Karl Gotthelf Jakob Weinhold

 

Auszug aus dem Buch 

›Altnordisches Leben‹

 

 

Nur ein Tor meint, daß er ewig leben werde und schont sich darum in der Schlacht. Das Alter wird ihm keinen Frieden geben, wenn auch die Gere es tun, heißt es im Hâvamâl, und im angelsächsischen Beóvulfliede nennt Hrodgar dem Beóvulf nach der hitzigen Krankheit, welche die Jugend verzehrt, nach dem Schwerte, nach des Feuers Umarmung und den Fluten, nach dem Messer und dem fliegenden Ger als das Schauerlichste das furchtbare Alter (atol yldo).

Vor dem Alter, wo die Sehnen schlaff werden und der starke Nacken sich beugen muß, wo man wie ein Hund im Rauch der Stube erstickt statt auf den Meereswogen und dem Hengstesrücken scharfe Luft zu schlürfen, wo die Hand den Stab umklammern muß statt Spieß und Beil zu schleudern, graut es den alten Germanen mehr als uns, denen zwischen Jugend und Alter ein Leben die Brücke schlägt, das nicht jung und nicht alt ist.

Und das Alter springt dem Mann in Wind und Wetter rascher auf den Hals als in der Stube; der Mensch, der schwer schafft mit dem Leibe, ergraut früher als der geistig arbeitet, oder der ein glückliches Mittel zwischen Leiblichem und Geistigem verfolgen kann.

Mit vierzig Jahren nennen sich unsre Bauern alt, mit fünfzig gehen sie meist gebückt wie Greise; von dem „wohlgetan“ und „geht auch noch an“, das der Spruch auf jene Lebensstufen schreibt, wollen sie nicht viel wissen. So war es auch im alten Norden. Zwar erkannte das Altertum den reifen Jahren als Entschädigung vorzugsweise die Weisheit zu und viele Greise behaupteten auf die Umgebung einen großen Einfluß; aber die Lust des Lebens war vorbei, und die Ehre verjüngt nicht.

Eine Erleichterung brachte das Kristentum, denn nun ward das Los derer, die auf Bett oder Bank den Siech- und Strohtod (strâdaudr) sterben mußten, nicht mehr geschieden von dem der Schlachttoten. Ein Himmel empfing sie, während jene zuvor in die nasse dunkle Unterwelt zu Hel fuhren, diese aber sich zur goldnen heiteren Walhalle des Kriegs- und Heldengottes aufschwangen.

Alte Kämpfer hatten sich darum vor dem Verscheiden auf dem Stroh mit einer Gerspitze verwundet, um mit Blut die seligen Freuden zu erkaufen; Odin und Niörd hatten solches durch eigne Tat zur Auskunft geraten. Doch bedurften nur wenig Männer der Gerspitze, wenige starben ein friedliches Alter; man lese nur einige der Sagas und zähle die Zahl derer, welche nicht im Wiking, in Fehden, durch Blutrache, im Meere umgekommen sind; auf Island wenigstens werden ihrer noch in den ersten christlichen Jahrhunderten von Hundert kaum zehn sein. Da war keine große Gefahr, alt wie deine Steinbraut (steinbrû) oder wie ein Hirsch (hiassi) zu werden!

Der Text wurde von uns der derzeitigen Sprachregelung angepaßt. Als Beispiel der damaligen Schrift im Original der Buchausgabe: Ein Himmel empfieng sie, wärend jene zuvor in die nasse dunkle Unterwelt zu Hel furen, diese aber sich zur goldnen heiteren Walhalle des Kriegs- und Heldengottes aufschwangen.

Und viele, denen der ruhige Tod auf dem Stroh bevorstand, entzogen sich ihm durch freiwillig Tötung, denn der Selbstmord kam im germanischen Heidentum häufig vor; er galt geradezu unter Verhältnissen als ehrenvoll. Männer und Weiber töteten sich aus Schmerz über das Sterben geliebter Angehöriger, wegen erlittener Vermögensverluste, oder um einer verhaßten und ehrlosen Zukunft zu entgehen. So tat König Herlaug von Naumdal, als Harald harfagr sein kleines Land dem Gesamt-Norwegen einverleiben wollte. Er ging mit zwölf Getreuen in einen Totenhügel und ließ ihn hinter sich zuwerfen; sein Bruder Hrollang unterwarf sich und wurde Haralds Jarl. Gleicherweise verbrannte sich der Schwedenkönig Ingiald illradi mit seiner ganzen Gefolgschaft, um die Besiegung durch Ivar vîdfadmi zu entgehen.

In einer einsamen Gegend Gotenlands erhob sich ein hoher steiler Fels, die Stammklippe (ætternisstapi); von dort stürzten sich aus der ganzen Umgebung alle, welche das Alter belästigte oder denen sonst das Leben verbittert und bedrängt wurde; ohne alle Krankheit fuhren sie zu Odin. So tat Skafnörtung, der Besitzer einer Einöde, zu dem sich König Gauti verirrt hatte; denn geizig, wie er und sein ganzes Geschlecht war, fürchtete er nun für seinen Lebensunterhalt. Er beschloß am andern Tage, vom Stammfelsen zu springen (Gangart fyrir ætternisstapa), verteilte sein Erbe unter die Kinder und außer seiner Frau wurde einem Knecht, welcher den König vom Hofe hatte abweisen wollen, zum Lohn erlaubt, mitzustürmen. Von dem ganzen Hause begleitet, zogen sie zu dem Felsen und alle drei gingen wohlgemut in den Tod. Bald darauf stürzten sich aus Geiz auch die drei Söhne mit ihren Weibern hinunter.

Jedenfalls haben viele solcher Klippen bestanden und wurden von Greisen betreten, um von da in das Land neuer Jugend zu fahren; an eine Vernichtung des persönlichen Seins glaubte unser Heidentum nicht. Neben diesem eigenen Abwerfen des schwer gewordenen Alters, finden wir aber auch noch Rest der Sitte, daß kraft- und freudlose Greise von ihren Angehörigen dem Tode übergeben wurden. Sie wurden grafgângsmenn, d.h., man machte eine Grube, setzte sie hinein und ließ sie umkommen. Es war ein Gebrauch, der nicht den Skandinaviern eigentümlich war, sondern auch bei Wenden und Zigeunern und im nördlichen Deutschland als bestanden nachweisen läßt.

Ganz besonders wurden die Alten und Schwachen bei Hungersnöten beiseite geschafft, welche in unsrer Vorzeit so häufig in furchtbarster Stärke auftraten. So ward, um ein Beispiel zu geben, nach völligem Mißwuchs auf Island einmal beschlossen, die Alten, Kranken und Krüppel aufzugeben und sich selbst zu überlassen. Diesmal kam es allerdings nicht zur Ausführung, indem Arnor kerlingarnef durch eindringliche Rede dagegen wirkte und anriet, lieber die vielen Hunde totzuschlagen und auf jedem Hofe nicht mehr als zwei Pferde zu halten; allein früher wurden die Erwerbsunfähigen in solchen Fällen wirklich getötet.

Man liebte durchgreifende Mittel und wählte sie ohne weiches Gefühl, bloß mit der Frage nach rascher und entschiedener Abhilfe. Die davon betroffen wurden, fügten sich in die Notwendigkeit und zogen die schleunige Befreiung einer unzureichenden und nur scheinbaren Abhilfe vor, welche das Ende zur Qual verzögert.

Gemälde von Heinrich C. Berann

(…) In sehr alter Zeit schon werden die Germanen die Toten mit Erde und Gestein bedeckt oder in ein Fell verhüllt in den Sumpf gesenkt haben, um sie dem Auge zu entziehen, das sich vor ihnen scheut. Den Stämmen aber, welche an großen Wassern wohnten, bot sich noch ein anderes Mittel, das an die uralte Vorstellung anknüpft, die Toten müssen über ein Meer oder einen Strom in das Land des neuen Lebens übersetzen. Sie legten die Leiche in einen Nachen und überließen sie den Wogen, welche nicht verabsäumen würden, sie auch ihrer Bestimmung zu führen. Hiervon haben sowohl Sagen als schriftliche Berichte im Norden eine späte Erinnerung bewahr.

Wie Seyld der Scefing nach seinem Verscheiden in ein Schiff gesetzt und mit reichen Schätzen dem Meere überlassen ward, so legte Godrun (Krimhilt) Atlas Leichnam, von gewichster Leinwand umhüllt, in eine bunte Kiste und übergab sie im Schiffe den Wellen.

Als Sigmund seinen toten Sohn Sinfiötli lange herumgetragen, kam er zu einer schmalen Bucht; am Gestade harrte im Kahne ein Mann, der sich zu Überfahrt erbot. Kaum war die Leiche hineingelegt, so stieß der Ferge ab und verschwand.

Lebensmüde und Alte übergaben sich selbst auf solche Art dem Tode. Als Flosi Thordarson, der in die Verbrennung Niels verwickelt gewesen, als Greis nach Norwegen ging, um Bauholz zu holen, nahm er zur Rückfahrt ein leckes Schiff, und da man ihm das bemerkte, sprach er: Für Alte und Todesnahe ist es gut. Darauf ging er in See und Schiff und Flosi sah niemals einer wieder.

Noch jetzt erzählt die schwedische Volkssage von einem goldnen Schiffe, worin Odin die gefallenen Helden von Bravall nach Valhall geführt habe; und ebenso berichten deutsche Sagen vielfach von nächtlichen Überfahrten geisterhafter Wesen. Keine Besorgung der Toten hat tiefer in unserm Volke gehaftet, und wahrscheinlich haben nicht bloß die Küstenbewohner, sondern auch alle, die an einem Flusse lebten, ihre Toten im Nachen dem unbekannten Lande zuschwimmen lassen. Wir werden sehen, wie das Schiff auch in den beiden andern Zeiträumen der germanischen Bestattung wieder erscheint.

Es sind nämlich sowohl nach den schriftlichen Nachrichten als nach den zahlreichen Grabresten des Nordens für die germanischen Bewohner zwei verschiedene Weisen der Leichenbergung zu unterscheiden, denen wir als eine ältere die eben besprochene voranstellen konnten. Unter diesen beiden Arten geht die Verbrennung der Zeit nach voraus. Wann dieselbe aufkam, wissen wir nicht.

Jakob Grimm hat in seiner schönen und inhaltsreichen Abhandlung über das Verbrennen der Leichen mit Recht diese Totenbestattung ein Zeugnis für eine höhere und freiere Auffassung des menschlichen Seins genannt, zusammenhängend „mit einer schon durchdrungenen heiteren Auschmückung des Lebens“. Das drückt nach ihrer Art auch die mythische Erzählung aus, indem sie diesen Brauch von Odin einsetzen läßt, in welchem sich alle feinere und höhere Entwicklung des nordischen Lebens darstellt.

Die Einführung des Leichenbrandes wird jedenfalls mit einer religiösen Reform zusammengehangen haben, wie eine weitere Bewegung sein Aufhören bestimmte. Die Ynglingasaga erzählt, daß Odin alle Gesetze, die vorher bei den Asen gegolten, in Skandinavien eingeführt habe, darunter, daß man die Leichen mit allen ihrem Eigentum auf einem Scheiterhaufen verbrenne. Was dem Toten mitgegeben werde, solle ihn nach Valhöll begleiten; ebenso werde ihr alles Silber zugute kommen, das er selbst in die Erde vergraben habe (grafsilfr).

Die Asche möge man in das Meer werfen oder in die Erde vergraben; über den Resten der Reichen solle man zum Gedächtnis einen Hügel aufschütten, und wo ein Weg vorübergehe, Steine (bautasteinar) errichten. Je höher beim Brande der Rauch emporsteige, umso angesehener werde der Abgeschiedene jenseits sein. Weiter berichtet die Saga, daß Odin selbst, der nach ihrer Auffassung ein halb göttlicher König war, in solcher Art verbrannt ward, ebenso Niörd und eine Reihe andrer mythischer Fürsten. Darin stimmen übrigens alle nordischen Antiquare des 13. Jahrhunderts überein, daß die brunaöld (Brennzeit) der haugaöld (Hügelzeit) vorangegangen sei, und die sonstigen Zeugnisse belegen dies.

Ein Scheiterhaufen (bâl, hladr, köstr) ward aufgeschichtet; dabei hat Jakob Grimm die Frage nach dessen Bestandteilen aufgeworfen, da der Stoff unserer Vorzeit bei nichts unbedeutend war, und Tacitus überdies ausdrücklich certa ligna (bestimmte Hölzer) beim Brande ausgezeichneter Leichen erwähnt. Wir erfahren aber wenig darüber. Die hohe Aufschichtung und die große Flamme, welche Menschen und Tierleiber verzehrte, weise natürlich nur auf große Scheite; aus dem Namen eikiköstr und aus einem schwedischen Volksliede, sowie daraus, daß später zu den Grabkammern und den Särgen im Norden wie in Deutschland vorzüglich Eichenholz gewählt ward, ist man berechtigt, auf Eichenscheite zu schließen; anderwärts, namentlich, wo keine Eichen wuchsen, nahm man Birkenholz, das in manchen Gräbern verkohlt gefunden ist.

Außer dieser nährenden Grundlage mögen um den Leichnam selbst besondere Hölzer, namentlich kleinere, zweigartige geschichtet sein; das bezeugt eine Stelle der Eyrbyggjasaga ausdrücklich, wo es heißt, den Brandstoß Thorolfs Boegifot bauen sie aus Zweigen, und spätere Nachrichten weisen namentlich auf Wacholder so wie auf Dornenarten.

Immer kann aber dieses Reisig nur die nächste Umgebung der Leiche gebildet haben, da es zur Verzehrung der Körper nicht hingereicht hätte, und die Hitze nachweislich so stark war, daß zuweilen Asche und Sand zu einer glasartigen Masse zusammenschmolzen.

Halbverbrannte Stückchen eines dunklen wohlriechenden Harzes beweisen, daß bei dem Brande geräuchert wurde. Märchenhaft ist, daß der gefangene Hvitserk, Ragnar Lodbroks Sohn, nach seinem Begehren auf einem Scheiterhaufen von Menschenköpfen verbrannt ward.

 

Beitragsbild: Illustration des ›Charon‹ von Gustave Doré aus Dantes ›Göttlicher Komödie‹, 1861