Marco Maculotti

Eine eingehende Betrachtung seiner verschiedenen Aspekte ermöglicht es uns, seine bemerkenswerte Vielseitigkeit und seine Übereinstimmung mit anderen Gottheiten der indoeuropäischen Traditionen (wie Apollo, Belenus und Odin) und sogar mit zwei scheinbar gegensätzlichen göttlichen Mächten der jüdisch-christlichen Tradition – Luzifer und dem Erzengel Michael – herauszustellen.

Gottheit mit drei Funktionen

Lugh war jedoch nicht nur ein “Getreidegeist”, sondern eine unglaublich vielschichtige Gottheit. In Julius Caesars Interpretation der Gottheiten des keltischen Pantheons in ›De Bello Gallico‹ wurde Lugh (Lúg/Lugus) mit Merkur verglichen und als der am meisten verehrte Gott bezeichnet. Einer der bekanntesten Beinamen Lughs ist ›Samildánach‹, “Herr aller Künste” oder des Wissens im allgemeinen.

Die von Caesar vorgeschlagene Zuordnung ist jedoch nicht die genaueste: Lugh ist nämlich, anders als der römische Merkur, nicht nur ein Gott des Intellekts (und es wird auch nicht erwähnt, daß er Händler und Diebe beschützt), sondern deckt in den indoeuropäischen Kulturen alle drei von Dumézil theoretisierten Funktionen ab.

Er gehört nämlich gleichzeitig zur priesterlichen Klasse als Harfenspieler, Dichter und Arzt (wie Apollo), zur kriegerischen Klasse als Kämpfer und Held (wie Herkules) und schließlich zur produktiven Klasse als Zimmermann, Schmied und Handwerker (wie Loki in der nordischen Mythologie, vielleicht auch etymologisch mit Lugh verbunden).

Eine der gelungensten vergleichenden Entsprechungen dürfte die mit dem titanischen Prometheus der hellenischen Tradition sein. Aufgrund dieser dreifachen Funktion wurde Lugh in der Ikonographie oft als Gott mit drei Gesichtern dargestellt, ähnlich der hinduistischen Trimurti [siehe Der Ur- und Dreifachgott: esoterische und ikonographische Entsprechungen in alten Traditionen].

Zwar ist Lugh weder der Urgott, noch der Gott der Ursprünge, noch der König der Götter, aber er steht dennoch über allen anderen und “verkörpert in sich selbst die Gesamtheit der göttlichen Funktionen, die aus der Sicht des Druidentums im Grunde auch die Funktionen sind, die der Mensch erfüllen muß, um die Einheit der Welt oben und der Welt unten zu verwirklichen, eine Einheit, ohne die das Chaos (d. h. die Fomoren der Mythologie, Anm. d. Red.) dominiert” [Markele].

Zur Hälfte ›Tuatha dé Danann‹ und zur anderen Hälfte ›Fomori‹

Da Lugh sowohl zu den ›Tuatha dé Danann‹ als auch zu den ›Fomori‹ gehört, hat er eine Doppelnatur, die ihn über jede dualistische Klassifizierung hinaushebt. Von den ›Tuatha Dé Danann‹ besitzt er die “organisierende Kraft, sozialisiert und vergeistigt bis zum Äußersten”, aber er fügt ihr die rohe und instinktive Kraft der ›Fomori‹ hinzu, die chaotischen Kräfte der keltisch-irischen Mythologie. Mit anderen Worten, Lugh stellt sich als eine echte Synthese zweier gegensätzlicher Kräfte dar, die sich gegenseitig bekämpfen: die Verkörperung eines monistischen Prinzips, das aus der typisch keltischen Weigerung resultiert, die Dualität als absolut zu interpretieren.

Dies läßt Lugh als numinose Macht jenseits aller Kategorien und Funktionen erscheinen, da er sie alle zugleich in sich vereint: Aus diesem Grund wurde er der “vielgestaltige Handwerker” genannt und als solcher der Hüter der Geheimnisse der Götter, womit er auch an den mediterranen Vulkan/Hephaestus und den nordischen Loki erinnert, Gottheiten des inneren Feuers und der Verwandlung der Materie in etwas Höheres, Ätherisches und Geistiges.

In ähnlicher Weise faßt auch Lugh, obwohl er von den ›Fomori‹ abstammt, in sich alle gegensätzlichen Charaktere zusammen, die für die ›Tuatha‹, die Widersacher der Ersteren, typisch sind. Er ist sowohl der zweideutige Betrüger als auch der “Lichtträger”, ähnlich dem Luzifer der jüdisch-christlichen Tradition, wie wir weiter unten sehen werden. Als Mitglied der beiden göttlichen Kategorien des keltischen Pantheons ermöglicht Lugh “der Welt, ihr Gleichgewicht zu finden, indem er die organisierten Kräfte (die Tuatha) privilegiert und die instinktiven Kräfte (die Fomori-Riesen) beherrscht”[Markele].

Lugh und die heilige Stadt Lyon

Lugh muß in der Tat einen sehr bedeutenden Kult genossen haben, nicht nur im angelsächsisch-irischen Raum, sondern auch in den französischen Galliern, einem anderen Gebiet, das früher von den keltischen Völkern bewohnt wurde: Von seinem Namen leitet sich der Name der Stadt Lyon (ursprünglich Lugdunum, die “Festung von Lug”) ab, die wiederum von den Galliern als heilige Stadt betrachtet wurde.

In Lyon feierten die Gallier die vier wichtigsten Feste des Kalenders, die jeweils vierzig Tage nach der Sonnenwende oder Tagundnachtgleiche stattfanden. Wir stellen auch fest, daß die Römer, nachdem sie Gallien erobert und nach ihren eigenen politisch-wirtschaftlichen Zielen organisiert hatten, Lyon zur geistigen, politischen und religiösen Hauptstadt der cisalpinen Provinz machten. Neben Lyon gab der Gott auch anderen wichtigen Städten seinen Namen, wie Laon, Leiden und Carlisle (Caer Lugubalion).Lugh und Apollo

Nach einer von Pseudo-Plutarch überlieferten Legende wurde die Gründung von Lyon durch ein Omen bestimmt: Der Ort wurde durch eine Schar von Raben bestimmt. Dazu ist anzumerken, daß der Rabe das heilige Tier von Lugh (wie auch von Apollo und dem nordischen Odin) war. Dies mag paradox erscheinen, wenn man bedenkt, daß der Gott ein reines Lichtwesen ist: aber um noch einmal auf das zurückzukommen, was zuvor über Lughs Doppelnatur gesagt wurde, kann man feststellen, daß sein Name zweifellos mit einer mit einer Stammform von “Licht” (oder “Erleuchtung”, auch in einem geistigen/intellektuellen Sinn, und dies verbindet ihn offensichtlich mit dem römischen Merkur, dem Gott der Intelligenz und Intuition) und “Weißheit” (griechisch leukos, “weiß”; lateinisch lux, “Licht”) bedeutet. Der Vollständigkeit halber geben wir die maßgebliche Meinung von Graves wieder, wonach der Name des Gottes auch mit lucus, “Wald”, verwandt ist und sich sogar vom sumerischen lug, “Sohn”, ableiten könnte; außerdem fügt De Vries hinzu, daß “lugos” im alten gälischen Idiom “Rabe” bedeutet.

Um auf das zurückzukommen, was vorhin über Lughs Doppelrolle als leuchtender und mit dem Raben verbundener Gott gesagt wurde, sei daran erinnert, daß auch Apollo Lyceus gleichzeitig mit einer Vorstellung von Leuchtkraft und Reinheit (hyperboräischer Apollo, Sonnen- und Polargott) und mit einer mehrdeutigen Vorstellung verbunden war, da der oben erwähnte Beiname nicht nur vom Konzept der Leuchtkraft und des Glanzes, sondern auch vom Wolf abgeleitet wurde, einem Tier, das in der europäischen Tradition oft ein Vorbote von Gefahr oder Unglück ist. Daraus läßt sich schließen, daß Julius Caesar Lugh höchstwahrscheinlich nicht mit Merkur in Verbindung gebracht hat, da er mit seinen dualistischen Eigenschaften eher dem mediterranen Apollon Lyceus ähnelt, der seinerseits oft zweideutige und wenig beruhigende Eigenschaften aufweist.Lugh und Luzifer

Von derselben indoeuropäischen Wurzel “lux” leitet sich auch die göttliche Figur des Luzifer/Phosphoros, des “Lichtträgers”, ab: ein Gott, der wiederum bemerkenswerte Ähnlichkeiten sowohl mit Lugh als auch mit Apollo und sogar mit dem bereits erwähnten Prometheus aufweist, der, weil er den Menschen das “Feuer” (d. h. das “Licht der Erkenntnis”) brachte, von den olympischen Göttern zu schrecklichen Qualen verurteilt wurde. Ebenso wurde Luzifer in der jüdisch-christlichen Tradition wegen seiner Hybris vom obersten Gott Jehova vom Himmel gestürzt und dazu verurteilt, verborgen in den Tiefen der Erde zu leben (ähnlich wie der mediterrane Saturn/Kronos, Herrscher des Goldenen Zeitalters) [vgl. Apollo / Kronos im Exil: Ogygia, der Drache, der “Fall”].

Als ob dies nicht schon genug wäre, um die Gültigkeit der Assoziation Lugh/Luzifer zu beweisen, fügen wir hinzu, daß Luzifer der Überlieferung nach am 1. August, dem Tag von Lammas, auf die Erde herabgestürzt ist! Und hier kehren wir in Gedanken zu dem zurück, was Guido von List über den im Monat August verehrten Gott schrieb: “der, der im Begriff ist zu sinken”... oder zu stürzen.

Nochmals: Obwohl der Mythos weniger bekannt ist, heißt es, daß auch Apollon von Zeus auf die Erde gestürzt wurde, nachdem er sich gegen die Zyklopen, die Krieger des olympischen Gottes, aufgelehnt hatte, die sich schuldig gemacht hatten, seinen Sohn Asklepios, den Gott der Medizin und Sohn des Apollon, getötet zu haben. Für diesen Akt der Hybris wurde Apollo vom Göttervater dazu verurteilt, ein “großes Jahr” auf der Erde zu verbringen, um die Herden der Menschheit zu hüten, d. h. sich für die Dauer eines ganzen Äons um den Menschen und seine geistige Entwicklung zu kümmern.Lugh und Beleno

Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass sich Lugh in archaischer Zeit mit dem protokeltischen Gott Belenus (oder Belanu) überschnitt, der Gottheit des Lichts (vom protoindoeuropäischen *bʰel-, ›Licht‹), einem der größten und einflußreichsten der alten europäischen Götter, für die im Zusammenhang mit den Sonnenwenden und damit den Sonnenzyklen des Jahres Opfer und Rituale durchgeführt wurden, deren Gefährtin die Feuergöttin Belisama war, der in der Antike der heilige Altar errichtet wurde, auf dem später der Mailänder Dom gebaut wurde. Dieses göttliche Paar aus Licht und Feuer wurde vor allem von den Ligurern und den Iberern, später auch von den Festlandkelten (Italien, Frankreich) und den Inselkelten (Großbritannien) verehrt. Die antike Bel-Wurzel, die in mehreren Protosprachen vorkommt, hat einigen Quellen zufolge die transzendentale Bedeutung von “Erscheinung aus der anderen Welt” und “Erleuchtung aus der Welt der Götter” und scheint auch mit dem ursprünglichen Lichtgott Baal in Verbindung zu stehen, der von den Sumerern im sechsten Jahrtausend vor Christus verehrt wurde.

Wenn wir zu Belenus zurückkehren, finden wir im Rahmen seiner Funktionen all das, was später mit Lugh in Verbindung gebracht wurde: Er war bekannt für seinen Einfluß auf das Sonnenlicht und folglich auf die Landwirtschaft, die Temperatur und die Heilung; darüber hinaus sorgte er, wie Lugh in seinem quecksilbrigen Aspekt, für die Erleuchtung der Psyche im geistigen und mentalen Sinne als Wegweiser für Innovationen und Erfindungen.

Belenus scheint auch etymologisch mit dem rituellen Fest Beltane verbunden zu sein (das Fest, das Lammas im Rahmen der vier Hauptfeste des keltischen Kalenders vorausgeht), das Anfang Mai zum Gedenken an die Wiedergeburt des Lichtgottes gefeiert wurde und bei dem die Druiden apotropäische Rituale mit Lagerfeuern und Feuer durchführten.Lugh und Odin

Wie De Vries bereits feststellte, weist Lugh außerdem mehrere Merkmale auf, die eine teilweise Identifizierung mit dem Odin/Wotan der germanisch-norwegischen Tradition ermöglichen. Außerdem ist es kein Zufall, daß die Kelten am selben Tag, an dem sie den “Erntemond”, d. h. das Fest von Lugh und seiner Mutter Taultiu, feierten, die Norweger die heilige Hochzeit zwischen Odin und Frigg, d. h. zwischen den numinosen Kräften des Himmels und der Erde, feierten. Wie Odin steht Lugh an der Spitze der göttlichen Streitmacht im Kampf gegen die Riesen; wie dieser besitzt er einen wunderbaren und mächtigen Speer; wie der nordische Göttervater begegnet er dem Krieg nicht allein mit Gewalt, sondern vor allem mit Magie, ähnlich wie der hinduistische Varuna. Außerdem ist ihm, wie dem nordischen Gott, der Rabe heilig, und er ist ein Dichter und Musiker.

Wenn Wotan ein einäugiger Krieger ist, ist Lugh der Enkel eines “einäugigen Kriegers mit einem verderblichen Auge”, und um seine Magie im Kampf wirken zu können, schließt er während des Kampfes ein Auge. In diesem Zusammenhang schreibt Eliade: “Die irischen Texte stellen Lug als militärischen Führer dar, der sich auf dem Schlachtfeld magischer Kräfte bedient, aber auch als höchsten Dichter und mythischen Ahnherrn eines bedeutenden Stammes. Diese Eigenschaften bringen ihn in die Nähe von Wotan-Odin, der von Tacitus auch mit Merkur verglichen wurde. Daraus kann man schließen, daß Lug die Souveränität in ihrem magischen und militärischen Aspekt verkörpert: Er ist gewalttätig und furchteinflößend, aber neben den Kriegern schützt er auch die Barden und “Zauberer”. Wie Odin-Wotan zeichnet er sich durch seine magisch-spirituellen Fähigkeiten aus, was erklärt, warum er mit Merkur-Hermes homologiert wurde [vgl. Cernunno, Odin, Dionysos und andere Gottheiten der “Wintersonne”].

Lugh und der Erzengel Michael

Interessant ist auch, wie bestimmte Eigenschaften von Lugh später, in der christlichen Ära, in die Ikonographie des Erzengels Michael, dem Anführer der himmlischen Streitmacht, einflossen. Man beachte zunächst, daß das Schwert (oder alternativ der Speer, der typisch für Apollo ist) lange vor dem Heiligen Michael typische Attribute des betreffenden keltischen Gottes waren. Außerdem waren die dem Erzengel geweihten Tage der 8. Mai und der 29. September, der Tag, an dem die Plejaden vor dem Hintergrund der Milchstraße aufgehen, die in den keltischen Ländern als “Burg des Lugh” bezeichnet wurde.

Nochmals: In der Basilika ›San Michele Maggiore‹ in Pavia wurde der Erzengel in der Doppelfunktion als Begleiter der Toten und als Beschützer und Spender des Königtums verehrt, in dessen Eigenschaft er die Krönung der langobardischen Könige leitete – genau der doppelte Funktionsumfang des keltischen Lug.

Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die germanischen Völker, zu denen die Langobarden gehörten, lange Zeit unter dem Einfluß der keltischen Kultur standen und zahlreiche Vermischungen von ihr mitbrachten [Calabrese]. Außerdem finden sich unter den wiederkehrenden Beinamen von Lugh einige, die sich auch leicht auf den Erzengel beziehen könnten: Lönnbeimenech (“Er, der wütend zuschlägt”), Lamfada (“mit der langen Hand”) und Grianainech, ein Begriff, der im Irischen eine Vorstellung von Wärme und Helligkeit vermittelt und sich auch auf den Polarstern bezieht,  dessen Personifikation der heilige Michael ist. In diesem Sinne gibt es eine Kontinuität zwischen dem heidnischen Lugh-Kult und dem christlichen Kult des Erzengels Michael, der im übrigen in Frankreich besonders ausgeprägt ist.

Bibliographie

• Herr Detienne, Apollo con il coltello in mano (Apollo mit dem Messer in der Hand) (Adelphi, Mailand, 2002).
• R. Gräber, La Dea Bianca (Die weiße Göttin) (Adelphi, Mailand, 1992).
• G. Guidi Guerrera,Le stagioni della magia (Jahreszeiten der Magie) (Hermes, Rom, 1996).
• M. Eliade, Storia delle credenze e delle idee religiose (Geschichte der religiösen Überzeugungen und Ideen), (Florenz, 1980).
• G. von List, La religione degli Ariogermani e Urgrund (Die Religion der Ariogermanen und Urgrund)(S. Sigillo, Rom, 2008).
• J.Markale, Il druidismo. Religione e divinità dei Celti (Druidentum. Religion und Göttlichkeit der Kelten) (Rom, 1991).
• TGE Powell, I Celti (Die Kelten) (Il Saggiatore, Mailand, 1959).

Quelle: https://axismundi.blog/2016/07/31/la-festivita-di-lughnasadhlammas-e-il-dio-celtico-lugh/

 

 

 

 

 

 

 

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