Die Natur ist im Göttlichen, das Göttliche ist in der Natur.

 

 

Seit Anbeginn der Zeit ist der Mensch mit der Natur verbunden. Er hat versucht, sich vor ihr zu schützen, sich mit ihr zu versöhnen, um von ihr zu leben, sie dann nach und nach zu verstehen und sie heute zu kontrollieren.

Der Europäer hat in der Natur sowohl eine Matrix als auch einen Rahmen für das Heilige gefunden, in dem sich das Göttliche allmählich in Göttern und Göttinnen verkörpert hat.

Dank der von ihm erdachten Gottheiten erklärt der Europäer Naturphänomene, erzählt Geschichten, in denen er sich selbst einen Platz verschafft, erdichtet Mythen, um sein Schicksal zu verewigen, und läßt Helden erstehen, die vorleben, was zu tun oder zu lassen ist.

Auf diese Weise ersinnen die Europäer einen Kosmos, ein großes gemeinsames Universum.

Mythen erzählen uns, wie die Welt entstand und wie sie funktioniert, warum es Zyklen und Jahreszeiten gibt. So war für die alten Griechen Gaia, die Erde, die in Begleitung von Chaos und Eros aus einem tiefen Urgrund emporstieg, Quelle des Lebens. Sie allein hat Uranos, den Himmel, Pontos, das Meer, Ourea, die Berge und alle Nymphen geboren.

Bei den Slawen symbolisiert die Vereinigung von Jarilo, dem Gott der Lebenskräfte der Natur, und seiner Schwester Morana, Gottheit der Fruchtbarkeit der Erde, den Rhythmus der Jahreszeiten. Als Jarilo wegen seiner Untreue getötet wird, verwandelt sich seine trauernde Gattin in eine Göttin des Todes, des Frosts und des bevorstehenden Winters und stirbt schließlich am Ende des Jahres. Anfang nächsten Jahres werden sowohl sie als auch Jarilo wiedergeboren und der Zyklus beginnt von vorne, der Frühling kehrt zurück.

Derselbe Mythos findet sich bei der griechischen Göttin Persephone: Wenn sie sich mit ihrem Mann Hades in die Unterwelt begibt, bricht auf der Erde der Winter an. Wenn sie zu ihrer Mutter Demeter zurückkehrt, kehren Frühling, Fruchtbarkeit und Überfluß zurück.

Statuengruppe von Persephone und Hades mit dem dreiköpfigen Hund Cerberus. Archäologisches Museum Heraklion.

Die Europäer erfahren die Natur auch als rauh und wild. Sie zeigt sich den Menschen in der geheimnisvollen Schönheit der Landschaften, im eisigen Winter und im glühenden Sommer, als die Kraft der Naturphänomene…

Wenn, der Herr der wilden Tiere bei den Kelten, vorrückt, zittern die Tannen des Schwarzwaldes, die Eichen der Bibracte, die Kastanienbäume der Ardèche. Wenn der Sturm grollt, stellt sich das Kind vor, wie Thor, die nordische Gottheit, seinen himmlischen Hammer Mjölnir gegen die Riesen einsetzt. Als Erwachsener versteht er, daß die göttlichen Blitze die übermäßige Spannung zwischen Himmel und Erde unterbrechen, Regen und Fruchtbarkeit, manchmal sogar Frieden zwischen den Menschen ankündigen.

 

Für die Europäer ist die Natur wesentlich, sie haucht der Welt Leben ein. Fernab der Städte pulsieren die Wälder im Rhythmus der Tänze des Gottes Pan, dem Hirtengott, einem Mischwesen mit Menschenoberkörper und dem Unterkörper eines Widders. Er ist sowohl der Gott der domestizierten als auch der wilden Herden und zugleich der Gott und Beschützer der Jäger. Er erinnert uns an die Worte von Heraklit, daß „nichts von Dauer ist, außer dem Wandel„.

Die europäische Vorstellungskraft zeigt sich in der Wahl der Gottheiten: Artemis, Diana, die Jägerin, die über den Wald und die Berge herrscht, eine Mondgottheit als Ergänzung zu Apollo, der Lichtbringer, eine Sonnengottheit.

Für die Europäer ist der Tod etwas Natürliches, mit dem jederzeit zu rechnen ist. Wenn Skandinavier auf See sterben, fängt Rán, die Frau des Meeresgottes Ägir, sie in ihren Netzen auf. Aber die Götter selbst stehen nicht außerhalb des Gesetzes. Sie sind nicht unverwundbar. Die Parzen der Römer, die Moiren der Griechen, die Nornen der Skandinavier weben ebenfalls die Fäden ihres Schicksals.

Der europäische Mensch sieht das Göttliche überall, in jedem Augenblick. Diese Fülle erhält die Präsenz des Heiligen und die Verzauberung unserer Welt aufrecht: überall dort, wo es in Europa noch Götter für den Wind und die Sonne gibt, Geschichten, in denen sich das Rad der Jahreszeiten dreht und die Rückkehr des Frühlings ankündigt.