Thierry Meyssan

Zum ersten Mal wird die Welt live im Fernsehen Zeuge eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Die USA und Israel, die ihr Schicksal seit langem vereint haben, werden beide für die Massenmorde in Gaza verantwortlich gemacht. Überall, außer in Europa, ziehen die Verbündeten Washingtons ihre Botschafter in Tel Aviv zurück. Morgen werden sie dies auch in Washington tun. Alles geschieht wie beim Zerfall der UdSSR und wird auf die gleiche Weise enden: Das amerikanische Imperium ist in seiner Existenz bedroht. Der Prozeß, der gerade in Gang gesetzt wurde, kann nicht mehr aufgehalten werden.

Während wir auf die Massaker an Zivilisten in Israel und Gaza starren, bemerken wir weder die inneren Spaltungen in Israel und den USA noch die gewaltigen Veränderungen, die dieses Drama in der Welt auslöst. Zum ersten Mal in der Geschichte werden im Fernsehen massenhaft und live Zivilisten getötet.

Überall – außer in Europa – vereinen sich Juden und Araber, um ihren Schmerz herauszuschreien und zum Frieden aufzurufen.

Überall erkennen die Völker, dass dieser Völkermord nicht möglich wäre, wenn die USA die israelische Armee nicht in Echtzeit mit Bomben beliefern würden.

Überall rufen Staaten ihre Botschafter in Tel Aviv zurück und fragen sich, ob sie die Botschafter, die sie nach Washington geschickt haben, zurückrufen sollen.

Natürlich haben die USA diesem Spektakel nur widerwillig zugestimmt, aber sie haben es nicht einfach zugelassen, sondern mit Subventionen und Waffen ermöglicht. Sie haben Angst, nach ihrer Niederlage in Syrien, ihrer Niederlage in der Ukraine und vielleicht bald auch ihrer Niederlage in Palästina ihre Macht zu verlieren. Denn wenn die Armeen des Imperiums nicht mehr furchteinflößend sind, wer wird dann weiterhin Transaktionen in Dollar statt in seiner eigenen Währung abwickeln? Und wie wird Washington in diesem Fall andere für das bezahlen lassen, was es ausgibt, wie werden die USA ihren Lebensstandard aufrechterhalten?

Aber was wird am Ende dieser Geschichte passieren? Daß der Nahe Osten revoltiert oder daß Israel die Hamas auf Kosten Tausender Menschenleben zerschlägt?

Wir werden uns daran erinnern, daß Präsident Joe Biden Israel zunächst aufgefordert hatte, seinen Plan aufzugeben, das palästinensische Volk nach Ägypten umzusiedeln oder alternativ dazu vom Angesicht der Erde auszurotten, und Tel Aviv ihm nicht gehorchte.

Die „jüdischen Supremacisten“ verhalten sich heute genauso wie 1948.

Als die Vereinten Nationen für die Gründung zweier Bundesstaaten in Palästina stimmten, eines hebräischen und eines arabischen, riefen die Streitkräfte den hebräischen Staat selbst aus, bevor dessen Grenzen festgelegt worden waren. Die „jüdischen Supremacisten“ vertrieben sofort Millionen von Palästinensern aus ihren Häusern (die ›Nakhba‹) und ermordeten den UN-Sonderbeauftragten, der einen palästinensischen Staat gründen wollte. Die sieben arabischen Armeen (Saudi-Arabien, Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon, Syrien und Nordjemen), die versuchten, sich ihnen entgegenzustellen, wurden schnell weggefegt.

Auch heute gehorchen sie ihren Beschützern nicht und morden wieder, ohne zu merken, daß sie dieses Mal von der Welt beobachtet werden und ihnen niemand mehr zu Hilfe kommen wird. In dem Moment, in dem die Schiiten das Prinzip eines hebräischen Staates anerkennen, gefährdet ihr Wahnsinn die Existenz dieses Staates.

Wir erinnern uns daran, wie die Sowjetunion zusammengebrochen ist. Der Staat war nicht in der Lage gewesen, seine eigene Bevölkerung bei einem katastrophalen Unfall zu schützen. 4000 Sowjetbürger starben im Kernkraftwerk Tschernobyl (1986), als sie ihre Mitbürger retteten. Die Überlebenden fragten sich damals, warum sie 69 Jahre nach der Oktoberrevolution immer noch ein autoritäres Regime akzeptierten. Der Erste Sekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, schrieb, daß er erst, als er diese Katastrophe sah, begriff, daß sein Regime bedroht war.

Es folgten die Dezemberunruhen in Kasachstan, die Unabhängigkeitsdemonstrationen in den baltischen Staaten und in Armenien. Gorbatschow änderte die Verfassung, um die alte Garde der Partei aus dem Weg zu räumen. Doch seine Reformen reichten nicht aus, um das Feuer zu stoppen, das sich in Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, der Ukraine und Weißrussland ausbreitete.

Der Aufstand der ostdeutschen Jungkommunisten gegen die Breschnew-Doktrin führte zum Fall der Berliner Mauer (1989). Der Zerfall der Macht in Moskau führte zur Einstellung der Hilfe für die Verbündeten, darunter Kuba (1990). Schließlich kam es zur Auflösung des Warschauer Pakts und zum Zerfall der Union (1991). In etwas mehr als fünf Jahren ist ein Imperium, das alle für ewig hielten, in sich zusammengebrochen.

Dieser unausweichliche Prozeß hat gerade für das „amerikanische Imperium“ begonnen. Die Frage ist nicht, wie weit die „revisionistischen Zionisten“ von Benjamin Netanjahu gehen werden, sondern wie weit die US-Imperialisten sie unterstützen werden. Wann wird Washington zu dem Schluß kommen, daß es mehr zu verlieren hat, wenn es palästinensische Zivilisten abschlachten läßt, als wenn es die israelische Führung korrigiert?

Dasselbe Problem stellt sich für ihn in der Ukraine. Die militärische Gegenoffensive der Regierung von Volodymyr Zelensky ist gescheitert. Jetzt geht es Rußland nicht mehr darum, die ukrainischen Waffen zu zerstören, die sofort durch von Washington angebotene Waffen ersetzt werden, sondern darum, diejenigen zu töten, die mit ihnen umgehen. Die russischen Armeen verhalten sich wie eine gigantische Zermalmungsmaschine, die langsam und unaufhaltsam alle ukrainischen Soldaten tötet, die sich den russischen Verteidigungslinien nähern. Kiew kann keine Kämpfer mehr mobilisieren und seine Soldaten weigern sich, Befehle zu befolgen, die sie zum sicheren Tod verurteilen. Seine Offiziere haben keine andere Wahl, als die Pazifisten zu erschießen.

Viele US-amerikanische, ukrainische und israelische Politiker sprechen bereits von einer Ablösung der ukrainischen „integralen nationalistischen“ Koalition und der „jüdischen supremacistischen“ Koalition, aber die Kriegszeit ist dafür nicht geeignet. Dennoch wird es nötig sein.

Präsident Joe Biden muß seine ukrainische Marionette und seine barbarischen israelischen Verbündeten ersetzen, so wie Premierminister Michail Gorbatschow seinen rückgratlosen Vertreter in Kasachstan ersetzen mußte und damit den Weg für eine breite Protestaktion gegen korrupte Herrscher ebnete. Wenn Zelensky und Netanjahu entlassen worden sind, wird jeder wissen, daß man den Kopf eines Vertreters Washingtons bekommen kann, und jeder von ihnen wird wissen, daß er fliehen muß, bevor er geopfert wird.

Dieser Prozeß ist nicht nur unausweichlich, er ist unerbittlich. Präsident Joe Biden kann nur alles in seiner Macht Stehende tun, um ihn zu verlangsamen, um ihn in die Länge zu ziehen, nicht um ihn aufzuhalten.

Die Völker und Führer des Westens müssen jetzt die Initiative ergreifen, um sich aus diesem Schlamassel zu befreien, ohne darauf zu warten, daß sie im Stich gelassen werden, wie es Kuba unter den Entbehrungen seiner „Sonderperiode“ tat. Es ist dringend: Diejenigen, die zuletzt reagieren, werden die Rechnung für alle bezahlen müssen. Schon jetzt fliehen viele Staaten aus dem „Rest der Welt“. Sie stehen Schlange, um den BRICS-Staaten oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit beizutreten.

Mehr noch als Rußland, das sich von den baltischen Staaten trennen mußte, müssen sich die USA auf innere Aufstände vorbereiten. Wenn es ihnen nicht mehr gelingt, den Dollar im internationalen Handel durchzusetzen, und ihr Lebensstandard zusammenbricht, werden die armen Regionen den Gehorsam verweigern, während die Reichen sich unabhängig machen werden, angefangen mit den Republiken Texas und Kalifornien (die einzigen, die laut den Verträgen rechtlich dazu in der Lage sind) [1]. Es ist wahrscheinlich, daß der Zerfall der USA zu einem Bürgerkrieg führen wird.

Der Zerfall der USA wird den Zerfall der NATO und der Europäischen Union nach sich ziehen. Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich werden sich mit ihren alten Rivalitäten konfrontiert sehen, weil sie nicht darauf reagiert haben, als es an der Zeit war.

Innerhalb weniger Jahre werden Israel und das „amerikanische Imperium“ verschwinden. Diejenigen, die – als Vasallen der USA – nicht fähig und willens waren, sich der Fesseln zu entledigen, werden Kriege und unnötige Todesfälle in großer Zahl verursachen und vor ihren Völkern dafür verantworten müssen.

(1) „Der Bürgerkrieg wird in den USA unvermeidlich“, von Thierry Meyssan, Voltaire Netzwerk, 15. Dezember 2020.

Quelle:https://www.voltairenet.org/article219976.html