Hans-Friedrich Blunck

Aus dem Buch

›Sterne und Gelichter‹

Daß es Frau Holle ist, die alle heimlichen Liebenden beschützt, wißt ihr wohl, und wie wenig wir ihrer entraten können, will ich an einer Geschichte kundtun.

Einmal, als die gütige Frau uns zürnte und allzugange von der Erde fernblieb, brach eine böse Zeit für die Menschen an. Vater und Mutter vergaßen ihre Kinder, Sohn und Tochter wollten von den Eltern nichts mehr wissen, alle Liebe wurde dumpf und tot. Es waren schlimme Jahre, die über die Welt kamen. Am längsten ertrug sie noch ein Dichter mit seiner Vertrauten, die hielten ihr Herz warm.

Als der Bursch aber sah, daß aller Menschen Sinn so leer und öde wurde, da jammerte es ihn allzusehr. Er sagte, er wolle jetzt selbst ausgehen, Frau Holle zu suchen, und ließ sein Mädchen daheim. Und er suchte und suchte, aber er fand Frau Holle nicht. Die Welt wurde immer kälter und trauriger, grauer und trostloser. Und die Zeit ging.

Als das Mädchen, das zurückgeblieben war, nun gar so einsam war in der grauen Welt, als ihr Liebster nicht wiederkam und sie auch kein Wort mehr von ihm hörte, grämte sie sich zu Tode. Und sie bereitete ein Grab und pflanzte drei Lilien, zwei zu Häupten und eine zu Füßen.

Und die Lilien wuchsen, als sie gestorben war, und trugen drei herrliche weiße Blumen. Aber in der einen von ihnen, die zu Füßen des Grabes stand, verbarg sich des Mädchens Seele, die wartete noch immer auf ihn, der zurückkommen wollte. Der Tod wußte davon, er hatte wohl Mitleid und ließ sie warten.

Nun kam nach einer Weile ein feister Kerl vorbei, der wußte nicht, wie er seine Zeit am besten verbrächte; er trat, wo er durch die Blumen ging, alle Schmetterlinge tot und schlug nach allen Vögeln im Busch. Als der die drei Lilien sah, hieb er die eine zu Häupten des Grabes ab und ließ sie liegen, wo sie lag. Aber sie wurde, kaum daß er den Rücken kehrte, zum Vögelchen, das flog zwitschernd zu Höhe und suchte von Ort zu Ort den Weg, den der Bursch vor ihm gegangen war. Wieder nach einer Weile kam ein riesiger Faustkämpfer die Straße entlang. Der war müde vom Kämpfen und warf sich zum Schlaf nieder. Und er brach dabei die zweite der Lilien, die zu Häupten stand; sie fiel in ein Wasser, das vorüberfloßt, da wurde sie zu einem Fisch, der flink den Fluß hinaufschnellte und sich den Weg suchte, den des Mädchens Liebster vorangegangen war.

Endlich aber, als der Herbst kam, welkte auch die dritte Lilie, in der verborgen die Seele wohnte, und der Tod kam vorüber und fragte: „Wartest du noch immer auf ihn?“
„Ach“, sagte das Mädchen, „ich warte noch immer, und er ist noch nicht heimgekommen, laß mir doch noch ein wenig Zeit.“
„Ich kann dir nicht länger Zeit lassen“, sagte der Tod. Und er nahm sie, um sie zum weißen Eiland zu bringen; auf dem die wohnen, die von Gott nicht zu einem anderen Leben noch zu seinen Knechten erwählt sind. Aber er war zart und sorgsam gegen die Seele des Mädchens, denn er wußte wohl, daß sie viel Leid erlitten hatte. Und er behütete sie auf dem langen Weg, vorüber am Noweskrug, vorüber am grauen Hafen und weiter über das große Meer zur weißen Insel. Dort baute er ein Haus für sie wie für die anderen. Und der Nebel wehte über die Heide.

Nun war der Liebste des Mädchens inzwischen durch viele, viele Länder gewandert und von Stadt zu Stadt gegangen, um Frau Holle zu suchen und sie zu bitten, sich der Menschen wieder anzunehmen. Aber er hatte sie nicht gefunden, und es war ihm sehr leid um die Leute, die ärmer und ärmer wurden, und bitter leid um seine Vertraute, die auf ihn wartete und zu der er doch nicht heimkehren konnte, bis er die Himmlische gefunden hatte.

Endlich kam er auch zum Noweskrug, der liegt ja am Ende der Welt; kein Lebendiger kann darüber hinaus, ein schlimmes Feuer brennt vor jedem, der ihn leibhaftig betreten will. Als der Bursch nun davor hin und her wanderte und immer hoffte, daß hinter jenen Feuern vielleicht die schöne Frau Holle wohne: Auf einmal kam ein Vöglein, das erbot sich, ihm zu helfen. Und es flog auf und ab und wuchs vor seinen Augen, bis es groß wie ein Falk wurde und noch größer und größer, fast wie der Vogel Greif. Da ließ es sich nieder, der Bursch sprang ihm auf den Rücken, und in einem Augenblick hatten die Flügel ihn über das Feuer geführt, das doch sonst kaum ein Mensch überwindet.

Und er flog über den Noweskrug hinweg bis zum Hafen der Toten, ich weiß nicht wie rasch. Aber als der dem Meer nahe kam, begann sich der Vogel zu fürchten und wagte sich nicht mehr über die graue Weite. Und wie er so verzagte, wurde er kleiner und kleiner und vermochte endlich seine Last nicht mehr zu tragen. Er fiel mit ihr nieder und flog wieder, ein zwitschernder, ängstlicher Fink, hin und her.

Das stand der Bursch nun auf und suchte in allen Höfen der Fergenstadt; niemand wußte ihm jedoch Bescheid zu geben, wo Frau Holle sei. Er ging aber auch am Hafen auf und ab; da kam ein Fisch und fragte ihn, wohin er wolle. Und der Mann erzählte ihm, er suche Frau Holle, ach, und er habe es so eilig und habe schon so lange Zeit nach ihr geforscht. Seine Liebste warte daheim.

Kaum hatte er das gesagt, da wuchs der Fisch blitzschnell, erst wie ein Stör, dann wie ein Tümmler so breit und lang. Der Wanderer konnte sich ihm bald auf den Rücken setzen, und das Tier trug ihn, ich weiß nicht wie lange, und brachte ihn wahrhaftig bis ans Ufer des Witteölands.

Drüben suchte sich der Bursch unverzagt drei Tage durch Grau und Traurigkeit, und er ging einen Weg, an dem lagen viele Blumen, die im Regen starben. Als er aber zu den Höfen der Toten kam und an die siebente Tür klopfte, sah er jäh seiner Verlassenen Angesicht. Und sie freuten sich wohl über das Wiedersehen und waren doch traurig, denn sie wußten jetzt, daß sie einander auf Erden nicht mehr finden würden. Aber als der Mann davon sprach, daß er Frau Holle drüben bei den Menschen nicht angetroffen habe: „Vielleicht ist sie in unserm Land, laß uns nach ihr suchen“, sagte das Mädchen.

Da machten sie sich auf und fragten sich weit durch das Reich der Gestorbenen. Die klopften an alle Hütten an, und einige hatten die schöne Frau in der Ferne gesehen, andere erzählten, daß sie ihnen tröstend geholfen hätte, und viele hofften, daß sie noch helfen würde, denn sie sucht da drüben die Besten der grauen Insel für sich. Aber sie fanden Frau Holle nicht.

Endlich wurde das Mädchen sehr müde von ihren langen Wegen, und der Bursch verzagte und sagte: „Hier auf dem Witteöland, auf der weißen Insel ist Frau Holle nicht mehr; ich werde dich verlassen und weitergehen müssen, um sie anderswo zu suchen.“

Das Mädchen begann zu weinen, aber es wagte nicht, ihn zu bitten, bei ihr zu bleiben. Er werde bald wiederkommen, tröstete der Mann, aber erst müsse er Frau Holle finden, die Erde sei so entsetzlich leer und ohne Trost, was solle nur aus den Menschen werden?

Nun hatte inzwischen die schöne Frau Holle von einem Manne gehört, der ohne Tod und Führer zur grauen Insel gekommen war – vielleicht ist es ja auch an dem, daß die gütige Frau immer kommt, wenn Liebe es am schwersten hat. Auf einmal, als die beiden Brautleute gerade auseinandergehen wollten, stand eine Fremde vor ihnen und fragte die Weinende nach ihrem Kummer.

Da erzählte die Dirn traurig, wie es ihr ergangen war, sie sagte aber auch, daß sie ihrem Liebsten nicht zürne, wenn nur allen Menschen geholfen würde außer ihr allein. Und der Bursch rechtfertigte sich und erzählte, wie arg es geworden sei, seitdem Frau Holle sich von der Erde abgewandt habe. Er sprach dabei so kühn – ach, es wußte ja niemand so zu sprechen wie gerade dieser Mann; alle Not und alle Unbarmherzigkeit, alles Unglück und alle Verlorenheit wußte er zu schildern. Und er hielt nicht an, bis er des Erbarmens dieser Fremden gewiß war, und bat sie, ihn nun doch zu Frau Holle zu führen. Die müsse und müsse heimkehren, damit die Liebe auf Erden von neuem aufspränge, damit die Mädchen wieder zu tanzen und die Kinder zu singen wüßten wie vordem und damit die Männer zum andern die Sehnsucht trügen. Und er bat so lange, bis die fromme Frau Holle einsah, daß sie in jene alte Welt heimkehren mußte, die sie verlassen hatte.

Da nahm sie schweigend den Bursch und das Mädchen an der Hand und schritt mit ihnen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Als sie dabei den Strom erreichten, mußte der Riesenschiffer sie heimführen, und ein Fisch, winzig klein, sprang bis zu des Mädchens Lippen. Und als sie beim Noweskrug entlang kamen, flog ein Vöglein wie eine Feder zum Mund des Mädchens, da kam dem das Blut wieder in die Wangen.

Und Frau Holle schritt über das Land und führte rechts und links die Liebenden an der Hand. Wo sie vorbeikamen, vergaßen die Menschen ihre rechnende Trägheit und wurden gut, mitleidsvoll und opferbereit, wie sie es früher gewesen waren. Und die drei schritten weiter und weiter. Und wo sie hingingen, lächelten die Kinder, die Frauen erblühten, und die Männer begannen von neuem zu werben und zu wirken. Die Vögel sangen einander Lieder vor, und die Bäume warfen den Staub ab und blühten.

Glaubt mir, sie ist auf dem Weg, eine Tages wird sie zum andernmal auch in unser Land einkehren.

 

Holle, die Große Göttin Mitteleuropas, ist in den verschiedenen Gegenden, in denen sie heimisch ist, unter unterschiedlichen Namen bekannt: Frau Gode, Frau Herke, Frau Frigg heißt sie im Norden und Nordwesten Deutschlands, Holle in der Mitte (vom Norden Baden-Württembergs bis nach Sachsen), Percht oder Berchta im Süden und in Österreich.

Sie hat viele Namen. Sie ist die Huld, die Holde oder einfach auch nur Holle. Der Name selbst stammt von dem Adjektiv hold ab. Im Gotischen (hulþ) und im protogermanischen (urgermanischen) war dieses Wort bereits in Gebrauch. Eine Göttin namens Hludana verehrten die Stämme am Mittelrhein bereits im 2. Jahrhundert.

Ihr Name hat sich aus einem Verbot der alten, heidnischen Gottheiten geformt. In einer Zeit, als die uralten Göttinnen nicht mehr genannt werden durften, fanden sich neue Wege, altes Wissen zu erhalten. So lebte statt der Frigg die Frau Holle in scheinbar harmlosen Märchen und Sagen weiter. Sie wurde jedoch vor allem in dem Märchen der Gebrüder Grimm so stark mit christlichen Tugenden durchtränkt, sodaß kaum noch etwas an ihr einstiges göttliches, teils auch wildes Wesen erinnert.

Frau Holle ist eine uralte Göttin, die vielleicht aus dem Geschlecht der Riesen selbst stammt. So taucht die Riesin Hulda in der altnordischen Sturlunga saga auf. Snorri Sturluson, der die berühmte Snorra-Edda schrieb, erwähnte Huld in der Ynglinga saga. Huld ist dort eine große Zauberin mit seherischen Kräften.

 

Beitragsbild: Holda, die gütige Beschützerin, Gemälde von Friedrich Wilhelm Heine, 1882