Karlfried Graf Dürckheim

Wo der Mensch zum Wesen erwacht ist und sich ihm gemäß auch verwandelt, vernimmt er die Stimme des Seins und handelt als unverstelltes Organ ganz unmittelbar aus ihm heraus. Dann ist zwischen Denken und Tun kein Hauch. Aus allem Tun des zum Wesen Erwachten erklingt die ewige Melodie des Großen Lebens. Sie klingt aus seinem Schweigen, wie aus seinem Reden. Und sein Tun ist kein Machen, sondern ein Zulassen des LEBENS, das immerzu in allem Empfangen wie in allem Tun, immer in der Sprache des jeweils besonderen Tuns, durch uns ans Licht drängt, als Werk, Tat oder einfach als lebendige Strahlung.

Wie das Sein uns berührt, das läßt sich nicht sagen: Wir erfahren es auf dem Hintergrund unseres gewöhnlichen Daseins als Paradox – und also auch als Ärgernis für den gewöhnlichen Verstand. So kommt es zu uns als unfaßbare Fülle mitten im Elend, es leuchtet ganz plötzlich auf als ein Licht, mitten im Dunkel, und wir fühlen es als große Geborgenheit mitten in der Verlassenheit dieser Welt. Und in unbegreiflicher Weise nimmt es uns Trauer, Verzweiflung und Angst von der Seele. Und ebenso ist auch »Tun aus dem Sein« ein unbegreifliches Tun. Es ist das Gegenteil des gewöhnlichen Tuns. Es ist ein Tun im Nicht-Tun, das mühelos vollbringt, was kein bewußtes Bemühen vermag. Es ist dem Tun des natürlichen Ich nicht nur überlegen, sondern ganz etwas anderes.

Für das natürliche Ich ist das Kämpfen, Gestalten, Lieben abhängig von Bedingungen. Es beruht auf dem, was man kann, hat, weiß oder fühlt. Das Tun aus dem Wesen vollzieht sich jenseits aller Bedingung aus einer unbedingten Verfassung. Es geschieht mit nachtwandlerischer Sicherheit, wie unbewußt und unbeteiligt an dem, was »herauskommt«, uninteressiert am Erfolg.

Aus dem Wesen heraus liebt der Mensch jenseits von Sympathie und Antipathie. Sein Lieben ist ein Zustand, in dem er über sein eigenes Ich weit hinaus ist. Es ist Ausdruck der allverbindenden Einheit des Seins, an der er in seinem Wesen teilhat und die, wo immer er ist, allumfangend wärmt, löst und neues Leben erweckt. Aber vom Sein ergriffen, ist der Mensch doch ohne »Gefühle«. So auch wirkt der Mensch, der aus dem Wesen heraus da ist, ohne zu »tun«.

Fraglos ordnend und gestaltend, wie unbeteiligt am Erfolg, wächst absichtslos, mühelos, wie von selbst, die Form aus der schaffenden Hand. Sie ist Zeugnis eines Geistes, den nichts daran hindert, ganz unmittelbar Gestalt werden zu lassen, was dem inneren Bilde entspricht. Und so auch kämpft der Mensch, der zum Wesen erwacht ist, als gäbe es für ihn keine Gefahr. Er kämpft standfest, treffsicher und furchtlos. Unbeteiligt an Sieg oder Niederlage siegt er so, ohne eigentlich zu kämpfen, dank einer Kraft, die aus der Tiefe kommt. Er kann sie zulassen in dem Maße, als er über sein natürliches Ich hinauswuchs, und sie kann für ihn fechten und siegen in dem Maße, als er sein natürliches Ich aus dem Spiel hält.

Was bedeutet also: »Wie unbeteiligt«, »wie unbewußt« und »ohne zu tun«? Es bedeutet, daß ein Mensch jenes Ich zu überwinden gewußt hat, das von Gefühlen bewegt und mit gespannter Aufmerksamkeit vor allem darauf bedacht ist, sich und seine Position in der Welt zu wahren, zu gelten und zu besitzen. »Wie unbewußt« heißt also nicht,, daß kein Bewußtsein da sei – »wie unbeteiligt« nicht, daß keine Ergriffenheit da sei, und »Nicht-Tun« bedeutet nicht »nichts« tun. Nur die Ich-Bewußtheit, die Ich-Beteiligtheit und das Ich-Tun (das Machen) sind aufgehoben zugunsten einer völlig anderen »Präsenz«. In ihr ist der Mensch in einer Weise hellwach da, ergriffen und wirksam in Tat und Werk, die jede Ich-Weise zu denken, zu fühlen und zu tun, weit hinter sich läßt.

Das Tun ohne zu tun ist also kein Nichts-Tun, sondern ein mächtiges Wirken, das wie von selbst aus einer Verfassung des Menschen herauswächst, in der er durchlässig ist für sein Wesen. Es ist die Verfassung, in der das Ich zurücktritt, das, indem es sich an die Stelle des Wesens setzt und die Kraft aus dem Wesen verstellt, Wesen und Welt voneinander trennt.

Solange der Mensch im Banne dieses Ichs steht, ist er in seinem Selbst- und Lebensbewußtsein wie in seinem Tun und Lassen abhängig von der Welt und dem, was es in ihr hat, kann oder gilt. Wo aber das Ich, das uns vom Wesen trennt, den Gegensatz von Ich-Stand und Gegenstand, von Ich und Gegen-Ich herbeiführt und aufrechterhält, zurücktritt, wächst alles Tun ganz unmittelbar aus der Einheit ungeteilten Lebens hervor.

Auch die Bewährung eines Könnens ist nicht mehr von Umständen und Bedingungen abhängig. Und in der unstörbaren Zielsicherheit und Wucht seines Tuns und seiner Kraft zum rechten Kämpfen und in seiner Gelassenheit zu vollendetem Gestalten zeugt der Mensch in seinem Handeln von einem tieferen Sein.

Es geht um das rechte Kämpfen. Leben ist ja immer auch Kämpfen. Dem gewöhnlichen Menschen erscheint dies als der große Widerspruch zur Idee einer friedlichen Welt, einer Welt nur der Liebe und der Harmonie – und er träumt von einer Welt ohne Kampf.

Das ist ein unfruchtbarer Traum; denn die Vorstellung eines Lebens ohne Kampf ist eine Illusion. Es gibt eine Weise des Kampfes jenseits des Kämpfens und so auch einen Sieg ohne Kämpfen gibt und ein Siegen ohne zu töten. Wo das verstanden wird und auch nur ein Funken dieser Weisheit ins Herz dringt, ändert das Leben sich.

Der Übung in einer Werk- oder Tathandlung als Weg zur Erfahrung dieses Seins wie als Übung zur Bewährung des Wesens steht gleichgewichtig gegenüber die Übung im reglosen Sitzen, die Übung des Zazen. Ja, diese Übung zur Sammlung und völligen Stille ist allen anderen Übungen vorgelagert.

Auszug aus dem Buch von Karlfried Graf Dürckheim (1886-1988): Die wunderbare Kunst einer Katze und andere Zen-Texte

Karlfried Graf Dürckheim (1886-1988)

 

Die Bilder im Beitrag: Zen-inspirierte Malerei von Klaus Holitzka aus dem Buch ›Die Leere des Zen‹ (Achim Seidl & Klaus Holitzka)