Walter F. Otto
Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankfurt/M. 1970
Apollon ist der griechischste aller Götter. Wenn der griechische Geist in der Olympischen Religion seine erste Ausprägung gefunden hat, so ist es Apollon, dessen Gestalt ihn am deutlichsten offenbart. Wiewohl der dionysische Enthusiasmus einmal eine bedeutende Macht gewesen ist, so kann doch kein Zweifel sein, daß es die Bestimmung des Griechentums war, diese und alle Maßlosigkeit zu überwinden, und daß seine großen Repräsentanten sich mit ganzer Entschiedenheit zum apollinischen Geist und Wesen bekannt haben. Dionysisches Wesen will den Rausch, also die Nähe; apollinisches dagegen will Klarheit und Gestalt, also Distanz. Dieses Wort drückt unmittelbar nur etwas Negatives aus, dahinter aber steht das Positivste: die Haltung des Erkennenden.
Apollon lehnt das allzu Nahe ab, die Befangenheit in den Dingen, den verschwimmenden Blick, und ebenso das seelische Ineinsfließen, die mystische Trunkenheit und ihren ekstatischen Traum. Er will nicht Seele, sondern Geist. Das bedeutet: Freiheit von der Nähe mit ihrer Schwere, Dumpfheit und Gebundenheit, vornehmen Abstand, ausgeweiteten Blick. Mit dem Ideal der Distanz tritt Apollon nicht bloß zum dionysischen Überschwang in Gegensatz. Für uns ist es noch bedeutsamer, daß er damit den schärfsten Widerspruch gegen das, was später im Christentum zu höchsten Ehren gelangen sollte, erhebt.
Wie er selbst seine Persönlichkeit nicht betont und mit seinen Delphischen Sprüchen niemals für sich selbst Lobpreis und Ehrung vor allen andern beansprucht hat, so will er auch von dem ewigen Wert des menschlichen Individuums und der Einzelseele nichts wissen. Der Sinn seiner Offenbarung ist, daß sie den Menschen nicht auf die Würde seines Eigenwesens und die Tiefinnerlichkeit seiner individuellen Seele, sondern auf das, was über der Person ist, auf das Unwandelbare, auf die ewigen Formen hinweist. Was wir gewohnt sind, Wirklichkeit zu nennen, das konkrete Dasein mit seiner Selbstempfindung, vergeht wie ein Rauch; das Ich mit seinem Eigengefühl, sei’s Lust oder Schmerz, Stolz oder Demut, versinkt gleich einer Welle. Aber ewig bleibt und „göttlich unter Göttern die Gestalt“.
Das Sonderliche und Einmalige, das Ich mit seinem Hier und Jetzt ist nur der Stoff, an dem die unvergänglichen Formen erscheinen. Wenn der Christ sich demütigt und gewiß ist, eben damit der Gottesliebe und Gottesnähe würdig zu werden, so verlangt Apollon eine andere Demut. Zwischen dem Ewigen und den irdischen Erscheinungen, zu denen auch der Mensch als Individuum gehört, ist eine Kluft. Das Einzelwesen reicht nicht hinüber in das Reich der Unendlichkeit.
Was Pindar im Geiste Apollons seinen Hörern einschärft, ist nicht die mystische Lehre von einem seligen oder unseligen Jenseits, sondern das, was Götter und Menschen voneinander unterscheidet. Wohl haben beide dieselbe Urmutter, aber flüchtig und nichtig ist der Mensch, und nur die Himmlischen dauern ewig (Pind. Nem. 6, 1 ff.). Wie ein Schatten gleitet das Menschenleben dahin, und wenn es glänzt, ist’s ein Strahl von oben, der es vergoldet (Pindar Pyth. 8, 95 ff.).
Darum soll der Mensch sich nicht vermessen, den ewigen Göttern ebenbürtig zu sein, sondern seine Grenze erkennen und bedenken, daß die Erde sein Kleid sein wird (Pindar Isthm. 5, 14ff.; Nem. 11, 15 f.). Der Kranz des Lebens, den auch der Sterbliche gewinnen kann, ist das Gedächtnis seiner Tugenden. Nicht seine Person, sondern, was mehr ist, der Geist seiner Vollkommenheiten und Schöpfungen überwindet den Tod und schwebt im Gesange ewig jung von Geschlecht zu Geschlecht. Denn nur die Gestalt gehört dem Reich der Unvergänglichkeit an.
In Apollon grüßt uns der Geist der schauenden Erkenntnis, der dem Dasein und der Welt mit einer Freiheit ohnegleichen gegenübersteht ― der echt griechische Geist, dem es beschieden war, nicht bloß so viele Künste, sondern schließlich auch die Wissenschaft hervorzubringen. Er vermochte es, Welt und Dasein mit einem von Begier und Erlösungssehnsucht gleich freien Blick als Gestalt anzuschauen. In der Gestalt ist das Elementare, Augenblickliche und Individuelle der Welt aufgehoben, ihr Sein aber anerkannt und bestätigt. Sie zu treffen, erfordert eine Distanz, zu der alle Weltverneinung nicht fähig gewesen ist.
Das Bild des ›Ferntreffers‹ Apollon ist die Offenbarung einer einzigen Idee. Ihr Inhalt gehört nicht der Sphäre einfacher Lebensbedürfnisse an, und die so beliebten Vergleiche mit primitiven Glaubensformen sind in diesem Falle ganz nutzlos. Es ist eine geistige Macht, die hier ihre Stimme erhebt. Und sie ist bedeutend genug, um einem ganzen Menschentum Form zu geben. Sie kündet die Gegenwart des Göttlichen nicht in den Wundertaten einer übernatürlichen Kraft, nicht in der Strenge einer absoluten Gerechtigkeit, nicht in der Fürsorge einer unendlichen Liebe, sondern in dem sieghaften Glanz der Klarheit, im sinnvollen Walten der Ordnung und des Ebenmaßes. Klarheit und Gestalt sind das Objektive, dem auf Seiten des Subjektes Distanz und Freiheit entsprechen. Und in dieser Haltung tritt Apollon vor die Menschenwelt. In ihr prägt sich seine helle, unbeschwerte, lichthaft durchdringende Göttlichkeit aus.
Wir verstehen es gut, daß er, dessen sublimes Sein weder in einem Element noch in einem Naturvorgang begründet war, schon verhältnismäßig frühzeitig mit der Sonne in Verbindung gebracht werden konnte. Schon in einer verlorenen Tragödie des Äschylos, in den Bassarai, hieß es, daß Orpheus den Helios als größten aller Götter verehrt und ihm den Namen Apollon gegeben habe. Und derselbe Dichter hat im Prometheus die Strahlen der Sonne [so] charakterisiert, das wir als Beinamen des Apollon kennen, und zwar als seinen berühmtesten, Phoibos. Nun stellte sich auch das gewaltige Bild ein, daß Apollon mit den Klängen seiner Leier das Weltall in harmonischer Bewegung erhält (vgl. Orph. Hymn. 34, 16ff.), und das Plektron, mit dem er sie schlägt, ist das Licht der Sonne (vgl. Skythin. fragm. 14; und dazu Neustadt, Hermes 1931, S. 389).
Wie alle echten Gottheiten, so Iäßt sich auch Athene nicht aus einer einzigen, besonders augenfälligen Wirksamkeit verstehen. Der kraftvolle Sinn, der sie zum Genius der Sieghaftigkeit macht, hat eine Weite, die der Gesichtskreis des Schlachtfeldes nicht ausmessen kann. Nur die ›helläugige Klugheit‹, in jedem Augenblick das Entscheidende zu erkennen und das Zweckdienlichste herzustellen, füllt mit der Vielseitigkeit ihres lebendigen Wirkens sein Ideal ganz aus.
Das Epos pflegt einigen seiner Götter feststehende Prädikate zu geben, die zugleich mit dem äußeren Eindruck das Wesen selbst kennzeichnen. So heißt Hera bekanntlich ›die Kuhäugige‹. Man führt dies auf ihr heiliges Tier zurück, in dessen Gestalt sie selbst ehemals vorgestellt worden zu sein scheint, und tut gewiß recht daran. Aber was hat es zu bedeuten, daß die Göttin gerade mit diesem Tier verbunden worden ist? Diese Frage wiederholt sich bei allen Göttern und ihren tierischen oder pflanzlichen Attributen, die einmal auch ihre eigenen Erscheinungsformen gewesen sind. Das Erklärungsbedürfnis des Religionsforschers begnügt sich hier oft mit recht äußerlichen oder zufälligen Anknüpfungen. Und doch sollte man bedenken, wie fern wir dem Daseins- und Weltgefühl mythischer Zeitalter gerückt sind und wie gering in vielen FälIen die Wahrscheinlichkeit sein mag, daß wir den Sinn der Verbindung jemals erraten werden.
Aber zuweilen können doch auch wir noch von den Tieren oder Pflanzen einen Eindruck empfangen, der dem der Göttergestalten sehr nahe kommt. Was scheint natürlicher, als daß der Pfau zum Vogel der Hera wurde? Diese Verbindung gehört allerdings einer verhältnismäßig späten Zeit an. Aber ist es mit der Kuh nicht ebenso, wenn wir die königliche Ruhe und Schönheit dieses mütterlichen Tieres recht empfinden? Und gerade das, worin sich diese Ruhe und Macht am wirkungsvollsten ausdrückt, der Blick des großen Auges, dient im Epos als Kennzeichnung der Hera.
Wenn wir uns das Wesen der Göttin vergegenwärtigen ― diesen Geist hellsten Wachseins, der blitzschnell erfaßt, was vom Moment erfordert wird, der mit nie getrübter Klarheit immer Rat findet und den schwersten Aufgaben mit der schlagfertigsten Bereitschaft entgegengeht ― läßt sich ein besseres Erkennungszeichen und Symbol für dieses Wesen erdenken als der helle, leuchtende Blick des Auges? Man kann dies schöne Bild nicht ärger mißverstehen, als wenn man in ihm einen Rest uralten Götter- oder Dämonenschreckens erkennen will. Sollten wir nicht endlich aufhören, der Erklärung aus dem Dumpfen und Plumpen auch da den Vorzug zu geben, wo das Geistreiche am nächsten liegt? Es waren doch keine schrecklichen Augen, die den erzürnten Achilleus, wie Homer beschreibt (Ilias I, 200) „gewaltig anleuchteten“, als er Athene plötzlich ins Gesicht sah und von ihr zur Besonnenheit und Haltung ermahnt wurde.Die echte Athene ist weder ein wildes noch ein beschauliches Wesen. Von beiden Naturen ist sie gleich weit entfernt. lhr Kampfwille ist kein Draufgängertum, ihr heller Geist keine reine Vernunft. Sie vertritt eine Welt der Tat, aber nicht der unbedachten und rohen, sondern der besonnenen, die durch ihre klare Bewußtheit am gewissesten zum Siege führt.
Ja, erst der Sieg macht ihre Welt vollkommen. In der Stadt, die von ihr den Namen trug, wurde sie selbst Nike genannt, und die berühmte Statue der Parthenos von Phidias trug auf der rechten Hand ein Bild der Siegesgöttin. Nike, „die Spenderin süßer Gaben, die im goldstrahlenden Olympos an Zeus’ Seite Göttern und Menschen den Erfolg edler Tatkraft entscheidet“ (Bakchylides. 10), gehorcht dem Wink der Athene. Im Hesiodischen Schildgedichte springt sie selbst vor Beginn des Kampfes zu Herakles auf den Wagen, „Sieg und Ruhm in den göttlichen Händen haltend“. So ist sie allem männlichen Ringen, das Größe hat, nahe. Aber der Mensch soll wissen, daß Größe und Triumph Offenbarungen des Göttlichen sind. Wer die Göttin zurückweist und sich nur auf seine eigene Kraft verlassen will, wird von derselben göttlichen Macht elend zugrunde gerichtet (vgl. Sophokles, Aias 758ff).
Der Glaube an Athene entsprang keiner Einzelnot, keinem Einzelverlangen des Menschenlebens. Sie ist der Sinn und die Wirklichkeit einer ganzen, in sich vollendeten Welt: der klaren, harten, glorreichen Manneswelt des Planens und Vollbringens, deren Lust das Kämpfen ist. Und diese Welt schließt auch das Weibliche mit ein. Aber nicht als Liebende oder Mutter, nicht als Tänzerin oder Amazone, sondern als lebenskluges und kunstreich schaffendes Wesen gehört die Frau der Athene an. Um den Sinn ihrer Gestalt aber ganz zu verstehen, müssen wir uns schließlich auch darüber noch klar werden, was sie nicht ist. Sie ist im Verlauf der Zeiten und an einzelnen Kultorten zu allerlei Unternehmungen und Notwendigkeiten in Beziehung gesetzt worden. So finden wir sie in Athen als Schützerin der Heilkunst, des Ackerbaus, ja der Ehe und Kinderzucht. Aber all das ist unwesentlich und soll daher nicht weiter verfolgt werden. Schließlich ist sie sogar zur Patronin der Künste und Wissenschaften geworden. Dies späte Athenebild zeugt von dem Glanze und dem geistigen Führertum ihrer Stadt Athen. Aber von dem alten Bilde hat es sich sehr weit entfernt. Denn der helle Geist der echten Athene hat mit reiner Erkenntnis und mit allem Musischen nichts zu tun. Ihr bleibt die Gelassenheit des Abstandnehmens, der freie Blick der Betrachtung und der daraus entspringende Wille zu höherer Gestaltung fremd. Ihr fehlt die Musik im eigentlichen und im weitesten Sinne des Wortes. Sie soll zwar die Flöte erfunden haben, aber man erzählt, sie habe sie sogleich wieder verworfen. Dagegen paßt die Erfindung der Kriegstrompete ganz zu ihrem Wesen.
So besitzt sie vieles nicht, was andere Gottheiten, namentlich Apollon, auszeichnet. Aber all dies fehlt ihr so, wie jeder ganzen Gestalt dasjenige fehlen muß, was ihr Sinn ausschließt. Denn sie ist die tapfere Unmittelbarkeit, die erlösende Geistesgegenwart, die rasche Tat. Sie ist die Immernahe.◊
Walter F. Otto; * 22. Juni 1874 in Hechingen; † 23. September 1958 in Tübingen
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