Renzo Giorgetti
Souveränität, verstanden als die Ausübung von Macht, um Gemeinschaften von Menschen zu organisieren und zu regieren, war in den traditionellen Zivilisationen stets tief im Heiligen verwurzelt und wurde mehr als eine rein menschliche Tatsache zur Manifestation transzendenter Kräfte. Der Monarch übt eine Macht aus, die in erster Linie eine unmittelbare Emanation des Heiligen ist, von wahrhaft übergeordneten Einflüssen, die ihn weit mehr legitimieren als jede von seinen Herrschern erhaltene oder angebotene Zustimmung.
Im Idealfall ist der Monarch vor allem ein ›Pontifex‹, der sein Amt (ministerium = Dienst) ausübt und in seinem Reich für Harmonie im Einklang mit der kosmischen Ordnung sorgt, die ihrerseits ein Spiegelbild jener heiligen Ordnung ist, die alles Seiende formt und regiert. Der Inhaber des Königtums ist der Vermittler zwischen Erde und Himmel, er ist das Zentrum, der Berührungspunkt zwischen diesen Wirklichkeiten und sorgt für ihre Kommunikation und Interaktion [1]
Diese nicht nur menschliche, sondern vor allem transzendente Qualität wurde als völlig real und, selbst wenn sie sich in Auflösung befand, als ideale Tendenz angesehen, auf die man sich immer berufen konnte (wie wir sowohl in ägyptischen und chinesischen Ritualen als auch in der päpstlichen Konzeption des römischen Fürstentums und der mittelalterlichen Vorstellung des ›Sacrum Imperium‹ sehen können) [2].
Der Souverän als rein weltliche Macht, die sich durchsetzt, indem sie ihre Gegner ausschaltet oder sich deren Zustimmung mit Vorteilen verschafft, gehört bereits einer späteren Epoche an, in der die Macht so etwas wie ein Selbstzweck zu werden beginnt, eine selbstreferentielle Realität mit immer weniger Bezug zu außerweltlichen Zielen.
Es entsteht die Figur des „Politikers“, eines Individuums, das die Macht nur aufgrund seiner Kraft und seiner List erlangt und als einfacher Verwalter agiert, der von Zeit zu Zeit einen Konsens finden muß, oder als Tyrann, der alle Macht in sich konzentriert, indem er ständig gegen seine Gegner kämpft.
Politik wird zunehmend als „Kunst“ definiert (eine profane Kunst natürlich, die nicht mehr auf ›rta‹, der heiligen Ordnung der Welt, sondern auf ›anrta‹, der Lüge, der Verletzung und Untergrabung dieser Ordnung beruht) [3], als eine Tätigkeit, die sich in der einfachen Verwaltung menschlicher Beziehungen erschöpft und in der Eroberung von Macht das wichtigste, wenn nicht das einzige Ziel sieht.
Eine (gewiß nicht chronologische, sondern idealtypische) Abfolge dieser Entwicklung könnte folgendermaßen skizziert werden: Vom Priesterkönig, der die himmlische Ordnung auf der Erde widerspiegelt, geht es weiter zum Kriegerkönig, der sich ausschließlich mit Gewalt durchsetzt, zu jenen, die sich die Zustimmung mit Reichtum oder dem Versprechen, diesen zu erlangen, erkaufen, und schließlich zu jenen, die durch Ressentiments und Sozialneid herrschen und den Willen der Letztplazierten ausnutzen, um die Sprossen der hierarchischen Leiter zu erklimmen [4].
In der gegenwärtigen Umbruchsituation sind die Dinge so weit gediehen (die politische Welt ist die Vorhut der Auflösung), daß nicht einmal der Diener die Macht hat, sondern der Ausgestoßene, der „Unberührbare“, das Individuum, das außerhalb jeder Ordnung steht. In der „verkehrten Welt“ steht ein solcher Menschentypus nicht am unteren Ende der sozialen Leiter, sondern nimmt die höchsten Plätze ein, nachdem er in der Umkehrung von unten „gefallen“ ist, um sich dann als Bodensatz an der Spitze der umgekehrten Machtpyramide „niederzulassen“ (zu diesem letzten Thema verweisen wir auf unsere vorherige Diskussion) [5].
Ein solches Wesen, das sich außerhalb jeder Ordnung befindet, wird alles, was Harmonie, Gleichgewicht, Gerechtigkeit ist, ablehnen und bekämpfen (auch ohne sich dessen bewußt zu sein).
Frithjof Schuon liefert eine äußerst präzise Analyse dieses Wesens, die für das Verständnis seiner Vorstellungen und seiner Handlungsweise grundlegend ist [6]. Der Chandala, der Paria, der Unberührbare „neigt dazu, die psychologischen Möglichkeiten zu verwirklichen, die von anderen Menschen nicht zugelassen werden“, er überschreitet von Natur aus, findet Befriedigung in dem, was ausgewogene und erfolgreiche Exemplare ablehnen. Er verkörpert den Gipfel der Unreinheit, der Erniedrigung, den Gipfel der „psychologischen Dissonanz“.
Er ist zu „allem und nichts“ fähig, kann die „bizarrsten und unheimlichsten“ Tätigkeiten ausüben (Akrobat, Schauspieler, Scharfrichter) und verstößt gegen die geltenden Regeln, wie ein umgekehrter Heiliger, der sich dadurch auszeichnet, daß er sich einem unharmonischen und unausgewogenen Lebensstil unterwirft. Seine Seele hat keinen wirklichen individuellen Schwerpunkt, sein Leben entfaltet sich „in der Peripherie und in der Umkehrung“, in einer Überschreitung, die ihm „irgendwie ein Zentrum gibt, das er nicht hat“, was ihn illusorisch von seiner zweideutigen Natur befreit.
Es ist eine zentrifugale und grenzenlose Subjektivität, die ihn dazu bringt, vor dem Gesetz zu fliehen, weil es ihn zu diesem Zentrum zurückführen würde, das seiner Natur so völlig fremd ist. Er ist ein Minderwertiger und wird sich immer als solcher verhalten. Er hat nicht nur nicht die Mentalität des Überlegenen, sondern kann sie sich nicht einmal genau vorstellen: Deshalb wird jeder Wert von ihm ignoriert, wenn nicht sogar offen verachtet.
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Ehre existieren in seinen Augen einfach nicht, sie stellen nur eine Illusion dar, ein Hindernis, das seinen Aufstieg zur Macht begrenzt. Sein ganzes Wesen beruht auf der Lüge, die ihn völlig beherrscht und ihn zum ersten Opfer seiner Lügen macht, die er oft sogar glaubt, so daß er in einer Realität lebt, die noch illusorischer ist als die, zu der er die ihm Untergebenen verurteilt.
Man kann nun verstehen, warum das Lügen ein Niveau erreicht, das als pathologisch bezeichnet werden kann [7]. Es ist nicht einmal mehr eine Frage der „Staatsräson“oder des Machiavellismus, der zeitgenössische Politiker lügt, weil die Lüge sein Wesen ausmacht. Er lügt, weil es eine Notwendigkeit ist, weil seine ganze Welt darauf beruht, weil es ihm Konsistenz und Identität verleiht, ihn definiert und ihm eine Rolle in der Welt gibt.
Andernfalls wäre er gezwungen, ein Zentrum zu haben, sich an eine Ordnung zu halten, was für ihn unvorstellbar, wenn nicht gar unmöglich ist, da es ihn zum Untergang verurteilen würde. Sein Überleben beruht auf diesem Umstand. Er ist also nicht zu verurteilen, denn im Grunde ist er nur ein Selbsterhaltungstrieb. Schließlich hat es solche Individuen schon immer gegeben; das einzige wirkliche Problem liegt in ihrer Position innerhalb des sozialen Körpers, einer Position, die gegenwärtig die falscheste ist, nämlich an der Spitze, am entgegengesetzten Extrem von dem, was für sie am angemessensten wäre und was sie zu allen Zeiten eingenommen haben, als die Welt noch in einer Phase der Normalität war, noch nicht umgestürzt und in ihren Grundwerten untergraben.
Anmerkungen
[1] Ein Thema, das wir bereits mit Beispielen in ›Com’è difficile cavalcare la tigre‹, Solfanelli, Chieti, 2020, S. 33-36, behandelt haben.
[2] Natürlich ist der Inhaber des Königtums nicht naiv. Seine Pflicht ist es, alles zu tun, was nötig ist, um sicherzustellen, daß die Norm, die heilige Ordnung, erfüllt bleibt (Manavadharmashastra 7.10). Wenn er immer ohne Täuschung handeln muß, kann er seine Pläne im Verborgenen halten, so daß seine Feinde keinen Vorteil aus seinem moralischen Verhalten ziehen können, das rechtschaffen und daher notwendigerweise begrenzter ist als das von jemandem, der ohne Skrupel handelt.
[3] Mit ›anrta‹ ist unweigerlich ›nrrti‹ Auflösung, Tod, verbunden.
[4] Hierzu bereits René Guénon, im siebten Kapitel von ›Autorité spirituelle et Pouvoir temporel‹, Guy Trédaniel, Paris, 1984 (1. Auflage 1929). In diesen verschiedenen Arten, Souveränität zu erfahren und zu interpretieren, wird die funktionale Aufteilung der indoeuropäischen Gesellschaften (priesterlich, kriegerisch, merkantil, servil) erkannt worden sein, ein Interpretationskriterium, das auch für die Formulierung einer Metaphysik der Geschichte und ein besseres Verständnis der Gegenwart gilt. Vgl. ›Wie schwer es ist, den Tiger zu reiten‹, idem, S. 28-58.
[5] Ausführlicher erörtert in ›Why do the worst always rule in democracies‹, jetzt das zweite Kapitel von ›La società da liquidare‹, Solfanelli, Chieti, 2021, S. 32-37.
[6] Dieses Thema wird ausführlich in ›Caste e razze‹, Edizioni all’insegna del Veltro, Parma, 1979, S. 11-16, behandelt, dem wir die zitierten Passagen entnommen haben.
[7] In der heutigen umgekehrten Realität geht diese Situation von pathologisch zu physiologisch über.