Dominique Venner

Anläßlich des zehnten Jahrestages des Todes von Dominique Venner präsentiert der ›Arktos‹ einen Auszug aus dem Buch

Der Schock der Geschichte

Der Schock der Geschichte: Wir leben ihn, ohne ihn zu kennen oder zu begreifen. Viele vergangene Epochen haben ähnliche Schocks erlebt und standen vor immensen Herausforderungen, wie etwa die Hellenen während der Perserkriege. Im Laufe der Jahrhunderte haben „moderne“ und zeitgenössische große Schocks Reaktionen hervorgerufen, die die Ideengeschichte stark geprägt und die persönlichen und politischen Weltanschauungen auf lange Sicht entscheidend beeinflußt haben. Machiavelli wurde inmitten einer turbulenten Zeit für Florenz und Italien am Ende des 15. Jahrhunderts geboren; Montaigne in den französischen Religionskriegen; Hobbes zur Zeit des ersten englischen Bürgerkriegs; Carl Schmitt in der deutschen und europäischen Katastrophe, die auf den Versailler Vertrag folgte; Samuel Huntington im neu entstehenden Kalten Krieg.

Seit dem beängstigenden Rückzug Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Verschwinden traditioneller Souveränitäten und dem Ende des „jus publicum europaeum“, das dem Krieg zwischen den Staaten Grenzen setzte und durch das amerikanische Konzept der Kriegsverbrechen und der Kriminalisierung des Feindes ersetzt wurde, sehen sich die Europäer nun mit einem neuen Schock der Geschichte konfrontiert, der neue Antworten erfordert. Die amerikanische Hegemonie hat zu einer vollständigen Globalisierung der Wirtschaft geführt, die den Finanzhaien zugute kommt und dem Durchschnittsbürger sehr schadet. Hinzu kommen die unsäglichen Folgen der Invasion Europas durch Massen von Einwanderern exotischer Herkunft, die völlig unfähig sind, sich zu integrieren, und das Wiedererwachen früherer Mächte, die bis vor kurzem als bereits tot galten.

Die Wahrnehmung dieser historischen Umbrüche war von Anfang an der Kern meiner Arbeit als Historiker. Dies umfaßt die Beziehung zwischen Religion und Politik, Religion und Identität sowie die Kontinuität und Wiederkehr von Zivilisationen, die als besondere Ausdrucksformen der lang anhaltenden Identitäten ihrer Völker betrachtet werden. So fand Europa seit den Anfängen ihrer sehr langen Geschichte, noch bevor sie ihren Namen erhielt, Antworten in einer Tradition, die bis zu den Gedichten von Homer zurückreicht, selbst ein Ausdruck der indoeuropäischen Wurzeln, die Tausende von Jahren zurückreichen.

Hochkulturen sind nicht einfach Regionen des Planeten, sie sind ganz andere Planeten. Ähnlich wie unsere europäischen Zivilisationen haben auch die chinesische, indische, muslimische, indianische und hispanoamerikanische Zivilisationen Wurzeln, die bis in die Urzeit zurückreichen. Diese Wurzeln reichen oft bis in die Tiefen der Vorgeschichte selbst. Sie beruhen auf bestimmten Traditionen, die in immer neuen Formen überliefert werden. Sie bestehen aus spirituellen Werten, die Verhaltensweisen aufbauen und Vorstellungen nähren. Wenn zum Beispiel die Sexualität genauso universell ist wie das Essen, dann ist die Liebe in jeder Zivilisation anders, ebenso wie die Darstellung der Weiblichkeit, der Küche, der Architektur, der bildenden Kunst und der Musik. Sie alle spiegeln eine geistige Morphologie wider, die sowohl durch Atavismus als auch durch Erfahrung weitergegeben wird. Diese Merkmale machen uns zu dem, was wir sind, anders als alle anderen. Sie bilden unsere fortwährende Tradition, unsere einzigartige Art und Weise, Männer und Frauen zu sein, angesichts von Leben, Tod, Liebe, Geschichte und Schicksal. Ohne sie sind wir dazu verurteilt, zu nichts zu werden, im Chaos zu verschwinden, und zwar im Chaos einer von anderen beherrschten Welt.

Glücklicherweise überlebt unsere Tradition in unserem Unterbewußtsein, auch wenn sie aufgrund alter Spaltungen, die unser Gedächtnis erschüttert haben, in Vergessenheit geraten ist – ein Gedächtnis, das durch den trügerischen Glauben an unsere universelle Mission noch weiter geschädigt wurde. Ein Glaube, der gefährlich falsch ist.

Falscher als selbst Samuel Huntington es sich hätte vorstellen können. Dieser Glaube verleugnet und zerstört andere Kulturen und Zivilisationen, insbesondere solche, die die universalistischen Werte bedrohen, die angeblich „westlich“ sind, in Wirklichkeit aber nur zum Nutzen der globalisierten Märkte und der „Demokratie“ existieren, zusammengefaßt in dem Triptychon: „Spaß, Sex und Geld“. Es ist uns natürlich klar, daß dieser globalistische Anspruch den Widerstand gegen sich selbst und sogar den Aufstand der Völker, die ihn ablehnen, hervorruft.

Dieser universalistische Glaube ist auch für uns in Europa gefährlich. Er hemmt unsere Fähigkeit zu begreifen, daß andere Menschen nicht so fühlen, denken oder leben wie wir. Er ist gefährlich, weil er sich zerstörerisch auf unsere eigene Identität auswirkt. Nachdem die Europäer andere Völker im Namen des Universalismus kolonisiert haben, sind sie nun dabei, im Namen desselben Prinzips kolonisiert zu werden, gegen das sie sich nicht zu wehren wissen: Wenn alle Menschen Brüder sind, kann nichts die Ankunft der anderen vor unserer Haustür aufhalten.

In der Vergangenheit, als Europäer stark und mächtig waren und die Welt beherrschten, machten sie aus ihrer christlichen oder säkularen Kultur, die in beiden Fällen universalistisch und individualistisch war, das Werkzeug, mit dem sie eroberten und es der gesamten Welt aufzwingen wollten. Dies wurde durch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts zerschlagen: die beiden Weltkriege in Europa, die Entkolonialisierung und das Erwachen alter Zivilisationen. Was einst eine Quelle der Stärke war, ist nun zur Ursache ihrer Schwäche geworden. Ihre alte universalistische Weltanschauung hat ihre moralischen Verteidigungen aufgehoben, trotz ihrer wirtschaftlichen Stärke und einiger vager Regungen illusorischer Macht. Europa wurde nackt und wehrlos in eine Welt geworfen, die darauf aus ist, sie aus Rachsucht zu erniedrigen.

Anderswo werden die Dinge ganz anders wahrgenommen, als sich der Durchschnittseuropäer jemals vorstellen könnte. Um diese Realität zu verdeutlichen, möchte ich zwei Erfahrungsberichte aus Frankreich anführen. Der erste ist der von Dalil Boubakeur, Rektor der Pariser Moschee und Präsident des französischen Rates für den muslimischen Glauben. Er erklärt, der Islam sei „zugleich eine Religion, eine Gemeinschaft, ein Gesetz und eine Zivilisation […] als Muslime gelten nicht nur diejenigen, die die fünf Säulen des Islam praktizieren, sondern alle, die an diesem identitären Ganzen teilhaben“. Das Schlüsselwort hier ist identitär. In diesem Sinne ist der Islam nicht einfach eine Religion. Er ist viel mehr als das: Er ist „eine Gemeinschaft, ein Gesetz, eine Zivilisation“.

Diese Interpretation deckt sich mit einer anderen Darstellung des Philosophen André Comte-Sponville. In einem Buch über Atheismus und Religiosität erwähnt er Freunde von ihm, die sich als „atheistische Juden“ bezeichnen. Der Begriff hat ihn verblüfft. Man kann sich keine Christen vorstellen, die sich als „atheistische Christen“ bezeichnen. Er nahm sich vor, mit einem ehemaligen Klassenkameraden, der früher ein militanter Maoist war, darüber zu sprechen: „Aber glaubst du denn an Gott?“ Sein Freund lächelte: „Weißt du, für einen Juden ist es nicht wirklich die Frage, ob man an Gott glaubt oder nicht…“

Für Comte-Sponville, der katholisch erzogen wurde, stand dies im Widerspruch zur zentralen Frage der Religion. Sein Freund erklärte ihm, daß es um etwas ganz anderes geht: „Gott existiert nicht, aber wir sind sein auserwähltes Volk…“ Jüdisch zu sein bedeutet für ihn, einer bestimmten Geschichte, Tradition, einem Gesetz, einem Buch und einer Gemeinschaft gegenüber loyal zu sein. Diese Loyalität hat seinem Volk geholfen, Jahrhunderte ohne Staat, ohne Heimat, ohne „irgendeine andere Zuflucht als die Erinnerung und die Treue“ zu überleben.

Inmitten der christlichen Kultur, die zugleich universalistisch und individualistisch ist, ist dies überraschend. Aber viele andere Religionen, auch der Islam, wie wir gerade gesehen haben, und natürlich das Judentum, aber auch der Hinduismus, der Shintoismus oder der Konfuzianismus, sind nicht nur Religionen im christlichen oder säkularen Sinne des Wortes, nämlich eine persönliche Beziehung zu Gott, sondern auch Identitäten, Gesetze und Gemeinschaften.

Das Denken, das die Identität einer Gruppe mit ihrer immerwährenden Tradition in Verbindung bringt, kann den modernen Europäern helfen, die oft durch eine tief verwurzelte Kultur des Säkularismus entchristlicht sind. Es kann ihnen helfen, die starken identitären Bindungen zu finden, die über den persönlichen Glauben (oder dessen Fehlen) hinausgehen. Welche Bindungen? Eben jene der Tradition. Bindungen, die in der Lage sind, die Europäer miteinander zu verbinden und sie moralisch zu wappnen, damit sie der drohenden Gefahr des völligen Verschwindens in der großen Leere des universellen Schmelztiegels und der „Brasilianisierung“ begegnen können. So wie sich einige als Söhne Shivas, Mohammeds, Abrahams oder Buddhas sehen, ist es wichtig, daß sich die Europäer als Söhne Homers, Odysseus‘ und Penelopes verstehen.

Die europäische Tradition, deren Ursprünge vor dem Christentum liegen, wie Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung am 12. September 2006 mutig in Erinnerung rief, läßt sich mit religiösen Überzeugungen – oder dem Fehlen solcher – gut vereinbaren, da diese in Europa zur Privatsache geworden sind. Ob man nun Christ, Freidenker oder was auch immer ist, der Punkt ist, daß wir, um Widerstand zu leisten und uns zu erneuern, die politischen und konfessionellen Variablen überwinden und die Beständigkeit der Tradition wiederentdecken müssen, die unsere Gründungsgedichte seit Jahrtausenden durchdrungen hat.

Quelle: https://arktos.com/2023/05/21/civilization-and-identity/

Siehe auch:

Über die „homerische Regeneration“ Europas