Clotilde Venner

Zwei verschiedene Wege, aber eine gemeinsame Schlußfolgerung: Die Geschichte ist der Ort des Unvorhergesehenen und wird von Menschen gemacht.

Zwei Denkweisen, die es ermöglichen, gegen das häufig gehörte „Alles ist verloren“ in sogenannten „rechten“ Kreisen anzukämpfen, gegen das sich Dominique immer gewehrt hat.

Doch bevor ich diesen Gedanken des Unvorhergesehenen weiter ausführe, möchte ich auf Dominiques Lebensweg und seine Beziehung zur Geschichte eingehen.

 

I. Dominique Venner und die Geschichte

Dominique interessierte sich aus mehreren Gründen für die Geschichte. Wie ich in meinem Buch (›A la rencontre d’un coeur rebelle‹) erläutere, hatte Dominique drei Leben: ein erstes, in dem er ein politischer Aktivist war, ein zweites, meditativeres, das ich als Zuflucht zu den Wäldern bezeichne, und ein drittes, in dem er der Historiker war, den wir kennengelernt haben.

Das Studium der Geschichte gewann meiner Meinung nach an Bedeutung, als er sich aus der Politik zurückzog, also am Ende seines ersten Lebens. Das Ende der Politik erlebte er als einen kleinen Tod. Um diese Prüfung zu überstehen, zog er sich aufs Land zurück, gründete eine Familie und widmete sich dort etwa 15 Jahre lang dem Verfassen von Büchern über die Geschichte der Waffen, las aber parallel dazu methodisch und intensiv vor allem historische Werke.

In all diesen Jahren stellte er sich immer wieder die Frage „Was tun?“, „Was vermitteln?“. Und es war das Studium der Geschichte, in dem er die Antworten fand. Die Geschichte ist, wenn man sie mit aktivem Denken hinterfragt, eine unerschöpfliche Quelle der Reflexion. Seine Einstellung zu ihr war die eines Denkers und nicht die eines Gelehrten, der sich mit unbedeutenden Details beschäftigt.

Es war also das Studium der Geschichte, das ihm half, die Zivilisations- und Sinnkrise zu verstehen, in der sich die europäischen Völker befanden. In der Folgezeit versuchte er in zahlreichen historischen Werken, eine Antwort auf diese Sinnkrise zu finden, insbesondere in zwei Büchern: Histoire et Tradition des Européens (Geschichte und Traditionen der Europäer) und Ein Samurai aus Europa.

II. Denken mit der Geschichte

Durch sein Studium der Geschichte und seine Meditationen über diese kam Dominique zu der Erkenntnis, daß die Geschichte der Ort des ständig Unvorhergesehenen ist, und er stimmt darin mit Giorgio Locchis Einsicht überein, daß die Geschichte offen ist.

Das Interessante an ihren beiden geistigen Wegen ist, daß sie zu denselben Schlußfolgerungen gelangten, aber auf völlig unterschiedliche Weise. Dominique war in seiner Jugend ein Aktivist gewesen, der im Gefängnis gesessen hatte, und wurde später ein anerkannter Historiker, der sich immer wieder mit den Ereignissen auseinandersetzte, die den Lauf der Geschichte verändern (Geschichte des Terrorismus, Unvorhergesehenes in der Geschichte). Und er war sich der Rolle aktiver Minderheiten bei politischen Umwälzungen sehr bewußt. Dominique wie Locchi glaubten, daß die Geschichte von Menschen gemacht wird und nicht von irgendeiner Vorsehung.

Er sagte mir oft, daß es leicht ist, Ereignisse zu analysieren, wenn sie einmal eingetreten sind (z. B. der Fall der Berliner Mauer), aber selten, sie vorherzusehen. Dieser Begriff des historisch Unvorhersehbaren machte Dominique nicht pessimistisch, sondern in gewisser Weise optimistisch, nicht im Sinne eines glückseligen Optimismus, sondern in dem Sinne, daß nichts jemals festgeschrieben ist. Jederzeit kann eine festgefahrene, scheinbar ausweglose Situation kippen. Das bedeutet, daß man nie verzweifeln sollte, denn selbst die tragischsten Situationen können sich weiterentwickeln.

Im Jahr 1970 konnte sich niemand den Zusammenbruch der Sowjetmacht vorstellen. Im Jahr 1913 sah niemand den europäischen Flächenbrand voraus, der sich 1914 ereignen würde, was Dominique in ›Le Siècle de 1914(Das Jahrhundert von 1914)  sehr gut analysiert. Absoluter Pessimismus und seliger Optimismus sind gleichermaßen dumm, denn nichts ist jemals endgültig, weder im Guten noch im Bösen. Die ständige Jammerei und der genießerische Pessimismus brachten ihn in höchstem Maße zur Verzweiflung. Diese Neigung findet sich auch in bestimmten „rechten“ Kreisen. Sein ganzes Leben lang kämpfte er unermüdlich gegen diese Geisteshaltung. Er war der Ansicht, daß diese Haltungen oftmals als Deckmantel für eine Form von Faulheit und Feigheit dienen.

Wenn ich sage, daß Dominique ein Optimist war, steht dies nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß er sich mehr als bewußt war, daß die Geschichte tragisch ist. Wenn ich seine Auffassung von Geschichte definieren müßte, würde ich sagen, daß er ein tragischer Optimist war, das ist ein etwas oxymoronischer Begriff, der sein Denken aber gut zusammenfaßt.

Aber Sie werden mir sagen, wie kann man optimistisch sein, wenn man die Geschichte der Menschen studiert, die doch eine ständige Abfolge von Schrecken ist. Sicherlich durchlaufen Menschen und Völker im Laufe der Geschichte Prüfungen und Tragödien, die sie zu vernichten drohen, aber gleichzeitig bleibt diese Geschichte immer offen, sie ist nie starr, sie ist das, was die Menschen daraus machen, sie hat den Sinn, den man ihr gibt. Aus diesem Grund schreibt Dominique am Ende von ›Le choc de l’histoire:

Was die Europäer betrifft, so deutet meiner Meinung nach alles darauf hin, daß sie gezwungen sein werden, sich in Zukunft immensen Herausforderungen und furchtbaren Katastrophen zu stellen, die nicht nur mit der Einwanderung zu tun haben. In diesen Prüfungen werden sie die Gelegenheit haben, wieder aufzuerstehen und sich selbst neu zu entdecken.

Ich glaube an die besonderen Qualitäten der Europäer, die sich vorübergehend in einem Dornröschenschlaf befinden. Ich glaube an ihre schöpferische Persönlichkeit, ihren Erfindungsreichtum und das Wiederaufleben ihrer Tatkraft.

Das Erwachen wird kommen. Wann es geschehen wird – ich weiß es nicht. Aber daß es geschehen wird, daran habe ich keinen Zweifel.

III. Das Unerwartete in der Geschichte

Dominique hatte Marx, Spengler und Evola aufmerksam gelesen und interessante Ideen darin gefunden, aber sein Denken war weit entfernt von jeder Form der historischen Teleologie, darin stand er Giorgio Locchi sehr nahe. Er glaubte nicht, daß die Geschichte einen Sinn hat oder Zyklen gehorcht, sondern war der Meinung, daß es die Menschen sind, die die Geschichte machen. So schrieb er in ›Choc de l’histoire‹:

Ich kann jedoch die Theorien kritisieren, die zu Marx‘ oder Spenglers Zeiten in Mode waren. Jede von ihnen hat auf ihre Weise die Freiheit der Menschen abgelehnt, über ihr Schicksal zu entscheiden.

Um seine Ausführungen besser verständlich zu machen, greife ich eine Formulierung des Soziologen Michel Maffesoli auf: Ereignisse erscheinen uns oft unvorhersehbar, weil „wir nicht wissen, wie das Gras wächst“. Die großen historischen Ereignisse sind meist das Ergebnis eines unterirdischen Reifungsprozesses, der für das ungeübte Auge verborgen bleibt.

Ein weiteres Element, das für Dominique wichtig war, war der Begriff der ›Repräsentationen‹. Für ihn leben und unterscheiden sich die Menschen durch die Art ihrer Repräsentationen (Religionen, Politik, Ästhetik). Und wenn man die großen historischen Phänomene verstehen will, muß man sich mit dem Studium der Mentalitäten beschäftigen. In ›Le Siècle de 1914(Das Jahrhundert von 1914) analysiert er mit feinsinniger Genauigkeit die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts – Faschismus, Liberalismus, Immigrationismus – und wie sie den Verlauf des europäischen Schicksals beeinflußt haben.

IV. Unterschiedlicher Ansatz mit Giorgio Locchi

Dominiques Ansatz ist weit weniger abstrakt und philosophisch als der von Giorgio Locchi. In vielen seiner Bücher porträtiert Dominique außergewöhnliche Männer oder Frauen. Diese Porträts hatten mehrere Funktionen. Die erste bestand darin, den Ereignissen „Fleisch“ zu verleihen. Es gibt zahlreiche Porträts von Frauen, die meiner Meinung nach eine pädagogische Rolle als „exempla“-Figuren im lateinischen Sinne des Wortes spielen, im Sinne von Plutarch und seinem „Leben berühmter Männer“. Durch seine Beschwörungen – ich denke dabei an Catherine de la Guette, Madame de Lafayette in Histoire et Traditions des européens sowie das Porträt von Penelope und Helena in ›Le Samouraï d’Occident‹ (Ein Samurai aus Europa) – vermittelt er uns, was es bedeutet, eine europäische Frau zu sein.

Schlußfolgerung: Was kann die Geschichte uns geben?

In unserer dunklen und dekadenten Zeit brauchen wir meiner Meinung nach Vorbilder, an denen wir uns orientieren können, und diese Beschwörungen historischer Persönlichkeiten können eine große Inspirationsquelle sein. Sie erzählen uns, wie unsere Vorfahren geliebt, gelitten und die Tragödien der Geschichte überwunden haben.

Philosophische Überlegungen sind notwendig, um uns intellektuell zu wappnen, und insofern ist Giorgio Locchis Arbeit wertvoll und wichtig, aber ich glaube, daß wir auch das Bedürfnis haben, uns in unserer Fantasie in das Leben unserer Vorfahren zu versetzen. Ich würde also sagen, daß Giorgio Locchi und Dominique Venner zwei sich ergänzende Autoren sind, auf die wir uns stützen können, um „das zu bekämpfen, was uns verleugnet“, um Dominiques Formulierung zu verwenden.

Kolloquium Giorgio Locchi 1923-2023

Anläßlich des 100. Geburtstags von Giorgio Locchi (Rom, 15. April 1923 – Paris, 25. Oktober 1992) fand am 25. November in Rieti, der Hauptstadt der Provinz Sabina und dem geografischen Herzen Italiens, ein Kolloquium statt, das ganz Giorgio Locchi gewidmet ist. Die Stadt Rieti hat die Schirmherrschaft übernommen, um „Giorgio Locchi zu ehren, einem Intellektuellen, Philosophen und Journalisten, der in Rom geboren wurde, aber aus der Sabina, genauer gesagt aus Salisano, stammte und der ein großer Protagonist des europäischen Denkens in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts war“. Ein großer Protagonist, den wir erst jetzt richtig zu würdigen beginnen, da die wahre Tragweite seines Denkens erst in den letzten Jahren zum Vorschein gekommen ist.

Sein Hauptwerk ›Wagner, Nietzsche et le mythe surhumaniste‹ (Wagner, Nietzsche und der surhumanistische Mythos), der kürzlich auf Französisch herausgegeben wurde, bleibt ein Meilenstein des philosophischen Denkens, dessen Tragweite noch nicht wirklich verstanden wurde. Locchi sieht darin die Beziehung zwischen Wagner und Nietzsche in einem neuen Licht und identifiziert in den beiden großen Protagonisten der Kultur des 19. Jahrhunderts die Initiatoren einer neuen historischen Strömung, eines „neuen Mythos“, des surhumanistischen Mythos, der dazu bestimmt ist, den egalitären Ideologien den Kampf anzusagen.

Darüber hinaus sieht Locchi in einem kürzlich ans Licht gekommenen Text, der demnächst ins Deutsche übersetzt wird, in Martin Heidegger den wichtigsten philosophischen Nachfolger des von Wagner und Nietzsche eingeschlagenen Weges, wobei er erneut völlig originelle Kategorien zur Interpretation des Denkens des bei weitem einflußreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um einen unschätzbaren Beitrag, der zu einem harten Kampf mit den vorherrschenden akademischen Interpretationen des Heideggerschen Denkens führt und wertvolle Schlüssel liefert, um sich seiner „Vereinnahmung“ durch die Verfechter der egalitären Ideologie zu widersetzen.

Das Ergebnis dieser beeindruckenden theoretischen Bemühungen ist ein radikales, nicht nostalgisches Denken, das in den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft verankert und in der Lage ist, die aktuellen Debatten aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten sowie denjenigen neue Argumente und Anregungen zu geben., die sich um die europäische Identität und den Kampf gegen die immer zahlreicher werdenden Bedrohungen, die sie gefährden, sorgen.

Das Kolloquium war zweifellos ein Meilenstein, da sein Sohn Pierluigi einen bisher unbekannten Teil von Giorgio Locchis Reflexionen und Arbeiten über den laufenden anthropologischen Wandel vorstellte, die von einem bald zu gründenden ›Zentrum für Locchi-Studien‹ in den Alpen verbreitet und weitergeführt werden sollen.

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/12/14/giorgio-locchi-et-dominique-venner-penseurs-de-l-histoire.html
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