirklichen Leistungen gesprochen, die zur Begrenzung kultureller Gruppen beitragen und sie als Einheiten konstituieren.

Spaziergang mit seinen Gänsen, Fotoquelle: mpg.de

Vererbung und Veränderung in der Kultur

Man ist heute so daran gewöhnt, unter Vererbung den genetischen, d. h. biologischen, Vorgang zu verstehen, der stammesgeschichtlich erworbene Information den Nachkommen übermittelt, daß man den ursprünglichen, juristischen Sinn des Wortes ›Vererbung‹ zu vergessen geneigt ist. An ihn zu erinnern ist deshalb nötig, weil im Werden einer Kultur die unveränderte Weitergabe gewisser zur Tradition gewordener, also nicht genetisch fixierter Verhaltensnormen eine sehr ähnliche Rolle spielt wie die unveränderte Weitergabe genetischer Information in der Phylogenese. In der Kultur ist das Abweichen von diesen Normen für das Fortschreiten der Entwicklung ebenso unentbehrlich wie die Veränderungen des Erbbildes in der Phylogenese.

Die ritualisierten Normen sozialen Verhaltens, die uns durch die Tradition unserer Kultur überliefert werden, stellen ein kompliziertes stützendes »Skelett« der menschlichen Gesellschaft dar, ohne das keine Kultur zu bestehen vermag. Wie alle Skelettelemente können auch die der Kultur ihre »stützende« Funktion nur um einen hohen Preis ausüben: Sie müssen nämlich stets gewisse Grade der Freiheit ausschließen.

Ein Wurm kann sich an jeder Stelle seines Körpers biegen; wir können unsere Glieder nur an jenen Stellen bewegen, an denen Gelenke vorhanden sind. Jede Änderung der stützenden Struktur hat einen Abbau gewisser Teile zur Voraussetzung, bevor ein Aufbau in neuer und erhofftermaßen besser angepaßter Weise möglich ist.

Zwischen Abbau und Wiederaufbau liegt notwendigerweise eine Phase vergrößerter Verwundbarkeit. (Eine Illustration dieses Prinzips ist die Häutung der Krebse, die ihr Außenskelett abwerfen müssen, damit ein größeres wachsen kann.) Unsere Spezies hat, wie ich glaube, einen eingebauten Mechanismus, dessen lebenserhaltende Wirkung darin besteht, kulturelle Strukturveränderungen möglich zu machen, ohne die gesamte, in der Kulturtradition enthaltene Information dadurch zu gefährden. Ähnlich wie die Mutationsrate genau bemessen sein muß, um die Stammesentwicklung einer Spezies nicht zu gefährden, so muß auch in jeder Kultur das Maß möglicher Veränderungen begrenzt sein.

Junge Menschen beginnen mit Herannahen der Pubertät ihre Bindung an die Riten und Normen sozialen Verhaltens zu lockern, die ihnen durch die Familientradition überliefert sind. Gleichzeitig werden sie für neue Ideale empfänglich, die sie zu ihrer eigenen Sache machen können und für die sie vor allem kämpfen wollen. Diese Mauser oder Häutung traditioneller Ideen und Ideale ist eine kritische Phase in der Individualentwicklung des Menschen und bringt Gefahren mit sich. In dieser Entwicklungsphase ist der junge Mensch besonders anfällig für Indoktrinierung.

Dennoch ist diese gefährliche Phase in der Ontogenese des Menschen unentbehrlich, denn sie bietet eine der Möglichkeiten zu Veränderungen in der großen Erbschaft der kulturellen Tradition. Die Krise der Wertung von Idealen ist wie eine offene Tür, durch die neue Gedanken und Erkenntnisse Eintritt erhalten und in die Strukturen einer Kultur integriert werden können, welche ohne diesen kritischen Vorgang allzu starr wäre.

Die kultur- und damit lebenserhaltende Funktion dieses Mechanismus hat jedoch eine Art Gleichgewichtszustand zwischen der Unveränderlichkeit alter Traditionen und der Anpassungsfähigkeit zur Voraussetzung, in dem sie nicht umhin kann, gewisse Teile der traditionellen Erbschaft über Bord zu werfen.

Ganz wie in der biologischen Entwicklung der Arten bewirkt ein Übergewicht des Konservativen auch in der Entwicklung von Kulturen die Entstehung von »lebenden Fossilien«, ein Übermaß der Veränderlichkeit dagegen die Entstehung von Abnormitäten. Als Beispiel solcher Fehlentwicklung sozialen Verhaltens seien die Erscheinungen des Terrorismus und so mancher abwegiger Sekten genannt.

Der in Rede stehende Mechanismus, dessen Funktion es ist, die im Laufe der Kulturentwicklung angehäufte traditionelle Information weiterzugeben und gleichzeitig die Türe für neuen Informationserwerb zu öffnen, ist in unserer westlichen Kultur offensichtlich aus dem Geleise geraten, wie die Häufigkeit der eben erwähnten Monstrositäten beweist.

Sehr viele heutige junge Menschen scheinen zu glauben, die gesamte, in unserer kulturellen Tradition enthaltene Information sei entbehrlich. Sie »schütten die Eltern mit dem Bade aus«; sie stehen der älteren Generation überaus kritisch gegenüber.

Diese Gegensätze zwischen den Generationen haben ihre Ursache zweifellos in der Schnelligkeit der Entwicklung unserer technologisch orientierten Kultur. Der Abstand zwischen den Interessen einer Generation und der nächsten wird immer größer. Mit der sprunghaften Zunahme des Entwicklungstempos unserer Zivilisation werden die Generationen einander immer unähnlicher. Auch ist es eine nicht wegzuleugnende Tatsache, daß die Menge von Tradition, die von jeder Generation über Bord geworfen werden muß, von Generation zu Generation zunimmt. Vor wenigen Jahrzehnten konnte man z.B. die in dem britischen Spruch »Right or wrong, my country« ausgesprochene Maxime noch hinnehmen, heute kann man das nicht mehr moralisch verantworten.

Während die Generationen einander bei allen Zivilisationsvölkern immer unähnlicher und fremder werden, werden auf der ganzen Erde die Menschen derselben Generation einander immer ähnlicher. Der Ausbau weltweiter Transport- und Verkehrsmöglichkeiten und die immer weiter verbreiteten Medien lassen sozusagen den Erdball kleiner werden.

Eigenschaften, die eben noch als Nationaleigenschaften angesehen werden konnten, verschwinden. Noch vor wenigen Jahren konnte man Deutsche, Engländer und Amerikaner am Schnitt ihrer Kleider mit Sicherheit unterscheiden; heute ist das unmöglich. Vor allem die Jugendlichen aller Industrieländer sind einander im äußeren Habitus ähnlich geworden.

Die emotionale Bindung einer neu entstandenen Gruppe an die eigenen Symbole und Ideale läßt sie nicht sehen, wie groß der Wert des wohlerprobten, überlieferten Wissens ist, auf das sie kompromißlos zu verzichten bereit ist. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß mit dem Über- Bord-Werfen einer alten Kultur ganz selbstverständlich und sofort eine neue, bessere entstehen werde.

Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß keine zweckgerichtete Vorherbestimmung des Weltgeschehens unsere Kultur schützt. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dem Menschen selbst die Verantwortung auferlegt ist, seine Kultur vor Fehlentwicklungen ebenso wie vor dem Erstarren zu bewahren.

 

Fotoquelle: APA/AFP/STF

Quelle: Volk in Bewegung, Ausgabe 2 – 2024