Giorgio Locchi

Auszug aus dem Buch

 

 

Das Werden der »epochalen Tendenz«

Als Werdendes durchläuft eine Tendenz je drei »objektive« Entfaltungsstufen. In der ersten Stufe, als Entstehendes und zugleich Sich-Behauptendes, stellt sich die Tendenz im »Mythus« dar. Der Terminus »Mythus« soll hier ohne irgendwelchen negativen Anklang verstanden werden. Mythus meint hier eine »Rede«, die aus den Trümmern der vorgefundenen Sprache ihre eigene baut, in und mit Bezug auf »Zeichen« und »Symbole«, die nur den Am-Mythus-Teilhabenden zugänglich sind.

Wenn Meister Eckhart von einer »Rede« spricht, die »niemand gesagt, denn der sie schon sein nennt als eigenes Leben oder sie wenigstens besitzt als eine Sehnsucht seines Herzens«, kann dies als eine treffende Definition von »Mythus«, wie das Wort hier gemeint ist, verstanden werden. Die Faktizität des Mythus setzt immer einen ursprünglichen Willen und eine ursprüngliche »Bereitschaft« voraus, den Mythus gestaltend auszusprechen und mitgestaltend anzuhören. Nur dieser Wille und diese Prädisposition ermöglichen das Verstehen des Mythus als solchen, d. h. einer »undialektischen« Rede, die die Grundbegrifflichkeit der vorgefundenen Sprache zersetzend zurückweist, aber ihre eigene Dialektik gar nicht entfaltet, sondern in ihren strukturellen Gliedern – den Mythemen – die Einheit von Gegensätzen stillschweigend behauptet. Mythus ist die Rede eines »geschichtlich« Ursprünglich-Neuen, und eben deshalb muß er immer seine eigene Sprache aus und mit den Trümmern des vorgefundenen »Geredes« aufbauen.

Diese erste, »mythische« Entfaltungsphase war im Falle des ›Egalitarismus‹ die Entstehung und Ausbreitung des Christentums innerhalb der griechisch-römischen, später germanischen Welt; der dazu gehörige Mythus, die Selbstdarstellung Christi als Gottessohn und deren Wiederholung als Erzählung und Opfer.

Im geschichtlichen Wachstumsprozeß einer Tendenz verfällt der Mythus, sobald in der nun von ihm umgestalteten Sprache die Rede, die er ist, selbstverständlich wird. Das Verfallen geschieht, unter anderem, weil die alte »vormythische« Grundbegrifflichkeit nun als »verschwunden« eine Leere hinterläßt, die nach »Ausfüllung« ruft, während zugleich der Glaube an den Mythus als gesellschaftlich befestigt nun in das »Verborgene« der Mytheme eindringen zu können meint.

Das »Verborgene« leuchtet dann auf, aber damit bietet es sich selbst verschiedenen Perspektiven dar: die »mythematische« Einheit der Gegensätze löst sich in Widersprüchlichkeit auf, aus jedem Mythem entspringen widersprechende Ideen-Paare, und diese Ideen fügen sich in einander widersprechenden verschwisterten »Ideologien« zusammen.

Der Mythus verstand sich begrifflich – begriff sich – nur negativ, in seinem Zurückweisen der alten, vorgefundenen Grundbegrifflichkeit. Nun muß er seine eigene Grundbegrifflichkeit entfalten, aber eben damit hört er auf, Mythus zu sein. Der »Zweck« selbst der Tendenz, im Mythus verhüllt, wird jetzt langsam durchschaubar; erste »ideologische« Geschichtsentwürfe werden konzipiert, doch immer im Widerspruch mit anderen »ideologisch-verschwisterten« Entwürfen. Die um den Mythus als »Gemeinschaft« organisierte Gesellschaft spaltet sich endlich in konfliktuelle »ideologische Gemeinschaften«, deren Verweltlichung bei fortschreitendem Vergessen der mythischen Grundlage immer tiefer wird und sich endlich offen behauptet.

Es ist leicht einzusehen, wann und wie die egalitaristische Tendenz diese Entfaltungsphase durchlaufen hat: theologische Streitigkeiten des ausgehenden Mittelalters, Schismen und Spaltung der katholischen Ökumene, Aufkommen der National-Staaten, Ausbreitung von »verweltlichten« Ideologien im »Fortschritt« von der »Gleichheit vor Gott« zur »Gleichheit vor dem menschlichen Gesetze« und, sobald und soweit die »Natur« menschlich-verwaltbar erscheint, »Gleichheit vor der verwalteten Natur«.

Der auffällige Gegensatz der verschwisterten Ideologien innerhalb ein und derselben Gesellschaft und die folgenden leidbringenden Spaltungen innerhalb der Gesellschaft führen schließlich die epochale Tendenz zum Versuch einer Rückgewinnung der materiellen und geistigen Einheit. Die »Rede« der Tendenz, die ursprünglich Mythus, dann Ideologien war, wird nun – im Anspruch – »wissenschaftliche Theorie«, in inniger Verbundenheit mit einer »wissenschaftlichen Praxis«, die die Theorie zu verifizieren hat (d. h. zugleich als »wahr« festzustellen und wahrzumachen).

Die »Einheit« der Gegensätze soll wieder gesichert werden, diesmal »begrifflich«. So schritt am Anfang der »modernen Zeit« die egalitaristische Tendenz vom hegelschen Idealismus zum marxschen Materialismus fort bei dem Versuch, die »letzte« all-einende begriffliche Synthese materiell und geistig zu sichern. Dieser Versuch ist noch immer im Gange und wird im Gange bleiben bis zum endgültigen Scheitern oder Erfolg. Der Erfolg aber – wir werden es sehen – würde heißen: Ende der Geschichte.

Diesem kurzgefaßten Exkurs über die Entfaltung einer epochalen Tendenz bleibt noch hinzuzufügen, daß dem geschichtlichen Beobachter die »Epoche« (die objektive »Gegenwart«) immer als Konflikt zweier antagonistischer epochaler Tendenzen gegeben ist, deren eine als »alte« sich in ihrer dritten Entfaltungsphase (mit ihren »fortgeschrittensten« Erscheinungen) befindet, die andere als »neue« in ihrer ersten, »mythischen« Phase.

Im Mythus, in den Ideologien (in ihrer »algebraischen Summe«), in der »wissenschaftlichen Theorie« einer und derselben Tendenz bleibt die Struktur der Rede immer dieselbe, als tendenzielle Rede-Struktur. So, trotz aller Wandlungen, sind auch die einander folgenden Geschichtsbilder und -auffassungen einer bestimmten Tendenz immer strukturell identisch.

Das Geschichtsbild des Egalitarismus ist immer eschatologisch: die Zeit der Geschichte wird als eindimensional aufgefaßt, als »segmentarisch« gesehen und dargestellt. »Geschichte« als geschichtliches Sein des Menschen wird negativ bewertet, so daß der einzige Sinn der Geschichts-Bewegung nur in einer endgültigen Selbstaufhebung der Geschichte selbst gefunden werden kann und wird.

Als segmentarisch hat die Geschichte (das muß sie haben) einen Anfang und ein Ende. Geschichtliches Werden wird als »Unfall« im Sein der Menschheit empfunden und aufgefaßt. Das wahre Sein der Menschheit wird außerhalb der Geschichte gesucht und erstrebt. Das Glück dieses wahren Seins war in einer Vorgeschichte vorgegeben; irgendwie verlustig gegangen, wird es nur in einer Nachgeschichte zurückzugewinnen sein.

In der antiken, heidnischen Geschichtsauffassung koinzidierten – in der »Wiederholung« – Anfang und Ende. In der egalitaristischen Auffassung gibt es keine Wiederholung eines geschichtlichen Moments; was einst zurückgebracht werden soll, ist vorgeschichtliches Sein. Dieses Sein der Vorgeschichte war ein Sein-Können, eine Möglichkeit; dasjenige der Nachgeschichte wird aber, als nunmehr ergriffene Möglichkeit, eine ewige (un-geschichtszeitliche) Wirklichkeit sein.

 

Vertreibung aus dem Paradies, Gemälde von John Faed (1819-1902)

 

Der christliche Mythus faßt die Geschichte als Gottes Fluch auf, als Folge eines Sündenfalls des Menschen. Die Menschheit lebt in der Geschichte als eine »verurteilte«: zur Arbeit, zu »Blut und Tränen«, zur Reue. Verurteilt zur Geschichte wurde die Menschheit, vormals im unschuldigen Glück des Paradieses lebend, wegen der auf ihr lastenden Erbsünde ihres Urahnen, der das göttliche Gebot übertreten hatte. Diese Erbsünde, als Sünde gegen Gott selbst, ist unsühnbar, die Menschheit kann sich nicht selbst erlösen.

Aber Gott in seiner grenzenlosen Barmherzigkeit vollzieht selbst – als in Jesus menschgewordener Sohn seiner selbst – die sühnende Tat; die Selbstaufopferung Jesu geht in das geschichtliche Werden als entscheidendes Moment der Erlösung und somit als »Geschichtswende« ein. Zwar gilt diese Erlösung nur dem gnadenempfangenden einzelnen; aber sie öffnet nunmehr den Weg zu einem Ende der »Wanderung durch die Geschichte« und ermöglicht in der Gemeinschaft der Heiligen die »Vor- nahme« dieses Endes. Denn Gott hat es versprochen: Nach der letzten »apokalyptischen« Schlacht, nach der endgültigen Niederlage des Bösen, wird das ›Jüngste Gericht‹ stattfinden, die Geschichte zu Ende gehen, die Zeitlichkeit in die Ewigkeit des Himmelreiches (und seiner dialektischen Antithese, des Höllenreiches) aufgehoben werden.

 

Vom Evangelium zu Marx

Vorgeschichtlicher Garten Eden, Erbsünde als geschichtsgründende Ursünde, Austritt aus dem Paradies, leidvolle Durchwanderung der Geschichte (des »Jammertales«), Erlösung als Geschichtswende, Gemeinschaft der Heiligen, apokalyptische Schlacht, Jüngstes Gericht, Ende der Geschichte, ewiges Himmelreich: all diese »Mytheme« sind die wesentlichen Strukturelemente des im judäo-christlichen Mythus enthaltenen Geschichtsbildes. Sie kommen in abgewandelter Gestalt, zuerst als »Ideologeme«, später als »Theoreme«, in allen Geschichtsbildern der sich entfaltenden egalitaristischen Tendenz vor (und offenbaren somit als »typisch« die sie immer wieder schaffende epochale Tendenz).

Das gilt, sozusagen beispielhaft, auch für das marxistische Geschichtsbild, womit die egalitaristische Tendenz aus ihrer »ideologischen Phase« in diejenige des »wissenschaftstheoretischen Anspruchs« eintritt. Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von dem »vulgären« (wenn man so will), aber eben deshalb folgenreichsten »Marxismus« (also, letztlich: vom staatenbildenden »Marxismus«), sollte er auch – wie mancher behauptet – dem »eigentlichen« Denken Karl Marx’ nicht entsprechen.

Im so verstandenen Marxismus wird Geschichte als unmittelbare Folge der Entfremdung der Menschheit aufgefaßt: sie ist Klassenkampf und als solcher ökonomisch (materialistisch) bestimmt (»determiniert«). Dem vorgeschichtlichen Garten Eden entspricht im marxistischen Bild der »Urkommunismus« einer im Naturzustand verharrenden, die »Natur« nur »ausbeutenden«, »nichtproduzierenden« (Vor-)Menschheit.

War der Mensch im Paradies dem frustrierenden Zwang des göttlichen Verbotes unterworfen, so blieb er im urkommu- nistischen Zustande dem materiellen Elend ausgesetzt. Unter dem determinierenden Zwange dieses Elends schritt der Mensch zur Domestikation der (lebenden) Natur, zum Ackerbau, aber damit auch zur »Arbeitsteilung«, zur Ausbeutung des Menschen durch den »anderen« Menschen. Der sich selbst entfremdete Mensch ist nunmehr in einen Klassenkampf gestürzt; er ist so wie im biblischen Mythus der »erbsündige« Mensch in die Geschichte eingetreten, »Schweiß, Tränen und Blut« sind sein Los.

Die ökonomischen Produktionsverhältnisse bestimmen das geschichtliche (und nicht nur geschichtliche) Verhalten der Menschen. Im Klassenkampf und durch den Klassenkampf werden immer neuere, ertragreichere Produktionssysteme erfunden, die ihrerseits neue Produktions- und soziale Verhältnisse schaffen, und zwar ein immer größeres Elend der »ausgebeuteten« Menschen. Aber auch hier gibt es endlich eine »Erlösung«.

Mit dem kapitalistischen System wird das Elend des ausgebeuteten Proletariats »unerträglich«, so daß das Proletariat sich seiner eigenen Lage bewußt werden kann und tatsächlich bewußt wird. Die erlösende Tat ist hier diejenige der »kommunistischen Parteien« (als Verweltlichung der »Gemeinschaft der Heiligen«), die zum letzten endgültigen Klassenkampf rüsten. Proletariat und kommunistische Parteien stehen in diesem Kampfe auf der Seite der »vorbestimmten« Zukunft. Mit ihrem unvermeidlichen Sieg werden die Klassen abgeschafft, die Entfremdung aufgehoben, der »Geschichte« ein Ende gesetzt: Die Menschheit tritt ein in die Ewigkeit der »kommunistischen Gesellschaft«, all ihre Bedürfnisse sind in einem zurückeroberten und doch zugleich sublimierten Naturzustände nunmehr vollkommen befriedigt.

Wie man leicht sieht, ist auch im marxistischen Geschichtsbilde Geschichte ein Fluch. Der menschlichen Selbstentfremdung entsprungen und somit negativ bewertet, erhält die Geschichte ihren einzigen Sinn aus der »wissenschaftlichen« Gewißheit ihrer Aufhebung. Geschichtliche »Bewegung« ist Fortschritt, allein indem und weil sie das Ende der Geschichte näher bringt. Das marxistische sowie das judäo-christliche Geschichtsbild sind eschatologisch: Geschichte geschieht in einer »segmentarischen« Zeit, zwischen Anfang und Ende, ihr Gang ist vorbestimmt (prädeterminiert), wobei die Prädetermination außermenschlich ist, göttliche Vorsehung oder materialistisches »Natur«-Gesetz.

Freilich haben christliche Lehre und Marxismus immer wieder versucht, die Prädetermination »ihrer« Geschichte irgendwie zu verdecken. Die Theologie behauptet das »liberum arbitrium« (den freien Willen) des Menschen: Schon Adam hätte aus seiner Freiheit gesündigt, in voller Verantwortung seiner Tat. Was sich aber nicht wegleugnen läßt, ist, daß Gott selbst, der allwissende, »vorsehende« Gott, die Möglichkeit der Sünde und des menschlichen Sündigens schuf, daß Gott selbst in seiner Allmacht es wollte, als »causa prima«.

 

Das Jüngste Gericht, Gemälde von Michelangelo, Sixtinische Kapelle, 1538-1541, Bildquelle: Meisterdrucke

 

Auch der Marxismus scheut sich nicht vor Widersprüchlichkeit und beliebt oft zu behaupten, Geschichte mache der Mensch, wenn auch nur als Vertreter seiner »Klasse«. Klassenzugehörigkeit ist aber »natürlich«, biologisch prädeterminiert; die Klassenteilung selbst ist gleichursprünglich mit den ökonomischen Produktionsverhältnissen aus dem Schritt zur Domestikation der Natur entstanden, welcher hinwiederum vom Zwange des der Menschheit »natürlich« aufgelegten Elendes bewirkt wurde.

Schon allein der Grundsatz der marxistischen Geschichtslehre, nach dem nur ein »wahres« Klassenbewußtsein des Proletariats die »erlösende« Revolution ermögliche, zeigt in diesem marxistisch verstandenen Bewußtsein das strukturelle Äquivalent der judäo-christlichen »Gnade« (um so mehr, wenn »Gnade« im Bezug auf die Bergpredigt ausgelegt wird).

In allen egalitaristischen Geschichtsbildern ist letztlich »Geschichte« wie ein Theaterstück, das vor dem Anbeginn der Menschheit geschrieben wurde: in ihm bleibt der Mensch nur immer Schauspieler, sogar die kleinste Improvisation ist ihm untersagt. Der Mensch wird gehandelt, er handelt nicht, sein eigentliches Selbstwerden kann nur außerhalb des »Geschichtlichen« gefunden werden, im Jenseits bzw. im »Nach-Geschichtlichen«.

Über die »Ideologien« des Egalitarismus sei hier nur folgendes gesagt:

Das eschatologische Bild des Mythus spaltet sich in antithetische Ideologeme, die sozusagen die inhaltliche Einheit des Mythems nur in ihrer algebraischen Summe wiedergeben können. Im »demokratischen« Felde stehen Fortschrittsideologien reaktionär-konservativen Ideologien gegenüber. An die Möglichkeit eines »Endes« der Geschichte wird nicht mehr geglaubt, aber Geschichte wird immer als ein »Verfallen-sein« des Seins empfunden und bewertet.

Die reaktionär-konservative Ideologie entspringt der Überzeugung, die »Bewegung« der Geschichte sei im Grunde sinnlos, aller geschichtlicher »Fortschritt« könne nur Schlimmeres mit sich bringen. Reaktionäre Konservation will den Gang der Geschichte aufhalten, Geschichte »stillegen«.

Fortschrittsideologien fassen den »Fortschritt« als unaufhaltsam, endlos auf. Sie schwanken zwischen naivem Optimismus und heuchlerischem Pessimismus. Optimistisch ist die liberale Ideologie der Belle Epoque (»Excelsior!«) wie auch die Ideologie des »American way of life«. Pessimismus wird dann vorgeheuchelt, wenn der Blick im Unglauben am eschatologischen Bild des Mythus haftenbleibt: also unterstreicht Freud das wesenhafte »Unbehagen« der Kultur, und die ›Negative Anthropologie‹ der Gründer der ›Frankfurter Schule‹ das unaustilgbare »Schlechte« des Geschichtlichen.

Nebenbei bemerkt: Als post-marxistisch, d. h. als von Marx her kommend, ist die ›Negative Anthropologie‹ ein Rückfall von der »wissenschaftlichen Theorie« in die »Ideologie«. So griff Horkheimer schließlich auf den jüdischen Jahwe als das Sinnbild des »Ganz Anderen« zurück, dabei vergessend, daß dieser Jahwe unserer abendländischen Kultur immer absolut fremd gewesen ist – und folglich für sie un-rück-greifbar bleibt.

 

                                                                   

 

Die mögliche Geschichtswende

Die Interpretation von Christentum, demokratischen Ideologien und Kommunismus (Sozialismus) als sukzessive Erscheinungen einer und derselben Tendenz, des Egalitarismus, stammt bekanntlich von Friedrich Nietzsche. Dieser egalitaristischen Tendenz, die er »Bewegung« nannte, wollte Nietzsche »seine« eigene Tendenz, dem geschichtlichen »Entwurf« des Egalitarismus seinen eigenen, dem egalitaristischen »Willen« seinen Willen zum »Übermenschen« entgegensetzen.

Nietzsches Werk wie vor ihm das Werk Wagners und nach ihm das Werk Heideggers zeitigt die mögliche Geschichtswende, in der wir selbst immer noch stehen. Als Wende ist dieses Werk zugleich zerstörender Rückblick und gründender Vorblick, kritische Philosophie und sich selbst besagender Mythus, »Poiesis« im eigentlichsten Sinne.

Nietzsche selbst versteht sich selbst als extremster »Decadent«, »Nihilist« und zugleich als das »Gegenteil« eines Dekadenten und Nihilisten. Nietzsches kritische Philosophie vollendet das »halb«-gescheiterte Unternehmen Kants: Auch die ›Praktische Vernunft‹ so wie die Reine vermag wesenhaft nicht, auf die »letzten Fragen« Antwort zu geben; alle Werturteile, alle »Moral«, alle »Wahrheit« sind relativ, haben keinen »vernünftigen« Anspruch auf Absolutheit, auf allgemeine Geltung. Was hier aber »geschichtlich« zerstört wird, ist eben die »Vernunft« als verabsolutierter Logos der abendländischen judäo-christlichen Tradition.

Nietzsche selbst zu dieser Tradition als deren Vollender zu rechnen, ist ein fataler Irrtum, den Heidegger leider beging, indem er glaubte, Nietzsches Begriff von »Sein« sei der hergebrachte abendländische, und eben deshalb erscheine ihm Nietzsche als der »letzte Rauch der verdunstenden Realität«.

Wenn aber Nietzsche vom Begriff »Sein« als »letztem Rauch der verdunstenden Realität« spricht, so will er hier – ganz im Sinne Heideggers – die Metaphysik der abendländischen Tradition destruieren. Sollte man Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit allzu leichtfertig bestrafen, dann wäre gegen Heidegger einzuwenden: Nietzsche war schon immer in dem »sich ewig bauenden Hause« eben jenes »Seyns«, das Heidegger auf seinen Holzwegen nur zu suchen vermochte, d. h. nur redend behauptete, ohne es wirklich zu zeitigen.

Daß aber Heidegger Nietzsche so mißverstehen konnte, hat seinen Grund in der einseitigen Richtung seiner »Lektüre« von Nietzsches Werk: Heidegger sieht dieses nur als ein kritisch-philosophisches, er bleibt blind und taub vor dessen »poetischem« Aspekt. Ausgerechnet Heidegger lebt und denkt in der Atmosphäre des von Nietzsche geschaffenen Mythus; allein er sieht diesen Mythus nicht und kann folglich auch nicht sehen, daß das Geschichtsverständnis von Nietzsche auf einer Intuition der »eigentlichen Zeitlichkeit« gegründet ist.

Freilich ist die Sprache des Mythus eine eigenartige, »chiffrierte« Sprache; dazu kommt, daß Nietzsche in seinem aristokratischen Bestreben, den Unerwünschten die Türen seines Hauses zu versperren, deren Schlüssel sorgfältig verbarg. Um nur ein Beispiel anzuführen: das ständige Hinweisen auf die »aristokratischen« Werte, auf die sich die griechische oder die römische Gesellschaft gründeten, oder noch das Hinweisen auf die »Blonde Bestie« könnten wohl im Sinne einer einfach restaurativen Intention Nietzsches interpretiert werden (was auch fast immer geschehen ist und geschieht), wenn man nicht auf die nur einmal ausgesprochene Warnung achtgibt, die Griechen seien nicht mehr »zurückzubringen«. [Bei dieser Gelegenheit soll ein für allemal gesagt werden, daß die vorliegende nur eine mögliche Interpretation Nietzsches ist, die aber ihre ausgezeichnete geschichtliche Geltung als diejenige Interpretation behauptet und erlangt, welche tatsächlich als »handelnder Glaube« der »Nietzsche-Anhänger«, der sogenannten Konservativen Revolution und insbesondere – die aufmerksamen Leser des »Handbuches« Armin Mohlers werden mich verstehen – der »Leninisten« dieser Revolution positiv Geschichte machte.]

Drei Mytheme in Nietzsches Mythus haben unmittelbaren Bezug auf die Zeitlichkeit der Geschichte: der »letzte Mensch« (als im Sinne Heideggers »gewesener«), das zukünftige Sich-Ereignen des Übermenschen, die sich immer vergegenwärtigende »Ewige Wiederkunft des Gleichen«.

In den Augen Nietzsches stellt der »letzte Mensch« die »größte Gefahr« für die Menscheit dar. »Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh«; er »macht alles klein«, er wünscht sich ein nur mittelmäßiges Glück, will »weder arm noch reich« werden und meint »das Glück erfunden« zu haben, in einer Welt, wo »jeder will das Gleiche, jeder ist gleich«, und »wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus«.

In einem Wort: der »letzte Mensch« will das Ende der Geschichte, er ist schon dieses Ende. Aber eben nach diesem »letzten Menschen« verlangt die Menge und »schenkt« Zarathustra »seinen Übermenschen«. Im Übermenschen zeigt Zarathustra-Nietzsche »den Sinn der Erde«, er lehrt, daß der Mensch »ein Seil (ist), geknüpft zwischen Tier und Übermensch«, daß der Mensch »eine Brücke und kein Zweck ist« und eben darin seine Größe besteht.

 

Meditation, Gemälde von Heinrich C. Berann

 

So stellt sich im zarathustrischen Geschichtsbild der »Übermensch« als ein Zweck, als der Zweck dar. Aber wie kann dieser Zweck in einem Werden, das ewige Wiederkunft des Gleichen ist, erreicht werden, da er doch noch nie erreicht wurde? Oder ist der Übermensch gar kein Zweck, obwohl als Zweck vorgegeben, und nur der Horizont, auf den der Mensch zuzugehen hat, wissend, daß Horizont das immer Unerreichbare bleibt?

Auf diese Fragen kann keine Antwort gegeben werden. Wer so fragt, verrät damit selbst seine Befangenheit im »alten« Geschichtsverständnis und wird schließlich immer glauben, im Bild der »ewigen Wiederkunft des Gleichen« trotz aller Warnung das antike »zyklische« Geschichtsbild erkennen zu können. Ich sage: »trotz aller Warnung«, denn Nietzsche selbst als Zarathustra hat vor einer solchen Auslegung gewarnt.

In dem bedeutungsvollerweise »Vom Gesicht und Rätsel« überschriebenen Abschnitt von »Also sprach Zarathustra« wird das zyklische Geschichtsbild im Mißverständnis einer Frage Zarathustras vom Geist der Schwere behauptet: »Alles Gerade lügt. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.« Worauf Zarathustra »zürnend« zurückgibt: »Du Geist der Schwere! Mache dir es nicht zu leicht! Oder ich lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuß, – und ich trug dich hoch!«.

Das Bild der »ewigen Wiederkunft des Gleichen« will ein Rätsel sein, und nur einmal wird ein Hinweis auf den Schlüssel gegeben – von den »Tieren Zarathustras«:

Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. / Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. / Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. / In jedem Nu beginnt das Sein, um jedes Hier rollt sich die Kugel dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.

Das will heißen: »ewige Wiederkunft des Gleichen« ist das Bild einer so gearteten Zeitlichkeit, daß in der von ihr konstituierten »Geschichte« jedes »Nu« Anfang und jeder »Ort« »Mitte« ist.

In seinem unentbehrlichen Essay »Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932« behauptet Armin Mohler, die »Kugel« sei wohl ein »besseres« Bild der ewigen Wiederkunft des Gleichen, dabei unterstreicht er aber die unüberwindlichen Schwierigkeiten, die »unsere heutige Sprache« jeder Aussage über die »dreidimensionale« Zeit bereitet.

»In alle Worte – schreibt Möhler – sind die Bedeutungen des linearen Weltbildes eingeflossen, auch dort, wo die Worte ursprünglich anderes bedeutet haben mögen. Unsere heutige Sprache ist linear; jede lineare Sprache ist eine verstandesmäßige Sprache. Oder, anders ausgedrückt: sie wirkt sozusagen nur in einer Dimension und versperrt sich dem Ineinander mehrerer Dimensionen. Sie schreitet von einem zum andern weiter, und woran sie vorbeigeschritten ist, das ist erledigt. Nur in der dichterischen Sprache ist noch Erinnerung an andere Möglichkeiten enthalten. So können wir vom Weltbild der Wiederkehr nur entweder in lineraren Umschreibungen oder in dichterischer Form sprechen.«

Dazu ist aber zu bemerken: Keine Sprache, auch keine dichterische Sprache kann eine Erinnerung an andere Zeitauffassungen als die »lineare« haben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil bis zu Wagner und Nietzsche alle Weltbilder und Geschichtsbilder immer »lineare« Bilder waren.

Das egalitaristische Geschichtsbild ist »segmentarisch«, die antiken »heidnischen« Geschichtsbilder waren »zyklisch«, kreisförmig; beide waren also linear, eindimensional. Das »dreidimensionale« Geschichtsbild ist neu, es hat noch keine »allgemeine« Sprache gestaltet. (Wo und wenn eine solche Gestaltung in mehr oder weniger engem Kreise versucht wurde, wurde sie – verständlicherweise – aktiv angegriffen, als »Jargon der Eigentlichkeit« oder gar als »Sprache des Unmenschen« denunziert.)

Wir können von einer »dreidimensionalen Zeit« nur sprechen im analogischen Rückgriff auf die »Dreidimensionalität« des physikalischen Raumes, wie wir es eben tun: Die Kugel ist ein besseres Bild als der Kreis, weil sie ein dreidimensionales Raumgebilde ist. Sie läßt uns einsehen, daß – so wie im Raume jeder »Körper« sich in drei Dimensionen erstreckt und durch sie bestimmt wird – jedes Geschichtszeitliche (d. h.: jede »Gegenwart«) die drei Dimensionen Vergangenheit (Gewesenheit), Aktualität (Gegenwärtigkeit) und Zukunft (Zukünftigkeit) inne-hat und sich durch sie bestimmt.

Doch bleibt auch das Kugelbild unzulänglich: Wie Mohler hervorhebt, vermag es nicht die vollen »Bedeutungen« des Weltbildes der Wiederkehr zum Ausdruck zu bringen – und das prinzipiell nicht wegen der »Linearität« unserer Sprache, sondern weil alle unsere sinnlichen Bilder wie die anschauliche Kugel höchstens dreidimensionale Bilder sind, die Geschichtswelt aber ein Vierdimensionales ist.

Wie die makrophysische Welt der Relativitätstheorie, so hat auch die Geschichtswelt der »Ewigen Wiederkunft« vier Dimensionen, und zwar – hier anders als die Makrophysis – eine räumliche und drei zeitliche. (Die Geschichtswelt ist ein raumzeitliches Diskontinuum, ein Topochronos; die Welt der Makrophysis ist ein zeiträumliches Kontinuum, ein Chronotopos.)

 

Giorgio Locchi, 1923 – 25. Oktober 1992

 

 

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