Joakim Andersen
Joseph Deniker (1852-1918) war ein russisch-französischer Wissenschaftler, der heute besser bekannt ist als Anthropologe und Autor von The Races of Man (dt.: Die Rassen und Völker der Erde – 1900). Er war zu einer Zeit aktiv, als die Anthropologie nicht nur Religion und soziale Formen, sondern auch körperliche Aspekte untersuchte, was heute als physische Anthropologie bezeichnet wird.
Deniker ist vor allem aus ideen- und wissenschaftsgeschichtlicher Sicht interessant. Races of Man/Races and Peoples of the Earth wurde 1900 veröffentlicht, und spätere Anthropologen wie Carleton Coon und Bertil Lundman hatten Zugang zu mehr Informationen als Deniker. Letzterer konnte beispielsweise schreiben, daß „die Nordalbaner mit der adriatischen oder subadriatischen Rasse verwandt zu sein scheinen, aber über die Südalbaner ist nichts bekannt“, die Vorfahren der Isländer als Dänen bezeichnen und die Somalis als „wahrscheinlich nur mehr oder weniger mit den Arabern vermischte Gallas“ beschreiben. Doch Races of Man ist trotz dieser Ungenauigkeiten und Wissenslücken eine bereichernde Lektüre.
Denikers Argumentation über die Beziehung zwischen ethnischen Gruppen und somatologischen Einheiten („Rassen“) bleibt relevant, seine Untersuchung der physiologischen Unterschiede zwischen diesen Einheiten tiefgründig. Die Beschreibungen des Anthropologen Deniker zu praktisch allem, von Tänzen und Zählsystemen bis hin zu Familienleben und Waffen, sind hochinteressant.
Für den physischen Anthropologen sind die Darstellungen von Elementen wie den indigenen Völkern Feuerlands oder den Berbern Nordafrikas erfreulich; Deniker bemühte sich generell um eine ganzheitliche Sichtweise. So beschreibt er beispielsweise die westafrikanischen Kru als „gehorsam, treu und mutig; sie sind bereit, sich zu engagieren und gute Geschäfte zu machen. Sie halten einen großen Teil des Handels ihres Landes in ihren Händen“. Eine gewisse „protofeministische“ und/oder eurozentrische Tendenz ist auch in den Abschnitten über den Status der Frauen in Korea erkennbar, z. B. „Die Frau hat in der koreanischen Gesellschaft keine Bedeutung; sie ist ein Instrument zum Vergnügen oder zur Arbeit; sie wird streng von den Männern getrennt gehalten, verlässt selten das Haus und muss ihr Gesicht verhüllen“.
Denikers Kapitel über Europa sind sowohl für sich genommen als auch in Bezug auf die Wissenschaftsgeschichte interessant. Was die Geschichte betrifft, so war sein Wissen begrenzter als beispielsweise das von Coon; kurz gesagt, es standen weniger Entdeckungen zur Verfügung. So konnte Deniker zur Vorgeschichte schreiben, daß „von dem Zwischeneiszeitmenschen, einem Zeitgenossen des Elephas antiquus, dem Hersteller jener Feuersteinwerkzeuge, die aus den untersten Tiefen der ältesten quartären Schwemmlandbetten ausgegraben wurden, wir keine Überreste haben, außer vielleicht zwei Backenzähne, die von Nehring in der Station Taubach (bei Weimar) gefunden wurden, und einige andere umstrittene Fragmente (Schädel von Neandertaler, Brux und Tilbury)“. Er stellte jedoch fest, daß der paläolithische Europäer dolichocephal war und einen langen Schädel hatte (er schlug auch vor, daß der Neandertaler-Typ in Europa bis in unsere Zeit überlebt hat). Doch die detaillierte Geschichtsschreibung von Coon oder den heutigen Genetikhistorikern war zu Denikers Zeiten nicht möglich.
Verteilung des Cephalusindex in Europa nach Joseph Deniker
Er schreibt, daß es sich bei der bronzezeitlichen Bevölkerung Dänemarks und Schwedens offenbar um „große, hellhaarige Dolichocephalen oder Mesocephalen“ gehandelt habe. In Bezug auf die „arische Frage“ bleibt er wissenschaftlich nüchtern: „Die Anthropologie ist machtlos zu sagen, ob die früheren Besitzer der dolichocephalen Schädel in Südeuropa eine arische Sprache gesprochen haben oder nicht“. Wie dem auch sei, der Begriff „anarchisch“ zur Kategorisierung der europäischen Völker, die nicht-indoeuropäische Sprachen sprechen, ist eine faszinierende Kuriosität.
Er legte nahe, daß die indoeuropäische Expansion in einer Region zwischen Skandinavien und Süd- oder Südostrußland ihren Ursprung hatte. Aber auch, daß die sprachliche Expansion „ohne nennenswerte Veränderungen in der Konstitution ihres physischen Typs oder, wahrscheinlich, ihrer Zivilisation“ stattfand.
Denikers Klassifikationssystem für die europäischen somatologischen Gruppen ist ebenfalls interessant. Er verwendete den Begriff der Nordischen oder Nordischen Rasse für den in Nordeuropa verbreiteten Typ, der gekennzeichnet ist durch „eine sehr hohe Statur; helles, manchmal rotes, gewelltes Haar; helle, meist blaue Augen; einen länglichen, dolichocephalen Kopf; weiße, rötliche Haut, ein längliches Gesicht und eine gerade, vorspringende Nase“. Er entspricht dem Nordid von Eickstedt und Lundman.
Deniker nannte als seine wichtigsten Lebensräume „Schweden, Dänemark, Norwegen (mit Ausnahme der Westküste), Nordschottland, die Ostküste und der Norden Englands, Irland (mit Ausnahme des Nordwestens), die nördlichen Faröer-Inseln, Holland (nördlich des Rheins), die friesischen Länder, Oldenburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg und schließlich die baltischen Provinzen Russlands und die Tavasts von Finnland“.
Der andere gemeinsame Typ in Nordeuropa, er wird als östliche Rasse oder osteuropäische Rasse bezeichnet. Er beschrieb ihre Merkmale wie folgt: „eher kurze Statur, mäßig gerundeter Kopf, glattes, hellgelbes oder leinenfarbenes Haar, quadratisches Gesicht, häufig gerümpfte Nase, blaue oder graue Augen“. Sie entspricht dem östlichen Baltikum nach Lundman, das u. a. in Finnland und Weißrußland, Litauen und Teilen Rußlands verbreitet ist.
In Spanien, auf den Inseln des westlichen Mittelmeers und in Teilen Frankreichs und Italiens finden wir Denikers dritten Typ, seinen Ibero-Insulaner. Er beschreibt ihn wie folgt: „sehr kurze Statur, sehr länglicher Kopf, schwarzes, oft lockiges Haar, sehr dunkle Augen, falbfarbene Haut, gerade oder Stupsnase“. Sie deckt sich teilweise mit der ›Mediterranea‹ von Lundman und Clauss.
Der vierte Deniker-Typ wurde als occidentale et cévenole, „westliche oder cevenolische Rasse“ bezeichnet. Er zeichnet sich aus durch „einen sehr runden Schädel, eine geringe Größe, braunes oder schwarzes Haar, hell- oder dunkelbraune Augen, ein rundes Gesicht und eine dicke Silhouette“. Natürlich wird der Leser hier den alpinen Typus von Lundman und anderen wiedererkennen. Deniker beschrieb ihr Lebensgebiet als „den äußersten Westen Europas, in den Cevennen, auf dem zentralen Plateau Frankreichs und auch in den Westalpen. Etwas abgewandelt kommt er aber auch in der Bretagne (mit Ausnahme von Morbihan), in Poitou, Quercy, der mittleren Po-Ebene, in Umbrien, in Teilen der Toskana, in Siebenbürgen und wahrscheinlich auch in Mittelungarn vor.“ Unter dem Namen „strandin“ fand Lundman ihn auch um die Küsten Norwegens und Schwedens.
Denikers atlanto-mediterraner oder Küstentyp hat bei vielen späteren Anthropologen keine klare Entsprechung, er beschrieb ihn jedoch mit folgenden Worten: „Er zeichnet sich durch mäßige Dolichocephalie oder Mesocephalie, überdurchschnittliche Statur und eine sehr tiefe Färbung der Haare und Augen aus“ und ordnete ihn in die Küstenregionen Westeuropas ein. Deniker beschrieb auch eine Untergruppe, die nordwestliche, die sich mit Lundmans nordatlantischer überschneidet.
Der sechste Typ ist der dinarische oder adriatische, heute besser bekannt als Dinaride oder Dinarin, Deniker beschrieb seine Merkmale wie folgt: „Hohe Statur, extreme Brachyzephalie, welliges braunes oder schwarzes Haar; dunkle Augen, gerade Augenbrauen; längliches Gesicht, zarte gerade oder aquiline Nase; leicht falbfarbene Haut“. Er brachte sie sowohl mit dem heutigen Balkan als auch mit Teilen von Italien, der Schweiz und Frankreich in Verbindung.
Insgesamt ist Deniker ein sehr interessanter Autor. Zum Teil aus rein historischen Gründen kann es faszinierend sein, seine Erkenntnisse mit denen späterer Anthropologen zu vergleichen. Races of Man (Datei des Buches mit zahlreichenFotos und Skizzen) ist aber auch ein ehrgeiziger Versuch, Wissen über die Völker der Welt zusammenzutragen, insbesondere aus der Perspektive der physischen Anthropologie. Dasselbe gilt für die Untersuchung Europas, zunächst das Kapitel über seine somatologischen Gruppen, dann das Kapitel über fast alle seine ethnischen Gruppen. Auch die Tatsache, daß Deniker mittlerweile im Internet verfügbar ist, macht ihn leichter lesbar als beispielsweise Lundman.