Dominique Venner

Auszug aus dem Buch ›Ein Samurai aus Europa‹

 

Dieses Brevier wurde von einem Europäer für Europäer geschrieben – für Hyperboreer, wie Nietzsche gesagt hätte. Menschen aus anderen Völkern oder Kulturkreisen können es selbstverständlich lesen, aber dann nur aus intellektueller Neugier. Für Europäer hingegen, Söhne der verschiedenen Völker der großen boreischen Heimat, ist dieses Buch sozusagen das Buch ihres besonderen Schicksals in der Welt. Es enthält Überlegungen über die Ursachen des Niedergangs und Dämmerschlafs der europäischen Seele.

Es zeigt die Gefahren der Hybris und anderer verderblicher Unzulänglichkeiten. Durch die Hermeneutik der Homerschen Gedichte und der Beiträge des Stoizismus als Lebensweisheit knüpft es wieder an unsere ureigensten Quellen an.

 

Ein Blatt der Geschichte hat begonnen, sich zu wenden

Selbstverständlich vermag ein Buch allein den Lauf der Geschichte und der ›Vorstellungen‹, die sich scheinbar endgültig in die Geister eingenistet haben, nicht zu wenden. Ein Buch besitzt nicht die Macht, die Welt zu verändern, und es wäre lächerlich, zu hoffen, daß es so etwas könnte. Umgekehrt verändert sich die Welt und wartet manchmal auf neue Bücher.

Wir sind in eine solche Zeit des Umbruchs eingetreten. Trotz der Katastrophen, die aus Europa ein schlaffes, formloses, an Gedächnisschwund und Schuldkomplexen leidendes Gebilde gemacht haben, welches sich vor der Gewalt der Barbaren durch Flehen und unwürdige Schmeichelei zu schützen wähnt, hat der Aufstand gegen diese Schande vor unseren Augen begonnen. Er kam oft von unerwarteter Seite, das Omen einer inneren Rückeroberung vorzeichnend. Wieder Herr seiner selbst und im eigenen Hause zu werden, so lautet die Hoffnung! Seinen Kindern in die Augen blicken können, ohne daß einem die Schamröte ins Gesicht steigt, und wenn die Stunde gekommen ist, sich vom Leben verabschieden in der Gewißheit, daß das Erbe gesichert ist.

Vor unseren Augen hat ein Blatt der Geschichte begonnen, sich zu wenden. Wir sind nämlich in eine Zeit eingetreten, die tiefgründige Umwälzungen durchmachen wird, welche wiederum neue ›Vorstellungen‹, neue Weltanschauungen und neue Energien auf den Plan rufen werden. Die ersten Anzeichen rufen schon bei den Europäern das Bedürfnis wach, zu sich selbst, d. h. zum Geist ihres Geistes zurückzufinden. Das vorliegende Brevier verfolgt kein anderes Ziel, als diese Neigung zu begleiten und zu vertiefen.

Da ich mir im Innersten meines Wesens dessen bewußt bin, was ich meiner Abkunft verdanke, lege ich Wert darauf, zu betonen, daß ich das Grundrecht aller anderen Menschen billige und immer verteidigen werde, ihre eigene Heimat, ihre Kultur, ihre Wurzeln zu besitzen, wodurch sie eine Identität und ein Daheim haben, anstatt einfach nichts zu sein.

Deshalb stehe ich auf gegen das, was mich leugnet. Ich stehe auf gegen die programmierte Invasion in unsere Städte und Länder, ich stehe auf gegen die Ablehnung des französischen und europäischen Gedächtnisses. Ihm verdanke ich Vorbilder von Haltung, von Tapferkeit, von Erlesenheit aus der fernsten Vergangenheit, aus der Zeit Hektors und Andromaches, Odysseus’ und Penelopes. Ich, der ich wie alle meine europäischen Brüder davon bedroht bin, die spirituelle und historische Zersetzung zu erleben, besitze mit diesem Gedächtnis das wertvollste Gut, die Grundlage der Neugeburt.

 

Menschen existieren nur durch ihre Unterschiede

Jenseits aller persönlichen Überzeugungen gibt es Grundprinzipien alles menschlichen Lebens. In der allgemeinen Begriffsverwirrung und Orientierungslosigkeit gilt es, diese Prinzipien noch einmal zu erwähnen.

Erstens, wie Heidegger in seinem Werk ›Sein und Zeit‹ genial formulierte, liegt die Essenz des Menschen in seiner Existenz, nicht in einer ‚anderen Welt‘. Unser Schicksal spielt sich hier und jetzt ab, bis zur letzten Sekunde. Diese letzte Sekunde ist ebenso wichtig wie der Rest des Lebens. Deshalb gilt es bis zum letzten Augenblick, erst recht im letzten Augenblick, man selbst zu sein. Indem er sich selbst entscheidet und sein Schicksal freiwillig auf sich nimmt, siegt der Mensch über das Nichts. Dieses Erfordernis duldet keine Ausflüchte, da wir eben nur dieses Leben haben, in dem wir völlig ‚wir selbst‘ sein sollen – oder wir sind gar nichts. Homer hatte seinerzeit diese Grundwahrheit schon nahegelegt, doch, wie bei ihm üblich, ohne sie in Begriffe zu fassen.

In ihrer Mannifaltigkeit existieren die Menschen nur durch ihre Unterscheidungen; durch Stämme, Völker, Nationen, Kulturen, Zivilisationen – nicht durch ihre oberflächlichen Gemeinsamkeiten. Nur das ‚Tierische‘ in ihnen ist universell: Die Sexualität ist der ganzen Menschheit gemeinsam, wie auch die Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen. Indessen hat jede Kultur ihre spezifische, unverwechselbare Art und Weise, die Liebe zu ritualisieren oder Speise und Trank zuzubereiten: Die Künste, die Eßkultur, die Sitten und Gebräuche usw. sind das Ergebnis eines jahrtausendealten Schaffens in der steten Fortführung dessen, was man ist. Die Liebe zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts, wie sie von Europäern aufgefaßt und ab dem 12. Jahrhundert durch die höfische Minne gefeiert wurde, war in den Homerschen Gedichten bereits implizit vorhanden. Desgleichen die stark ausgeprägte Wahrnehmung dessen, was eine Person ausmacht, die politische Existenz freier Stadtstaaten, die Grundauffassung, daß die Menschen der Natur nicht fremd seien, daß sie deren stetigen Erneuerungszyklus (der Geburt und Tod einschließt) mitmachen und daß die schlimmsten Umstände auch das Beste hervorbringen können: All diese spezifischen Bausteine sind in den Gründungsepen schon vorhanden und bieten uns Vorbilder, anhand derer wir wieder zu uns selbst finden können.

Eigene Wurzeln, Traditionen, Kulturen, d. h. eine Beständigkeit, die Geborgenheit vermittelt, Riten, eine verinnerlichte Ordnung, Spiritualität sind für Individuen wie auch für Völker eine lebenswichtige Notwendigkeit, auch wenn es ihnen nicht bewußt ist. Wir Europäer hungern nach Schönheit, auch in den kleinen Dingen des Lebens, in echten Kunstwerken, in der Musik, in der Baukunst und Literatur.

Das ist unsere Tragik: Diese Wahrheiten, für viele Völker selbstverständlich, sind bei den heutigen Europäern ausgelöscht worden, und zwar durch das Zusammenwirken von christlichem Universalismus und Aufklärung in Gestalt des Kosmopolitismus der Kommerzgesellschaft. Der Glaube an unsere ‚universelle Berufung‘ ist falsch und gefährlich. Er ist deshalb falsch, weil er andere Kulturen ablehnt und beseitigen möchte zugunsten einer sogenannten ‚Weltkultur‘ des Konsums und der ‚Menschenrechte‘, die ja nur die Warenrechte sind. Er ist aber auch gefährlich, weil er die ‚Abendländer‘ in einem Ethnozentrismus befangen hält, der andere Kulturen leugnet. Er verwehrt ihnen jede Einsicht dafür, daß andere Menschen nicht auf ihre Weise fühlen, denken und leben und daß diese Eigentümlichkeiten legitim sind – sofern sie uns nicht aufgedrängt werden.

Wenn man diese Realitäten im Kopf behält, kann man den Grundsatz aufstellen, daß es keine überall gültige, universelle Antwort auf die Fragen des Lebens und des menschlichen Verhaltens gibt. Jedes Volk, jede Kultur besitzt ihre eigene Wahrheit und ihre gleichermaßen achtbaren Götter. Jede bringt ihre Antworten hervor, ohne die die Individuen, ob Mann oder Frau, bar jeder Identität, Substanz und Tiefe leben müssen und daher in eine abgrundtiefe Verwirrung gestürzt werden. Menschen sind wie Pflanzen: Sie können ihre Wurzeln nicht entbehren. Doch diese Wurzeln sind nicht nur die der Vererbung, denen man untreu werden kann, sondern auch die des Geistes, d. h. der Tradition, die sich wieder anzueignen die Lebenspflicht eines jeden ist.

 

Eine neue Reformation

Diese Wahrheiten zu bedenken und auszusprechen, stellt schon an sich eine geistige Revolution dar. Doch damit diese auch Wirklichkeit werde, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt werden, die von uns abhängen.

Die dissidenten Gruppen brauchten noch nicht einmal besonders zahlreich zu sein, um in der modernen Gesellschaft tiefgreifende Umwandlungen zu bewirken. Die Tatsache ist hinlänglich bekannt, daß Disziplin dem Menschen große Kraft verleiht. Eine Minderheit von asketischer und mystischer Haltung würde bald eine Übermacht über die richtungslose und entartete Majorität gewinnen und wäre in der Lage, ihr durch Überredung oder allenfalls mit Gewalt eine andere Lebensart aufzuerlegen. Kein Dogma der modernen Gesellschaft ist unveränderlich.

Das Übrige müßte sich dann von selbst ergeben, bis hin zur ‚Bekehrung‘ mächtiger Personen, die das Zeug hätten, dieses Wiedererwachen zu unterstützen. Man denke an Kaiser Mark Aurel, der zum Jünger Epiktets wurde, obwohl dieser lange vor seiner Thronbesteigung gestorben war.

Ich wünsche mir, daß das vertraute Glockengeläut weiterhin vom Kirchturm meines Dorfes und unserer Kathedralen ertönen möge. Doch mein noch stärkerer Wunsch ist, daß unter ihren Gewölben andere Anrufungen gehört werden mögen: daß man endlich aufhöre, um Vergebung und Mitleid zu flehen, sondern Kraft, Würde und Energie wieder ins Blickfeld rücken möge. Ich wünsche mir die Heraufkunft einer neuen Reformation von innen her, im Geist einer Rückkehr zu unseren echten Wurzeln.

Denjenigen, die sich an mich wenden würden, um die ewige Frage ‚Was tun?‘ zu stellen, würde ich antworten: „Erwarten Sie bitte von mir keine fertigen Rezepte für die Tat.“ Wenn Sie das Bedürfnis verspüren, in der Politik aktiv zu werden, tun Sie das, aber Sie müssen wissen, daß die Politik ihre eigenen Regeln hat, die nicht diejenigen der Ethik sind.

Und vor allem vergessen Sie meine Lehre nicht. Denn die Zerrüttungen dieser unserer Zeit haben Ursachen, die weit über die bloßen Kräfte der Politik oder der sozialen Reformen hinausgehen. Es genügt nicht, Gesetze zu ändern oder einen Minister zu ersetzen, um dort Ordnung zu schaffen, wo Chaos herrscht. Wer die Verhaltensweisen der Menschen, vor allem der Regierenden, ändern will, muß in erster Linie die Geister reformieren, und diese Arbeit muß immer wieder von vorne angefangen werden. Egal, wie Ihre Aktivität aussehen wird: Das Allerwichtigste muß sein, in sich jeden Tag einen unerschütterlichen Glauben an den Fortbestand der europäischen Tradition zu kultivieren, als wäre es eine Einweihungsformel.

Ich denke oft an die Verzweiflung des Symmachus, des sogenannten ‚letzten Römers ‘. Symmachus war ein römischer Aristokrat hohen Ranges, der am Ende des 4. Jahrhunderts, in einer überaus düsteren Zeit lebte. Er starb als verzweifelter Zeuge des Untergangs des alten Römertums. Was er nicht ahnen konnte: Der Geist des Römertums, der selbst aus dem Hellenismus hervorgegangen war, würde einmal in abgewandelter Gestalt zu neuem Leben erwachen, und selbst das Christentum würde in stets erneuerter Form eher ein ‚Heidenchristentum‘ denn ein ‚Judäochristentum‘ sein, nachdem es sich von einer Tradition genährt hatte, die es nicht hatte abschaffen können. Er konnte nicht ahnen, daß die europäische Seele, mit anderen Worten der Geist der Ilias, über Jahrhunderte, über die Kette der Generationen hinweg, fortleben würde.

Wir, die wir die Geschichte über viele tausend Jahre kennen und auf sie mit denselben bangen Augen wie Symmachus starren, wissen, was er nicht wußte: Wir wissen, daß wir als Individuen vergänglich sind, daß aber der ‚Geist unseres Geistes‘ unzerstörbar ist, wie der Geist aller großen Völker und Kulturen. In der Gegenwart befindet sich nicht nur das Europa der Politik oder der Macht seit den zerstörerischen Kriegen des 20. Jahrhunderts im Dämmerschlaf, sondern es ist vor allem die europäische Seele, die dahindöst.

Wann kommt das große Erwachen? Das weiß ich nicht, zweifle jedoch nicht daran, daß es kommen wird. In diesem Brevier habe ich gezeigt, daß der Geist der Ilias einem unterirdischen Strom gleicht, der nie versiegt und stets von neuem zutage tritt. Ihn gilt es wiederzuentdecken. Da diese Beständigkeit unsichtbar und dennoch echt ist, müssen wir sie uns tagtäglich vergegenwärtigen. Auf diese Weise werden wir unbesiegbar.

Wir sind aus der vorherrschenden Position, die wir noch vor 1914 innehatten, gestürzt worden, bevor wir in ein Meer von Verleugnung und Schuldgefühlen getaucht wurden. Deshalb sind wir die ersten Europäer, die vor die Aufgabe gestellt werden, ihre Identität durch eine Rückkehr zu ihren echten Wurzeln von Grund auf neu zu denken. Das Altertum, das wir heraufbeschwören, ist nicht das Altertum der Gelehrten, sondern eine lebendige Antike, die wir von neuem erfinden müssen.

So haben wir es unternommen, unsere Tradition zu rekonstruieren, um daraus einen Gründungsmythos zu schaffen. Dazu genügen Schrift und Wort allerdings nicht. Der gewaltige Einsatz für diese Neugründung muß durch Opfertaten und engagierte Schöpfungsakte belegt werden.

 

Dominique Venner: Ein Samurai aus Europa. Das Brevier der Unbeugsamen

Gefährte Dominique Venner