Giorgio Locchi

Auszug aus dem Buch

 

Alle Streitfragen unserer Epoche können auf eine grundsätzliche Streitfrage zurückgeführt werden, die Frage nach dem Sinn der Geschichte. Irgendwie — verdeckter- oder offenerweise, bewußt oder unbewußt — wird immer nach dem »Was«, dem »Wie« und überhaupt dem »Wozu« und dem »Wohin« der Geschichte, des »menschlichen Loses« gefragt. Der Frage selbst wird auf den verschiedensten Wegen nachgegangen, Wege, die letzten Endes in zwei gegensätzlichen, »antagonistischen« Stellungnahmen zum »Mensch-Sein«, zum »Dasein« ihren Ursprungsort haben. Diese Stellungnahmen in ihrer Faktizität auszulegen, ihren »Antagonismus« zu erhellen, ist der Zweck des vorliegenden kurzgefaßten Versuches.

Was hier unter »Geschichte« verstanden wird, muß gleich vorausgeschickt werden. Die alltägliche Rede spricht von »Naturgeschichte«, von »Geschichte des Kosmos«, von »Geschichte des Lebens«. In bezug auf die hier angewandte Terminologie sind diese Redewendungen als irreführende Analogie zu betrachten. Geschichte ist etwas rein Menschliches, der Mensch allein hat Geschichte, denn nur der Mensch ist geschichtlich, und zwar so, daß erst seine Geschichtlichkeit ihn zum Menschen macht. (Die Makrophysis [Kosmos] hat keine Geschichte, ist nicht geschichtlich: wie wir sie verstehen und uns tatsächlich vorstellen können, ist sie eine sich in der Zeit ändernde Konfiguration. Die Mikrophysis, das Elementare, hat eine eigene Seinsverfassung: sie ist diskontinuierlich so oder anders. Leben ist ebenfalls nicht geschichtlich: in seinem Streben zur »Reproduktion des Identischen« ist es der Entwicklung ausgesetzt; es ist tatsächlich »evolutiv«, aber wesenhaft ist es »Selbst-identisch-bleiben«.)

 

Martin Heidegger, Bildquelle: Wikipedia

 

Heideggers Zeitlichkeit

Geschichtlichkeit als Wesensverfassung des Daseins, d. h. des Menschen als »geschichtlichen Subjektes«, wurde zuletzt von Heidegger behauptet und am treffendsten ausgelegt. »Das Dasein – so Heidegger in ›Sein und Zeit‹ – hat faktisch je seine Geschichte und kann dergleichen haben, weil das Sein dieses Seienden durch Geschichtlichkeit konstituiert ist.« Nach Heidegger entspringt diese Geschichtlichkeit des Menschen »gleichursprünglich« der »eigentlichen Zeitlichkeit«, die eine »dreidimensionale Zeit« konstituiert; das »vulgäre Zeitverständnis« und die »vulgäre Auslegung der Geschichte« beziehen sich aber auf die »uneigentliche Zeitlichkeit« der »eindimensionalen Zeit«.

Auf dem existential-ontologischen Gebiet der heideggerschen Forschung war die Behauptung einer Dreidimensionalität der Geschichtszeit ein Novum, ein Un-erhörtes, das als solches allgemein überhört wurde. Doch hatte Heidegger, auf seinem ontologischen Wege schreitend, nur das gefunden, was schon seit über einem Jahrhundert in der Luft der deutschen und europäischen Kultur schwebte und webte, eben eine dem »vulgären« Geschichtszeit-Verständnis entgegengesetzte Intuition (»Verstehen« – in der heideggerschen Sprache) der Geschichtszeit.

Heidegger hat diese bereitliegende Intuition, obwohl sie nicht sehend empfangen, begrifflich ausgelegt und in die Universität, in die Berufsphilosophie wie gewalttätig eingeführt. Da er aber, wie angedeutet, die kulturelle Vorhandenheit des neuen »eigentlichen« Zeitverständnisses nicht sah und anderseits seine Fragestellung existential-ontologisch (metaphysisch) begrenzte, hat er leider den unmittelbaren Zusammenhang des neuen »eigentlichen« Zeitverständnisses mit dem epochalen Konflikt, in dem wir stehen, verdeckt, ein Konflikt, der eben vor allem Konflikt zwischen dem »alten« (»vulgären«) und dem »neuen« Geschichtsverständnis ist.

Nach Heidegger entspringen der »eigentlichen« und »uneigentlichen« Zeitlichkeit zwei verschiedene Seinsarten des Daseins: aus der »uneigentlichen« leite sich die Alltäglichkeit des »Man« her, und zwar unvermeidlich, denn das Dasein als »In-der-Welt-sein« verstehe sich selbst »zunächst und zumeist« aus der Welt her; nur ausnahmsweise gelange das Dasein zur »Eigentlichkeit«, im Sich-selbst-Verstehen aus sich selbst her.

Ob eine solche Analyse existential-ontologisch richtig sei, ob das von Heidegger »uneigentlich« Genannte nicht zur Seinsverfassung des »Lebens« (statt derjenigen des Daseins) gehöre, bleibe hier dahingestellt; ins Kultur-Historische übersetzt, wird sie offensichtlich falsch.

Ins Kultur- Historische übersetzt, führt Heideggers Analyse zu der Annahme, dem Dasein (dem Menschen) sei es seit je – wenn auch ausnahmsweise – gelungen, zur »Eigentlichkeit« zu kommen und damit zum Verständnis der »eigentlichen Zeitlichkeit«. Diese Annahme ist irreführend: was Heidegger »vulgäres Zeitverständnis«, »vulgäre Auslegung der Geschichte« nennt, sind das Zeitverständnis und die Geschichtsauslegung der abendländischen Tradition. Beide herrschen als solche immer noch; dagegen ist die »Entdeckung« der »eigentlichen Zeitlichkeit«, der Dreidimensionalität der Geschichtszeit eben ein kultur-historisches Novum, das übrigens noch nicht zum klaren Bewußtsein seiner eigenen Träger gelangt ist.

Dieses Novum hat seinen geschichtlichen Anfang, einen fast unterirdischen Anfang, in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, mit dem »Entstehen« von Geschichts- und Weltanschauungen, deren Fundament eine ursprüngliche Intuition der »eigentlichen Zeitlichkeit« ist. Dank Heidegger kommt es dann zum ersten Male zu einer philosophischen Enthüllung (»Eröffnung«) der »eigentlichen Zeitlichkeit«, aber im engen Rahmen der Existential-Ontologie, ohne irgendwelchen Ansatz zu einer konkreten Geschichtsauslegung, so daß der kulturhistorische Kontext der Enthüllung selbst unwillkürlich verdeckt wird, wozu auch die Tatsache beitrug, daß Heidegger seine »Vorläufer« nicht sah oder übersah. Er mißverstand den Sinn des zarathustrischen Weltbildes eines Nietzsche, dessen Werk von ihm paradoxerweise als der Vollzug der alten, »zu destruierenden« Metaphysik des judäo- christlichen Abendlandes interpretiert wurde. Und er nahm überhaupt keine Notiz von dem Werke Richard Wagners, d. h. von einem sich als Mythus in der »Sprache« des Mythus darbietenden Weltbild, das, zum ersten Male in der Geschichte, der innigsten und »sichersten« Intuition der »eigentlichen«, dreidimensionalen Geschichtszeit entsprang.

Wenn – wie ausgeführt werden soll – »eigentliche Zeitlichkeit« im heideggerschen Sinne und Intuition der »Dreidimensionalität« der Geschichtszeit das grundlegende Moment der »zarathustrischen Weltanschauung« Nietzsches sind, gilt dies auch für das Werk Richard Wagners, dem also die ursprüngliche Gründung der »neuen« epochalen anti- egalitaristischen Tendenz zuzuschreiben ist. Die intime »tendenziale« Verwandtschaft der Werke Wagners und Nietzsches zeigt ausführlich mein Buch »Wagner, Nietzsche e il nuovo Mito« (Ed. II Labirinto, San Remo, 1980).

Dieses Nicht-Sehen oder Übersehen seiner geschichtlichen Vorläufer hat Heidegger nicht daran gehindert, tiefe Einsicht in den epochalen Weltkonflikt zu gewinnen, an welchem er selbst mit seinem philosophischen Werk an vorderster Front (wenn auch allzu oft unbeachtet) teilnahm und teilhatte. Er wies ausdrücklich darauf hin, daß die »Destruktion der abendländischen Metaphysik« und die dadurch erstrebte Wiederentdeckung der »ursprünglichen Wurzeln« – der Zweck selbst seines Werkes – als die notwendige Vorbedingung der »großen Entscheidung« zu betrachten sei, die Europa vor der Vernichtung bewahren soll.

Eben deshalb muß aber nicht minder ausdrücklich daran erinnert werden, daß eine solche »Destruktion« – vom Gegner als »Zerstörung der Vernunft« prompt diffamiert – schon lange vor ihm in und mit den Werken von Wagner, Nietzsche und ihrer reichen Nachfolge unternommen und als »ursprüngliche mythische Grundlegung« sogar vollzogen wurde. Objekt dieser »Destruktion« ist tatsächlich eine ganze zweitausendjährige »epochale Tendenz« mit all ihren geschichtlichen Konkretionen, von denen die »abendländische Metaphysik« nur ein, wenn auch fundamentaler Aspekt ist.

 

Friedrich Nietzsche und Richard Wagner, Bildquelle: Classicfm.com

 

Das Geschichtsbild des »Egalitarismus«

Diese im Sinne Heideggers zu destruierende epochale Tendenz wird hier – nach Nietzsche – ›Egalitarismus‹ genannt. Sie zu »destruieren«, ist das Bestreben einer neuen antagonistischen epochalen Tendenz, deren erste politische Konkretionen in späterer Zeit den zweideutig ausweichenden Sammelnamen »Konservative Revolution« erhalten haben.

Zum Wesen des Egalitarismus gehört ein Geschichtsverständnis, das für die »eigentliche Zeitlichkeit« blind ist und bleibt, und Geschichte immer im Sinne einer – wie wir sehen werden – »segmentarisch« gesehenen eindimensionalen Zeitlichkeit versteht und verstehen muß. Der Egalitarismus hat zwar die Unzulänglichkeit einer so »gesehenen« und verstandenen »Geschichte« immer empfunden und behauptet, doch war diese Unzulänglichkeit nur »moralisch« gemeint; da aber sein Wesen ihm jede Einsicht in die eigentliche Geschichtlichkeit versperrte, hat der Egalitarismus auch immer die uneigentliche »Geschichte« als »wahre« hingestellt und – man könnte sagen: folgerichtigerweise – die Geschichte und das »geschichtliche Los« des Menschen im Namen der »Menschheit« beklagt und angeklagt.

Die Anklage lautet seit je: Geschichtlichkeit sei nicht das wahre Sein der Menschheit, das wahre Sein des Menschen sei jenseits des Geschichtlichen zu suchen, zu erstreben, zu erobern. Anfänglich, mit der judäo-christlichen Lehre, war diese Anklage noch »chiffriert«, mythisch verhüllt. Allmählich offener geworden, bestimmt sie heute gebieterisch das ganze geschichtliche Sein der sozialen, politischen, kulturellen Institutionen des Abendlandes.

Geschichte – behauptet sie nun – sei die Folge einer Wesensentfremdung der Menschheit, ein Fluch; der Geschichte ein Ende zu setzen, Geschichte aufzuheben, sei die der Menschheit auferlegte Aufgabe, damit ihre endgültige Emanzipation stattfinde. Den Weg zu diesem Ende zu finden und zu bahnen, dem gilt das Streben aller Verzweigungen des Egalitarismus, wenn auch bei manchen noch unbewußt oder mindestens unausgesprochen. Man träumt und spricht von einer Rückkehr zu einem »bereicherten« Naturstatus, zu einer konfliktlosen Naturruhe auf der gewonnenen Grundlage eines Stillstandes von Wachstum und Fortschritt (Marcuse, Levi-Strauss), zum kleinen, aber sicheren »Glück« aller Tierarten, zur »Sorglosigkeit«.

Die Idee eines »Endes der Geschichte« kann sehr modern anmuten. Sie ist aber ebenso alt wie die egalitaristische Tendenz, denn sie entspringt unmittelbar dem »egalitaristischen« Verständnis der »Geschichtszeit«. Seit nunmehr zweitausend Jahren, d. h. seit der Heraufkunft des Christentums, ist diese Tendenz kulturbestimmend, die sogenannte »abendländische Kultur« ist ihr der antiken Welt abgerungenes Werk. Dieser »Wille« – denn Tendenz ist auch Wille – war anfänglich triebhaft (»instinktiv«) und sozusagen wie blind, aber er ist im fortschreitenden organischen Wachstum heute zum Bewußtsein seiner selbst und damit, unter anderem, seines Endzieles gelangt: und dieses Ziel ist eben das Ende der Geschichte, genauer: der Austritt aus der Geschichte.

Gefährte Giorgio Locchi