Wolfgang Bethge
Auszug aus dem Buch
AN DIE KÜNSTLER, FÜR EINE NEUE KUNST
Vom einst leuchtenden Europa ist in diesen Tagen nicht mehr als ein Aschehaufen übrig, der lautlos in sich zusammensinkt.
Vor diesem Hintergrund muß denn auch das besonders in konservativen Kreisen beliebte Wort Gustav Mahlers betrachtet werden, daß Tradition nicht heißt, die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzugeben. Wenn gefordert wird, die alten Traditionsstränge wieder aufzunehmen, so bedeutet dies keinesfalls die Rückkehr zu den äußeren Umständen eines 20., 19. oder sonst eines Jahrhunders. Was hier – und insbesondere mit Blick auf die Kunst – gemeint ist, ist Rückbesinnung auf die ureigenste Wesenhaftigkeit des europäischen Menschen.
Heilige Flamme glüh, glüh und erlösche nie.
Dies schließlich ist es auch, was den vermeintlichen Künstlern und Kunstkennern heute ein so unerträglicher Dorn im Auge ist. Durch die Jahrtausende hindurch sehen sie mit müdem Gähnen das gleiche und immer wieder gleiche. Der liebt die, und die liebt den, hier werden Waffen geschwungen, da Ungeheuer bekämpft, und dort drüben gehen sie allesamt vor Verzweiflung über dieses oder jenes tränenreich in den Tod. So oder ähnlich könnte für die erzählende Kunst gedacht werden. Für die bildende Kunst mag dasselbe in anderen Formen gelten. Da sind die Helden immer stark, die Frauen immer schön, und überhaupt geht nichts ohne Pathos.
Man kann diesen Zeitgenossen nur die Worte ausgerechnet Heinrich Heines entgegenhalten, der doch die Zukunft Deutschlands bekanntlich in einem Nachttopf gesehen haben will. In seiner ›Harzreise‹ schreibt er über die Landschaft:
Da sind Sonne, Bäume, Blumen, Wasser – und Liebe. Freilich, fehlt letztere im Herzen des Beschauers, so mag das Ganze wohl einen schlechten Anblick gewähren, und die Sonne hat dann bloß so und so viele Meilen im Durchmesser, und die Bäume sind gut zum Einheizen, und die Blumen werden nach den Staubfäden klassifiziert, und das Wasser ist naß.
Diese Liebe, von der Heine noch sprechen konnte, fehlt den heutigen Betrachtern vollständig. Sie fordern nicht die übermenschliche Gestaltung, sie fordern das Unmenschliche und sind etwa dem Komponisten James Horner böse, wenn er für den Film ›Avatar‹ nicht eine völlig neue, außerirdische Musik erfindet, wo die Handlung doch auf einem fremden Planeten spielt. Es sind aber keine Außerirdischen, sondern einzig Menschen die Empfänger unserer Kunst. Ob wir uns dabei nun in bürgerlichem oder fürstlichem Umfeld, im Wilden Westen, in der Antike oder im Weltraum bewegen, das spielt letzten Endes keine Rolle. Die Anzahl der möglichen Geschichten ist so begrenzt wie unerschöpflich. Auf die reine Handlung, den neudeutschen „Plot“ heruntergebrochen, unterscheidet die größten Dramen nur verschwindend wenig von billigen Telenovelas im Vorabendprogramm.
Der italienische Dichter Carlo Gozzi (1720-1806) sprach davon, daß es nicht mehr als 36 dramatische Situationen gebe, welche der französische Dramaturg Georges Polti (1867-1946) später ausführlich beschrieb. Von Goethe hören wir, daß Schiller zu seiner Zeit versucht habe, noch weitere zu finden. Tatsächlich kam er aber nicht einmal auf die 36 von Gozzi. Man wird nun, was die Dichtung anbelangt, niemals und selbst in tausend Jahren nicht anders als nah bei diesen wenigen dramatischen Situationen arbeiten können. Die Gesetze der Dramaturgie spannen den festen Rahmen auf, der anschließend frei ausgestaltet werden kann.
Allein Bedeutungen zu erkennen, Wesenhaftes zu schauen und zu gestalten, das erst schafft den Unterschied wie Tag und Nacht.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis.
So schloß schon Goethes Faust, dieses mit einem eigenen Herzblut geschriebene Zeugnis ewig-weißen Menschentums. Auch wenn hier hauptsächlich die alten Dichter wohlwollend zitiert werden, so nehme man das aber nicht als Feindschaft wider das Neue. Im Gegenteil!
Bezeugt die Not, ihr Meister, die euch rief.
Bezeugt das Werk, darin die Not verwunden,
Die je zu Tag schrie, klemm und herzenstief.
Doch alle Zukunft trug, da sie entbunden! (Kolbenheyer)
Denn wohl: Wir schätzen die Alten, wie Söhne und Töchter ihre Väter nur schätzen können. Aber wir wollen nicht ewig nur zitieren, wo wir selbst etwas zu sagen haben. Wir wollen die großen Fußstapfen unserer Vorgänger nicht bloß ausfüllen, sondern selber neue Wege beschreiten. Auch uns soll man dereinst zitieren, lesen, sprechen und singen!
Ehe wir aber daran denken können, selbst Meister zu werden, müssen wir uns – nicht umsonst dieser Begriff – als Geselle oder zu Beginn auch als Lehrling befleißen. Denn vor jeder Kunst steht das Handwerk. Erst wenn handwerkliche Perfektion erreicht ist, kann vielleicht Kunst werden.
Der Volksmund kennt viele Sprichwörter vom Handwerk, die nicht bloß den Schuster betreffen, sondern genauso auch den werdenden Künstler angehen. So sind Lehrjahre bekanntlich keine Herrenjahre. Der Lehrling muß hinter seinen Vorgängern zurücktreten, um ihnen überhaupt über die Schulter blicken zu können. Und lange muß sich selbst der Geselle noch den „Vorwurf“ gefallen lassen, daß man seinen Arbeiten den Einfluß des Meisters anmerkt.
Denn auch hier weiß das Sprichwort: Lehrling ist jedermann, Geselle ist, wer was kann, Meister ist, wer etwas ersann. Den Meister macht nämlich über aller handwerklichen Vollkommenheit erst die eigene Handschrift. Man nehme Shakespeare, Goethe, Schiller, nehme Hebbel oder Kleist: Alle schufen sie Dramen in fünfhebigen Jamben, aber wie einzigartig klingen die bei jedem! Wie hört man, um aktuelle Beispiele aus der Musik zu geben, doch selbst aus unbekannten Stücken sofort einen Hans Zimmer, John Williams oder auch Alan Silvestri heraus. Dasselbe gilt in der Plastik etwa für Fritz Klimsch oder Gustav Vigeland.
Drei herausragende Filmmusiker, von links: Hans Zimmer, John Williams und Alan Silvestri
Gustav Vigeland, »Frau mit fügendem Haar«
und Fritz Klimsch, »Sitzendes Mädchen (um 1936).
Der Weg zur Kunst führt über das Handwerk und kann nicht umgangen werden; nicht, ohne auch die Kunst zu hintergehen. Vermeintlich schnelle Wege zum künstlerischen Erfolg entpuppen sich rasch als Sackgassen, aus denen zurückzukehren oft schwierig bis unmöglich ist. Die Rede sei zunächst vom Kitsch.
Er ist das Ergebnis einer um den Blick für das Wahre, Schöne und Gute erleichterten Herangehensweise. Kitsch versucht, mit billiger Effekthascherei zur Aufmerksamkeit des Betrachters vorzudringen. Klischees, Schlagwörter und Gemeinplätze sind seine Mittel, Penetrantes und Abgeschmacktes immer das Ergebnis. Kaum irgendwo wird der Begriff des Fremdschämen so angebracht sein wie in jenen Auswürfen des Kitsches, die schon beim bloßen Beschauen wehtun. Ein oftmals beißender Dissens zwischen den Kanonen des aufgefahrenen Pathos und den Spatzen der Umsetzung trösten höchstens noch mit Lächerlichkeit darüber hinweg. Größte Motive und tiefste Gedanken werden einmal komplett von innen nach außen gestülpt und verschwinden in der Flachheit. Kitsch ist wohl die einzige Pfütze, in der man ertrinken kann. Und so leicht seine nur allzuoft auf den Massenvertrieb angelegten „Werke“ auch reproduzierbar sind, so unfruchtbar ist er selbst. Kitsch nämlich ist keine dammbrechende Welle, er versucht allein auf ihr zu reiten. Kaufmänner und Tölpel stehen ihm weitaus näher als Künstler und aufrichtige Betrachter.
Goethe ahnte, scheint es, bereits ausgerechnet in seinen dem Klassizismus doch voll und ganz verfallenen Römischen Elegien, was die Alten in Wahrheit für uns bedeuten:
War das Antike doch neu, da jene Glücklichen lebten!
Lebe glücklich, und so lebe die Vorzeit in dir!
Die noch in indogermanischer Zeit begründete große Verwandtschaft der antiken Griechen mit den Nordländern, die uns in jeder subjektiven wie auch objektiven Hinsicht geradezu entgegenspringt, sei es nun in der Archäologie, in den nordischen Marmorgesichtern ihrer Statuen oder in der Ordnung ihres Pantheons, diese Verwandtschaft war es, die zunächst die Renaissance und schließlich deren Erstarren im Klassizismus der Philologen heraufbeschwor, so daß Herder klagen mußte: »Ein Grieche, der in unser Trauerspiel träte, an die musikalische Stimmung des seinigen gewöhnt, müßte ein trauriges Spiel in ihm finden. Wie wortreichstumm, würde er sagen, wie dumpf und tonlos! Bin ich in ein geschmücktes Grab getreten? Ihr schreit und seufzet und poltert! bewegt die Arme, strengt die Gesichtszüge an, räsonnieret, deklamieret! Wird denn eure Stimme und Empfindung nie Gesang? Vermisst ihr nie die Stärke dieses dämonischen Ausdruckes? Laden euch eure Sylbenmasse, ladet euer Jambus euch nie dann ein zu Accenten der wahren Göttersprache?« Erst rund vierzig Jahre später konnte Goethe diesen klassizistischen Konflikt für sich und für alle uns Folgenden lösen, als er Faust aus dem Abendland mit Helena von Sparta vermählte. Die in klassischen Rhythmen Sprechende wundert sich über die seltsam-freundliche Redeweise von Faustens Volk und fragt:
»So sage denn, wie sprech‘ ich auch so schön?
Darauf Faust: »Das ist gar leicht, es muß vom Herzen gehen.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt.
Man sieht sich um und fragt. . .«
Helena: ».. . wer mit genießt.«
Und die folgenden Verse sind geistesgeschichtlich von kaum zu überschätzender Bedeutung für die gesamte weiße Welt. Selten wohl äußerte sich das Schreiten durch eine Zeitenschwelle so deutlich wie hier. Faust spricht behutsam weiter, genau erkennend, wie einzigartig neu und gleichzeitig von innerer Notwendigkeit dieser Dialog ist:
»Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück.
Die Gegenwart allein. . .«
Helena: ». . . ist unser Glück.«
Faust: »Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;
Bestätigung, wer gibt sie?«
Helena: »Meine Hand.«
An dieser Stelle sei denn auch auf die Unkenrufe der Einfallslosen geantwortet, die ihr modernistisches Treiben damit zu entschuldigen versuchen, daß man ja gar nichts Neues mehr schaffen könnte. In dümmlicher Weise spielen sie Wahrscheinlichkeitsszenarien durch, daß irgendwann doch jeder Satz schon einmal gesagt, jede Melodie schon einmal gespielt worden sein muß. Dabei übersehen gerade sie, die Progressivem, daß die Welt nicht starr im All schwebt, sondern sich tagtäglich dreht, ständig fremd und immer wieder vertraut wird. Das ist echter Fortschritt. Und wer nun keinen Stoff findet, der sollte entweder die Augen aufmachen oder aufhören, sich für einen Künstler zu halten. Die Geschichten mögen die ewig gleichen sein, aber sie werden stets von ewig neuen Menschen durchlebt und durchlitten.
Es gibt noch so viele noch nie zuvor ernsthaft mit der Distanz der verstrichenen Zeit aufgegriffene Stoffe, darunter solche gewaltigen Themengebiete wie das Dritte Reich, die Vertreibung und der Bombenkrieg, daß man nur staunen kann, wie sich bis jetzt fast ausschließlich Propagandisten und Komiker daran bedient haben. Man denke nur, was Shakespeare, der große Geschichtsschreiber Englands, Schöpfer von Herrscherdramen wie Macbeth, Julius Cäsar und Richard III., aus einer solchen Vorlage gemacht hätte, und sehe sich nach desgleichen um!
Das erkannte auch der Kulturphilosoph Egon Friedell, als er schrieb: »Wenn Schiller zehn Seiten beseelter deutscher Prosa über eine Episode des Dreißigjährigen Krieges schreibt, die sich niemals so zugetragen hat, so ist das für die historische Erkenntnis fruchtbarer als hundert Seiten ›Richtigstellungen nach neuesten Dokumenten‹. .. Kunst ist subjektive und parteiische Bevorzugung gewisser Wirklichkeitselemente vor anderen, ist Auswahl und Umstellung, Schatten- und Lichtverteilung, Auslassung und Unterstreichung, Dämpfer und Drücker.«
Was mir nicht gesungen ist.
Ist mir nicht gelebt.
Was noch nicht bezwungen ist.
Sei noch angestrebt! (Rückert)
Erstens. Zweitens: Was verhindert oder verbietet, bekannte Stoffe umzuformen? Wie oft wurde der Faust schon vor Goethe und auch nach ihm nicht bearbeitet! Und als darin seine Fassung der ebenfalls nur allzuoft gestalteten Geschichte von Helena endet, dichtete Goethe selbst über ihr nach und trotz allem zurückbleibendes Kleid:
Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen.
Zu stiften Gild- und Handwerksneid;
Und kann ich die Talente nicht verleihen.
Verborg‘ ich wenigstens das Kleid.
Dasselbe weiß auch Weinheber in kaum schlichter zu wählenden Worten zu sagen:
So alt gewohnt, so neu beglichen:
Die Kunst belohnt den Meisterlichen.
Naturgegeben wird man bei der Wahl des Stoffes natürlich eher auf Geschehenes zurückgreifen. Ein Eklektizismus des Wesens, nicht der Äußerlichkeiten wie Namen, Rhythmus, altertümelnde Sprache und Kleidung ermöglicht eine fast nahtlose Anknüpfung an vermeintlich noch so ferne Zeiten. Man nehme hier bloß Hebbels ›Herodes und Marianne‹. Und auch das Gegenteil ist möglich. Man denke nur, wie wenig mehr als einen Rahmen Kleistens ›Penthesilea‹ an den antiken Vorwurf bindet.
Etwaige Probleme künftiger Generationen mögen zwar die Phantasie leicht beflügeln und können aktuelle Fragen veranschaulichen, bergen jedoch weit weniger Notwendigkeit zur Bewältigung und sind in ihrer Modenhaftigkeit letztlich auch meist sehr viel weniger aktuell als manche Sorge von längst verblaßten Geschichtsträgern. Außerdem wird gerade das angeblich Zukünftige binnen kürzester Zeit von der Wirklichkeit eingeholt und dabei nur allzuoft zur Lächerlichkeit widerlegt. Auch wenn wir mit dem Staunen der erfüllten Prophezeiung vor dem Weitblick etwa von Filmen wie ›Metropolis‹ oder Orwells 1984 stehen und sie sogar einen gewissen Kultstatus erlangen können, so lächeln wir doch immer etwas mitleidig über die vergeblichen Versuche, sich die Welt in so oder so viel Jahren auszumalen.
Anders wiederum in einem Werk wie ›Krieg der Sterne‹, das zwar sicher nicht zu den dichterisch wertvollsten Stücken der Filmgeschichte gehört, zweifelsohne aber ganze Generationen in ihrem Empfinden prägte und Glanzleistungen wie den Kompositionen von John Williams das Feld bereitete. Hier sind die futuristischen Städte und Weltraumschlachten, ob nun aus Pappmache in den alten oder Pixeln in den neueren Episoden, nur Kulisse zu Geschichten, wie sie seit eh und je erzählt werden. Und ob der Held dabei nur mit einem ganz herkömmlichen oder eben mit einem Lichtschwen kämpft, darüber können nur Romantiker und Futuristen ihre sinnlosen Streite ausfechten. Wir brauchen »weder Epigonentum nocr Hurra-Modernismus«. (Walter Marinovic)
»Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.«
So schreibt Goethe richtig. Ohne Form gelingen aber weder Gehalt noch Stoff, und so wird der Künstler alles beherrschen müssen. Spezialistentum gibt es hier nicht. Daß trotz Schillers zu Anfang dieser Schrift zitierten Satzes, daß man nicht anders als durch Extreme zur Wahrheit kommt, Mäßigung und preußische Grundsätze sein Schaffen bestimmen, ist eine Selbstverständlichkeit. Mit dem Verstoß dagegen haben wir uns die längste Zeit oben beschäftigt.
Wir werden uns daher nicht mit fremden Früchten schmücken, nicht das Ererbte und Vorgefundene für eigene Leistung ausgeben. Ehrfürchtig und bescheiden bleiben wir uns mit Richard Wagners Wort bewußt:
»Der eigentliche Erfinder war von jeher nur das Volk; der Einzelne kann nicht erfinden, sondern sich nur der Erfindung bemächtigen.« Das ist Respekt vor dem Stoff. Gleiches gilt für die Form: »Was in den Formen schon liegt, das setze nicht dir auf die Rechnung: Ist das Klavier erst gebaut, wecken auch Kinder den Ton.« (Hebbel)
›Krieg der Sterne‹. Die Tragödie von Anakin: Hinter platten Dialogen wirkt eine gelungene klassische Dramaturgie. Der Held muß sich zwischen zwei Seiten entscheiden. Er will das Gute, schafft aber dadurch das Böse, also Goethe andersherum.
Was dem Künstler bleibt, ist also sein ureigenstes Handwerk: das Gestalten, Form und Inhalt miteinander in Einklang zu bringen, worin beide gemeinsam mehr als vereinzelt zu schaffen vermögen und woraus ein drittes ersteht.
Dabei gibt es, dies sei zum letzten Mal betont, keine ›art pour l’art‹, wie es der russische Modernist Michail Larionow 1913 in seinem Rayonnistischen Manifest behauptete: »Wir verlangen vom Publikum keine Beachtung, bitten jedoch, auch von uns keine Beachtung zu erwarten.« Die Kunst ist kein Selbstzweck. Ihre Aufgaben haben wir im letzten Kapitel besehen. Und also haben auch die Künstler Aufgaben. Das dürfen sie niemals vergessen, gerade wenn Sorgen und Zweifel sie zu brechen drohen – ganz gleich, wie sehr die Modernisten und ihre Bluthunde sie auch in die Sinnlosigkeit ihres Nichts zu ziehen versuchen. Jede Verlockung wird dazu recht sein, denn auf niemand andres als diese Unterweltgesellschaft trifft doch Hermann von Gilms Wort so zu:
Sie hassen ja den Frühling und den Morgen
Und jede offne Menschenstirn. – Warum?
Sie glauben Feinde drin verborgen
Wie einst in jenem Roß von Ilium
Und zu Recht! Feinde sind dort und tragen grimmige Namen wie ›Natur‹, ›Gemeinsinn‹, ›Gefühl‹, ›Herz‹ und ›Verstand‹. Die Modernisten aber produzieren nur zur Unterhaltung, die meisten für sich selbst, und da dann oft auch bloß im monetären Sinne. »Und was begehren sie eigentlich von der Kunst?« fragt Nietzsche von Künstlern wie Publikum und gibt zugleich die Antwort selbst:
»Sie soll ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des Weltschicksals ins Große umdeuten.«
Wer Zerstreuung in der Kunst sucht, sei es – wie ein solcher sagen würde – bei ihrer ›Produktion‹ oder bei ihrem ›Konsum‹, der kann es gleich auch ganz bleiben lassen. Er wird nie mehr als nur an ihrer Oberfläche kratzen. Mit Inhaltsangaben ist er interessiert, mit Zitatensammlungen will er prahlen, wird er besser bedient sein. Wer dagegen aber selbst schon einmal geschaffen oder betrachtet hat, beides kann sich ja auf derselben Ebene begegnen, der weiß nur zu gut, daß wahre Kunst zwar selbst in Leid und Tränen noch stets erhebende Freude bedeutet, nie jedoch zerstreut, sondern vielmehr konzentriert.
Was seicht unterhält, beruhigt vielmehr und löst Spannungen anstatt sie aufzuwerfen. Aber, wie Kurt Eggers schrieb: »Eine selbstgenügsame Kunst ist vor allem in Zeiten der Entscheidung belanglos!« Damit rede ich nicht gefühlsverkümmerten Materialisten wie Lenin das Wort, von dem berichtet wird, daß er Beethoven zwar liebte, aber aufgrund dessen läuternder Wirkung nicht hörte, we: er darin – wohl zu Recht – seinen todbringenden Revolutionseifer bedroht sah. Vielmehr werden wir in unserem Kampf um so inniger an Beethoven hängen, denn unseren Eifer beflügelt er.
»Die Kunst ist die große Kraft hypnotischer Natur; sie fördert oder verhindert die Revolution.«
Daß wir nun heute überhaupt keine Kunst mehr haben sollen, zeugt davon, in welche Richtung dieses Wort Alexanders von Sengers zu verstehen ist. Und auch Ernst Jünger schreibt:
»Dem Machtkampf geht Bilderabgleichung und Bildersturz voraus. Das ist der Grund, aus dem wir auf die Dichter angewiesen sind. Sie leiten den Umsturz ein, auch den Titanensturz.«
Man denke aber nicht, daß diese Aufgabe beispielsweise in Schauspiel mit dem stupiden ›Politischen Theater‹ im Geiste Erwin Piscators und seiner Spießgesellen gelöst werden könnte. In jede: Scherbe von Kleistens gebrochenem Krug steckt mehr wirkliche Politik als in der plumpen Agit-Prop marxistischer Färbung. Faust ist ein größerer politischer Standpunkt, als es alle Staatoberhäupter von Washington bis Moskau jemals zusammen sein werden. Und hier nun folgt meine letztendliche Beantwortung der im vorigen Kapitel aufgeworfenen Frage nach dem Zusammenhang von Kunst une Politik: Kunst dient keiner Politik, sie ist Politik.
Kunst hat die Aufgabe, uns so frei zu machen, wie die Väter waren. »Es ist Aufgabe der Dichter, das gesicherte Leben unsicher zu machen: zu fragen«, so folgert Josef Weinheber, und ein Modernist müßte bis jetzt noch eifrig nicken. Weinheber aber fährt fort:
»Und es ist Aufgabe der Dichter, Antwort zu geben: das Ungesicherte, Chaotische zu sichern, dem Nebelhaften Form, dem Zerfließenden Gestalt zu geben, schöpferisch zu wirken.«
Dabei ist der Künstler ebenso zeitbedingt wie überzeitlich. Er schlägt die Brücke in ewige Bereiche und bannt sie, einem Evangelium gleich, in der profanen Welt. Er ist ein Priester im Kunsttempel. »Jede wahre Kunst, auch die profanste, ist in einem letzten Sinne Sakralkunst«, schreibt Richard Eichler. Die Frage ist also: Was ist unser Heiligtum? Ich behaupte: unser Volk, unsere Art, wir selbst und unsere Kinder. Und so formuliert auch Kolbenheyer, die »Aufgabe der Kunst ist es, dem Volke eine emotionale Lebenshilfe für Geist und Gemüt zu bieten«.
Freilich, man kann auch ohne Kunst leben. Aber welch ein Leben ist das amusische? Ein halbes. Es bedeutet, reden zu können, aber taub zu sein, es heißt, nur mit einem Auge in die Welt zu blicken. Wie Freiheit, so ist auch Leben kein Wert an sich. Beide sind Flaute, die erst mit Fleisch und Organen gefüllt und mit Blut durchpulst werden müssen. Dies zu schaffen, das ist Kunst. Und es versteht sich nun von selbst, daß es nicht jedem gegeben ist, diese vielgestaltigen Aufgaben zu bewältigen. Im Gegenteil: Nur die wenigsten werden sie bestehen. Und so widersprechen wir Hebbel auch diesmal nicht, wenn er sagt:
Nimmer in tausend Köpfen, der Genius wohnt nur in Einem,
Und die unendliche Welt wurzelt zuletzt doch im Punkt.
Nicht durch Stimmenmehrheit sind Himmel und Erde entstanden,
Nie auch ein großes Gedicht oder ein ewiges Bild.
Heute pilgern Millionen in die Sixtinische Kapelle und loben Michelangelos Wandgemälde als eines der größten Kunstwerke, das jemals ein Mensch geschaffen hat. Was wäre nur gewesen, hätte man zu Zeiten seiner Entstehung darüber abstimmen lassen? »Viel zu teuer!« hätten sie gesagt oder: »So hab ich mir Gott aber nicht vorgestellt!«
Es ist daher kein Zufall, daß Zeiten großer Kunst fast immer Zeiten großer Aristokratien waren. Und auch Richard Eichler hält unmißverständlich fest:
»Die Kunst ist eine von Haus aus aristokratische Angelegenheit.«
Der bombastische Stoff mag in seiner kleingeistigen, virtuosen Aufmachung vielleicht pseudointellektuellen Banausen Befriedigung verschaffen. Der echte Adel aber, die Edlen, die Aristoi, die Besten, sie werden in der Kunst das Gesetz verwirklicht finden, wonach sie angetreten sind, werden die zwei faustischen Seelen in einer Brust versöhnen. Sie sind ganz sie selbst, gehorchen nur ihrer eigenen Geistesart. Ihre Erlösung, ihre Glückseligkeit ist Streben und weder in Ober- noch in Unterwelt zu finden. Das ist auch der Grund, weshalb Herder in gewohnt gebändigtem Ton raten konnte:
Suchst du das hohe Gesetz,
welches die Welten bewegt?
Sterblicher, blick in dich selbst,
da hast du die höhere Regel,
die nicht die Welten allein,
die auch dich selber regiert.
Nicht anders noch einmal Eichler:
»Eine starke seelische Bewegtheit – sei es Sehnsucht, Begeisterung oder Furcht – ist Voraussetzung für das Zustandekommen einer starken Kunst.«
Und auch Friedrich Theodor Vischer bestätigt:
»Möchtest du es zum großen Stil bringen in der Kunst, in der Dichtung? Ich weiß dir ein Rezept dazu: Hab eine große Seele! Wenn man’s nur in der Apotheke bestellen könnte!«
Man kann es nicht. Mag der Talentlose auch alle Schulen, Universitäten und Ateliers durchlaufen haben, mag er noch so viel gelesen, gelernt und sich angeeignet haben, ihm wird dies alles niemals zu größeren Werken verhelfen, als sie ein ungebildeter, aber geborener Künstler zu schaffen versteht. Nirgends zeigt sich die Bedeutung der Anlage gegenüber der Umwelt so deutlich wie in der Kunst, obwohl man freilich auch diese nicht verachten wird. Was ist ein Bildhauer ohne Mamor, ein Maler ohne Pinsel? Was der Musiker, ohne am Instrument unterrichtet zu sein? Was ein Dichter, der seine Vorgänger nicht kennt? Sie bleiben alle ihrer Anlage nach Bildhauer, Maler, Musiker und Dichter, können dieses ihr inneres Wesen, ihr inneres Gesetz jedoch nicht zur Entfaltung bringen und gehen damit dem Volk wie der Kunst verloren.
Wer von diesem letzten Kapitel anstatt eines Aufrufes einen Wegweiser zum Künstlertum erwartete, der sei getrost: Er ist keiner und wird nie einer werden. »Schöne Kunst«, wie Kant stellvertretend für so viele andere große Geister schrieb,
»ist Kunst des Genies. Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.«
Wer aber zum eigenen Fühlen, Schauen und Werten begabt ist, der nähre diese Anlage. Wer diese Begabung in anderen erkennt, der nähre sie in diesen. Sie mögen überwuchert sein, aber ein ganzes Menschenleben an Wildwuchs genügt nicht, daß die ideologische Wurzeln des Unkrauts eine Seele, fest wie Granit, zu durchsetzen und zu sprengen vermögen. Man kann Kätzchen in Hundehütten legen, es werden dort aber niemals Welpen aus ihnen.
Die Leitsätze des bis in den Tod hinein unerbittlichen Dominique Venner gelten unter allen Europäern ganz besonders für den Künstler:
»die Natur als Fundament, die Exzellenz als Ziel, die Schönheit als Perspektive«.
Aus freier innerer Notwendigkeit – Genialität – wird die unfreie Welt der mechanischen Notwendigkeit gestaltet und uns eine wahrhaft überreale – keine ›surreale‹ – Wirklichkeit eröffnet.
Diese Arbeit beginnt freilich beim Künstler selbst, und so schrieb schon Leonardo da Vinci:
»Ich ermahne dich also, daß du die Mängel, die sich an deiner Person finden, kennen lernst und dich vor ihnen bei den Figuren, die du komponierst, wahrest.«
Nicht das Auskommen mit dem Schlechten, nicht der Kompromiß mit dem Unzureichenden, nicht das Hochhalten des Minderwertigen ist das ewige Gebot des Lebens. Fortschreiten auf dem Seile Mensch können wir nur heute. Tun wir es nicht, stürzen wir herab. Harren ist keine Option.
Der heutige Künstler muß aber nicht nur diesen zarathustrischen Fortschritt gehen, sondern sich und die an seine Brust gebundene und in den Abgrund lastende Welt zuvor wieder am kleinen Finger heraufhieven. Denn an nicht viel mehr hängen wir, und trotzdem wird er beim Blick nach unten nicht vor den Schutthaufen einer niedergehauenen einstigen Weltkultur resignieren. Denn diese Trümmerfelder, die Felder der europäischen Kunst, liegen brach, und am Mutigen ist es, sie neu zu beackern. Doch wisse er wohl, worauf er sich einläßt!
Der Dienst der Freiheit ist ein strenger Dienst,
Er trägt nicht Gold, er trägt nicht Fürstengunst,
Er bringt Verbannung, Hunger, Schmach und Tod.
Und doch ist dieser Dienst der höchste Dienst. (Uhland)
Wie in den norddeutschen Moorlandschaften einst mag für Kunst heute gelten: »Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod.« Es ist fraglich, ob unserer Zeit ein großer Künstler erstehen wird.
Eines jedoch bleibt gewiß: Unmöglich ist es nicht. Noch fließt genug Künstlerblut durch Europas Adern. Vielleicht nicht mehr reich wie an Wasser seine Flut, aber doch noch immer reich genug, um zu neuen Wellen aufzutosen. Aber machen wir uns nichts vor: Der Weg ist schwer, wahrscheinlich so schwer wie nie zuvor.
Dennoch müssen wir ausgerechnet in uns selbst, im Abendland unseren größten und einzigen Hoffnungsträger erkennen: nicht trotz all dem, was wir auszustehen haben, sondern weil wir so viel auszustehen haben.
»Das Geheimnis liegt darin, daß das Leiden höhere heilende Kräfte erzeugt.« (Ernst Jünger)
Die Mächtigen werden den aufrichtigen Künstler dabei ignorieren. Wenn er nicht mehr zu verachten ist, werden sie ihn schmähen. Unzeitgemäß wird man seine Ewigkeit nennen, engstirnig seine in unendliche Weiten vor-, zurück- und um sich schlagenden Gedanken. Wie ein zurückkehrender König muß er die Modernsten von seinem Thron verjagen, den sie nur durch Intrige und Kabale wider seine Väter erklimmen konnten. Die Kritiker, Nutznießer und Spekulanten werden ihn verdammen, solange noch Nacht ist, denn seine Taten sind Pflöcke im Herzen der Vampire, und das Licht seines Morgens läßt die Versengten zu Staub zerfallen. Sie sehen, wie sich einer nicht durch Rendite- oder Stimmprozent, sondern durch reiche Gedanken und Fertigkeit über sie erhebt, und werden versuchen, ihn mit aller Gewalt wieder unter ihresgleichen zu zerren.
Das offene Herz des Künstlers bietet auch für dergestalt Schlechtes die denkbar größte Eintrittspforte. Denn zu allen Zeiten sind die stärksten Menschen zugleich auch die empfindsamsten gewesen, auch wenn sie andererseits nie und keineswegs empfindlich waren. Sie gleichen Baudelaires »Albatros«:
Der Dichter ist wie jener Fürst der Wolke –
Er haust im Sturm – er lacht dem Bogenstrang.
Doch hindern drunten zwischen frechem Volke
Die riesenhaften Flügel ihn am Gang.
Tagtäglich wird der Künstler sich, unter den meist noch so Verständigen dieser Welt unverstanden, wiederfinden. Was seine Brust Nächte hindurch bewegt, Erscheinungen, die ihm so helle sind, daß ihn beinahe die Augen beißen, wie oft wird er damit auf verwunderte bis erboste Ablehnung seiner Mitmenschen stoßen. Doch was sind die für Maßstäbe! Der Künstler nämlich ist, darin ging der Begriff der ›Avantgarde‹ schon richtig, ein Vorreiter, ein einsamer Stoßtrupp in neue Zeiten und Reiche. Ihm ist das Volk mit seinen oft zwar unbewußten, aber dennoch epochenentscheidenden Nöten anvertraut,, und er muß sie in seiner Brust nicht nur aufnehmen, sondern allein und für alle anderen bewältigen.
Man mag sich davon also nicht entmutigen lassen. »Es gibt Menschen, welche die Katastrophe brauchen«, schrieb Christian Morgenstern. Und Sedlymayr ergänzt: »Und vielleicht auch Völker, vielleicht auch Kulturen.«
Künstler und ihre Werke sind Pfähle und Zäune an der Klippe des Abgrunds. Daß sich manche Narren zum Spott schon einmal dagegen lehnen, kennt und weiß jeder. Aber selbst diejenigen, die künstlerische Leistung nicht schätzen, ja ihr vielleicht sogar mit frechen Dummheiten begegnen, selbst die werden von ihr bewahrt und geformt – und sei es erst indirekt und in zehnter Instanz. Sie gleichen den bornierten Bürgern, die hinter den schirmenden Rük- ken der kämpfenden Soldaten Pazifismus predigen und Dolche schmieden.
Laß dich tadeln fürs Gute und laß dich loben fürs Schlechte;
Fällt dir eines zu schwer, schlage die Leier entzwei! (Hebbel)
Der Künstler wird mit dem Senator aus Ridley Scotts Film ›Gladiator‹ gehen, der einen der wohl wenigen poetischen Sätzen Hollywoods spricht: »Ich tue nicht so, als sei ich ein Mann aus dem Volk, aber ich versuche, ein Mann für das Volk zu sein.« Das gleiche sagte Ernst Jünger, als er nicht minder schlicht schrieb:
»Der Dichter ist Waldgänger.«
Man scheue eine Wahrheit ebenso wie ein großes Wort nicht, ganz gleich von wem. Man kann das Poetische gleichermaßen am Kaiserreich wie in der Weimarer Republik und dem Dritten Reich sehen, der Künstler ist selbst über die krassesten Gegensätze erhaben. Wo er es nicht ist, straft ihn die Muse sogleich ab. Seine Bilder bekommen etwas Beklemmendes, seine Worte etwas Gezwungenes, wie es sich selbst bei sorgsamster Tarnung zwischen Großem stets und stets schnell selbst zu entlarven weiß. Denn die Muse ist keine Hure, die besucht und benutzt werden kann, wie dem Freier der trübe Sinn steht. Eine edle Geliebte ist sie, die ihren Selbst- und folglich Auserwählten dann und dann Zeit schenkt. Wer das Gefühl des Schaffens kennt, lege sofort diese Seiten hier nieder und versuche zu schaffen. Da begreift er das ganze Wesen ›seines‹ Könnens. Es fällt ihm zu, ist aber zugleich kein Zufall.
Was ist nun das Gebot der Stunde? Es gilt, eine überkommene und morsch gewordene Welt niederzureißen, indem eine neue geschaffen wird. Es gilt, die noch Schlafenden aufzuwecken. Und trotz all ihrer Verwünschungen: Ein Hahn kann nicht anders, als zur rechten Zeit zu krähen. Wenn erst der Künstler ruft, leitet das die Götterdämmerung ein. Die staatsbildende Kraft eines Kunstwerkes ist mindestens so groß wie seine staatsfällende.
Und plötzlich ertönt es, wann Gott es gefällt.
Am Leide versöhnt es,
schafft neu eine Welt. (Weinheber)
Und Gott, die Götter, die Muse oder wer auch immer den Künstler bestärkt: Alle lieben sie nur den, der tätig und wahrhaftig ist. So mag auch die künftige Elite sich nicht von politischen Faustformeln leiten lassen, wenn sie Kunst schafft, sondern nur auf den Klang ihres eigenes Herzens vertrauen. Sie soll nicht ewig die alten Meister zitieren, sondern von ihnen lernen und selbst zu Meistern erwachsen. Und schließlich soll sie nicht den Versuchungen und Widerständen des sie heute noch umgebenden Untergangs erlügen, sondern kühn dem neuen Tag entgegenschreiten, stets in der Gewißheit, das Morgen schon im Heute zu bereiten.
Richard Eichler schrieb: »Die Analysen liegen vor, was fehlt, sind die Taten.« Drum denkt immer daran: Nicht an der Größe unserer Absichten, nur an der Gewalt unserer Taten wird man uns einst messen. Die Geschichte wird auf uns zurückblicken. Wie, das haben wir nur selbst und nur heute in der Hand. Eine so gelebte Kunst braucht kein neues Europa vorgeschwärmt zu bekommen, sie schafft es sich selbst.