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Ethnos, Volk, Nation als ethno-soziologische Kategorien

Ethnos, Volk, Nation: Parallelen zwischen Rußland und Deutschland

Das Problem der Verwendung der Begriffe ›Ethnos‹, ›Nation‹ und ›Volk‹ ist äußerst kompliziert, denn historisch gesehen wurden sie entweder als Synonyme, Antonyme oder Unterkategorien voneinander verwendet, und zwar in den unerwartetsten Konfigurationen. Und dabei geht es nicht einmal um das ›Heilige Römische Reich Deutscher Nation‹ oder um ›Nationen‹ im mittelalterlichen Europa. In Siebenbürgen beispielsweise wurden nur Ungarn, Sezessionisten und Deutsche als ›Nationen‹ aufgenommen; orthodoxe Rumänen wurden nicht in den Status einer ›Nation‹ einbezogen. Im polnisch-litauischen Commonwealth gab es den Ausdruck Gente Ruthenus, natione Polonus: ruthenische Abstammung, polnische Nation.

Nehmen Sie Rußland und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, wo die Begriffe ›Volk‹ (und seine Ableitungen) und ›Nation‹ entweder als Synonyme oder als Antonyme aufeinander stießen. Und schauen wir uns an, wie das Vorhandensein der beiden Begriffe ›Volk‹ und ›Nation‹ dabei hilft, die aktuelle geopolitische Situation zu verstehen.

Das ›Volk‹ von Graf S. M. Uvarov beispielsweise ist eine Ableitung der französischen Nationalität, jedoch mit einem Verweis auf die russische Wurzel, wodurch die dem französischen Konzept innewohnenden Konnotationen von Liberalismus und Konstitutionalismus ›deaktiviert‹ werden. Allerdings schrieb Uvarov auch über die russische ›Nationalität‹. Bei Slawophilen kann man auf ein Verständnis des Volkes als allgemeine Kategorie stoßen, in der ›die Nation‹ einen Sonderfall darstellt. Für K. P. Pobedonostsevs Kollegen S. A. Rachinsky steht die “Nation” als westliches und liberales Konzept in direktem Gegensatz zur ›Nationalität‹ als russisches und konservatives Konzept. Bei M. Katkov, der zwar ein Konservativer, aber ein Westler war, ist die Nation dagegen ein positives Konzept [1].


Zu dieser Zeit bevorzugten die Slawophilen und Dostojewski den Begriff ›Volk‹, der eine doppelte Bedeutung hatte, nämlich sowohl die einfachen Leute, die unteren Schichten, als auch das russische Volk als Aggregat aller Gesellschaftsschichten und als Basis eines Reiches mit einer klaren Geschichte, religiösen Tradition und Kultur. Für die Monarchisten der sogenannten Dunklen Jahrhunderte war es üblicher, den Begriff ›Volk‹ zu verwenden [2]. Für eher westlich orientierte Nationalisten wie M.O. Menschikow war der Schlüsselbegriff die ›Nation‹, die auch einen Machtanspruch im Namen dieser Nation beinhaltete.

Das heißt, für Konservative, Monarchisten, Slawophile und Reaktionäre war das Konzept des ›Volkes‹ vorzuziehen. Für die eher ›europäischen‹Nationalisten war es die ›Nation‹. Obwohl beide die Begriffe als Synonyme verwenden konnten.

In Großbritannien und Frankreich gab es keine solche Begriffsverwirrung, obwohl, wie Alain de Benoist feststellt, ›die konterrevolutionäre Tradition, insofern sie sich mit einem aristokratischen oder monarchischen Merkmal verbindet, davon absieht, die Nation zu verherrlichen‹ [3]. Die Situation in Deutschland hingegen ist ähnlich wie in Rußland. Fichte schreibt ›Reden an die deutsche Nation‹. Später im 19. Jahrhundert entsteht jedoch die völkische Bewegung, für die sich das Fremdwort Nation als irrelevant erweist [4]. Volk – das Volk – wird zum Marker für ›Autochthonie‹, für ›Populismus‹ (denn wie das russische ›narod‹ enthält es eine doppelte Bedeutung – sowohl ein einfaches ›Volk‹ als auch eine kulturelle, ja sogar blutsverwandte Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte verbunden ist).

Im Dritten Reich und in der UdSSR wurden die Begriffe willkürlich vermischt. In der UdSSR herrschte der Begriff der ›Nationalität‹ vor, entweder als rein ethnische Gemeinschaft, mit dem Anspruch auf politische Partizipation oder als Überbleibsel der bürgerlichen ›Nation‹ in einer sozialistischen Gesellschaft. So entstanden in der UdSSR die ›Nationalitäten‹ der Usbeken, Tadschiken, Ukrainer und Aserbaidschaner, während die Sarts, Kleinrussen, Transkaukasischen Tataren bzw. Türken, die vor der Revolution existierten, verschwanden. Kompliziert wurde die Situation durch die These, dass sich eine ›neue historische Gemeinschaft‹ – das ›Sowjetvolk‹ – gebildet habe. Dieses ›Volk‹ verschwand zusammen mit der UdSSR, stattdessen entstand ein ›multinationales Volk der Russischen Föderation‹.

Hitlers Deutschland sprach von einer auf einem Volk basierenden ›Nation‹ und einer ›Volksgemeinschaft‹. Die Niederlage des Dritten Reichs brachte keine Klarheit in Bezug auf die Verwendung der Begriffe ›Volk‹ und ›Nation‹.

›Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk?‹ war der Titel eines 1985 veröffentlichten Essays des in Kiel ansässigen Historikers Karl Dietrich Erdmann, der sich mit der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich befaßte [5]. Auch hier finden wir eine interessante Verwendung der fraglichen Konzepte. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR sind getrennte Staaten. Aber eine einzige ›Nation‹. Österreich und Deutschland sind zwei Nationen, aber ein Volk. Die Österreicher haben natürlich ihre Empörung zum Ausdruck gebracht, aber dieses Beispiel ist typisch.

Und bis heute ist Volk in Deutschland etwas Archaisches, Populistisches, Kulturelles, eher ›Geschlossenes‹, das sich letztlich auf eine gemeinsame Geschichte beruft, und Nation ist liberal, fortschrittlich und entspricht dem politischen Rahmen des modernen liberalen Staates, seiner Bürger und Wähler. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung erklärt deutschen Kindern den Unterschied zwischen ›Nation‹ und ›Volk‹ beispielsweise wie folgt:

Häufig, wenn Menschen von einer ›Nation‹ sprechen, meinen sie eine Gruppe von Menschen, die eine ähnliche Vorgeschichte haben, gemeinsame Bräuche teilen, die gleiche Sprache sprechen oder kulturelle Ähnlichkeiten aufweisen. Manche Menschen mit dieser Vorstellung von ›Volk‹ wollen ›ihr‹ Volk von anderen Völkern unterscheiden oder differenzieren. Grundsätzlich glauben sie, daß ihr Volk besser ist als die anderen Völker. Einige Politiker und andere Personen behaupten, daß in Deutschland viele Menschen leben, die angeblich nicht zum deutschen Volk gehören. Weil diese Menschen nicht den gleichen Hintergrund, die gleiche Kultur und die gleiche Sprache wie die meisten Deutschen haben, gehören sie angeblich nicht hierher. Diese Menschen werden dann aus der Gesellschaft ausgegrenzt und Vorurteile richten sich gegen sie.

Und dann gibt es noch diejenigen, die von ›gewöhnlichen‹ Menschen sprechen und somit zwischen vermeintlich gewöhnlichen Menschen und reichen und einflußreichen Menschen unterscheiden. Vor allem Populisten wollen auf diese Weise Feindschaft zwischen den Menschen säen und dann ihre politischen Ziele erreichen [6].

Kurz gesagt, in diesem Zusammenhang erscheint ›das Volk‹ sehr verdächtig: Entweder es mag keine Migranten oder es mag die Reichen. Es ist die modische und junge ›Nation‹, in der alles, was nicht die Liebe zur Demokratie ist, in der Bundesrepublik überlebt hat:

Heute sprechen viele Menschen von ›Nation’ statt von ‘Volk‹. Wir sprechen von Menschen, die in Deutschland leben und sich mit diesem Land und seinen demokratischen Regeln verbunden fühlen.

Die Aufgabe, die Begriffe in Ordnung zu bringen

Ethnosoziologen in Rußland und Deutschland sahen sich mit der Frage konfrontiert, wie man eine geordnetere Nomenklatur aufbauen könnte, in der die Begriffe ›Ethnos‹, ›Volk‹ und ›Nation‹ auf die eine oder andere Weise voneinander getrennt werden könnten, ohne den üblichen synonymen Gebrauch in der Alltagssprache oder in den Aussagen von Politikern.

Dies ist bereits für Max Weber charakteristisch, der das Konzept der ethnischen Einheiten einführt, wobei ›Menschen‹ größere Einheiten sind, deren Unterteilungen als ›Stamm‹ oder ›Ethnos‹ bezeichnet werden, wobei nach Weber sogar ein Ethnos eine Unterteilung eines Stammes sein kann und umgekehrt. Für die griechische Polis betont er, daß die Untergruppen, die vor der Polis existierten und sich mit ihr vereinigten, nicht als phylai, sondern als ethne bezeichnet wurden. Nation und Nationalgefühl sind für Weber das Produkt der Identifikation mit dem Staat, meist auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache, und mit der Machtpolitik dieser Staaten [7].

Wilhelm Mühlmann – einer der bedeutendsten deutschen Ethnosoziologen des 20. Jahrhunderts – orientierte sich an den Konzepten des russischen Ethnologen S.M. Shirokogorov, der den Begriff ›Ethnos‹ einführte als ›eine Gruppe von Menschen, die eine gemeinsame Sprache sprechen, ihre gemeinsame Herkunft anerkennen und eine Reihe von Bräuchen, eine Lebensweise besitzen, die durch Tradition bewahrt und geheiligt wird und sich von den Bräuchen anderer Gruppen unterscheidet‹ [8].


Mühlmann selbst (Foto, oben) versucht zu verschiedenen Zeiten, ›Ethnos‹, ›Volk‹ und ›Nation‹ voneinander zu trennen. Seiner Meinung nach ist ›Ethnos‹ die einfachste Form der Gesellschaft. Eine Nation ist eine komplexere Form (wie bei Weber), der Höhepunkt der kulturellen und geistigen Entwicklung. Mühlmann betrachtet die Gemeinschaften, die wir als ›Ethnien‹, oft auch als ›Naturvölker‹ bezeichnen, nicht als Völker und versteht sie als Ethnos. Schließlich trennte Mühlmann am Ende seines Lebens ›ethnos‹ (Ethnie), ›demos‹ und ›Volk‹. ›Demos‹ bezieht sich auf die moderne Massendemokratie, auf die das Konzept des ›Volkes‹ nicht mehr zutrifft, was der modernen Verwendung von Nation entspricht. ›Volk‹ bezieht sich auf das, was in Europa nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches entstand, d. h. die mittelalterliche hierarchische Gesellschaft [9].

Bromley, die Koryphäe der sowjetischen Ethnologie, hat etwas Ähnliches: Stämme entsprechen der primitiven Gemeinschaftsbildung, Nationalitäten der Feudalbildung und Nationen der kapitalistischen Bildung [10].

Ethnos, Volk und Nation nach Aleksandr Dugin

Wenn man das oben Gesagte berücksichtigt, erscheint das ethnosoziologische Konzept von A. G. Dugin, in dem die Begriffe ›Ethnos‹, ›Volk‹ und ›Nation‹ voneinander getrennt werden [11], als der konsequenteste Nachfolger der deutschen und russischen ethnosoziologischen Traditionen und der Besonderheit der russischen und deutschen rechten “Pedologen” in ihrer Behandlung der Begriffe ›Nation‹ und ›Volk‹.

Ethnos

Weber und Mühlmann folgend, definiert Dugin Ethnos als die einfachste Form und gleichzeitig die Wurzel der Gesellschaft, die allen anderen zugrunde liegt, und beschränkt die Verwendung des Begriffs auf archaische Gemeinschaften oder die archaische Dimension des Lebens in komplexeren sozialen Strukturen.

Menschen

Das Volk in diesem Schema ist die erste Ableitung von Ethnos. Die Ethnie oder, genauer gesagt, mehrere Ethnien, die in die Geschichte eingetreten sind (eine Ethnie ist eingetreten – eine intensive Interaktion mit anderen, Eroberungen und Bündnisse, die Bildung von Parteien sind zu erwarten), verlassen den Zustand des Gleichgewichts und der ›ewigen Wiederkehr‹, der für die archaische Gesellschaft charakteristisch ist, und bilden komplexe Strukturen: staatliche, religiöse, philosophische, soziale (Klassendifferenzierung). Auf diese Weise entsteht eine Nation. Häufig ist die Elite zu einem großen Teil, wenn nicht sogar vollständig, allogen und repräsentiert ursprünglich einen anderen Ethnos als die unteren Klassen einer Gesellschaft, was die für das Regieren notwendige Differenzierung schafft, die Trennung von Herrschern und Untergebenen. Die höchste politische Form des Seins eines Volkes ist ein Imperium, in dem die Menschen nicht nur in der Geschichte leben, sondern eine spezifische historische oder kosmische Mission haben. Im christlichen Imperium ist es die Idee der Katechons, die die Welt vor dem Kommen des Antichristen zurückhalten [12].

Das Volk vereint ethnische Vielfalt und den Wunsch nach Einheit. Vielfalt – denn so wie sich die Elite durch Angehörige verschiedener Ethnien erneuert, gibt es auch in den unteren Etagen verschiedene Ethnien. Doch sowohl innerhalb der Elite als auch zwischen den untergeordneten Bauerngemeinschaften gibt es Prozesse der Interaktion. Schließlich findet die gleiche Kommunikation auch zwischen der Basis und der Spitze statt: Die Spitze nimmt die sprachlichen und kulturellen Elemente der Basis auf, die Basis nimmt die von oben vorgegebenen normativen politischen und religiösen Modelle auf. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die gleichzeitig vielfältig und in ihren allgemeinen Merkmalen ähnlich ist und die Einheit in der Vielfalt erreicht.

In Rußland gab es beispielsweise vor (und nach) Peters Reformen eine Basisintegration slawischer, finno-ugrischer und anderer Gemeinschaften, die von der slawischen, d.h. russischen Herkunft dominiert wurde. An der Spitze gab es die Integration der vargotischen, slawischen, litauischen und tartarischen Aristokratie, sodass alle schließlich gleichermaßen zu Russen wurden und so das russische Volk bildeten, das durch eine gemeinsame Wahrnehmung von Herkunft, Kultur und historischer Mission vereint wurde.

Es gab auch eine Verbindung zwischen der russischen Ober- und Unterschicht – auf sprachlicher und kultureller Ebene und um die kulturelle Kluft zu überbrücken, nachdem Peter Russland Puschkin, Gogol, Tolstoi und Dostojewski, Glinka, Mussorgski, die Slawophilen und die russische religiöse Philosophie usw. geschenkt hatte. So entstand das große goldene und später silberne Zeitalter der russischen Kultur.

Es gab immer noch die Möglichkeit für bestimmte ethnische Gruppen (wie die Jakuten, Burjaten oder Tataren), organisch im Reich mit dem russischen Volk zu koexistieren, indem sie sich auf unterschiedlichen Umlaufbahnen des kulturellen und staatlichen Zentrums bewegten, und andere ethnische Gruppen zu russifizieren, indem sie die vorherrschenden Verhaltensnormen und sogar die Traditionen und die Sprache übernahmen (wie im Wolga-Ural und im russischen Norden).

Die Nation

Die ›Nation‹ in Dugins Schema entbehrt jeglicher positiver Bedeutung (außer daß sie besser ist als eine globalisierte und pervertierte Zivilgesellschaft), denn all diese positive Bedeutung wird bereits dem Begriff ›Volk‹ als komplexer Struktur der traditionellen heiligen Gesellschaft zugeschrieben. Es ist nicht nötig, eine neue Kategorie einzuführen, um diese Realität zu beschreiben. Alles ändert sich jedoch, wenn es um die Moderne geht.

›Nation‹ wird hier als eine ethno-soziologische Form verstanden, die bei der Zerstörung traditioneller Gesellschaften und beim Paradigmenwechsel von der Vormoderne zur Moderne auftritt, d. h. infolge von Prozessen der Entsakralisierung, Säkularisierung, der Liquidierung der traditionellen Klassenspaltung und ihrer Ersetzung durch die Klassenspaltung, der Entstehung bürgerlicher Revolutionen usw. Hier ist die kritische Position der Konstruktivisten E. Gellner, B. Anderson und E. Hobsbawm, für die die ›Nation‹ das bürgerliche Konstrukt der Neuzeit ist, weitgehend akzeptiert.

Die ›Nation‹ verlangt eine größere Homogenität als das ›Volk‹, beruht auf individueller statt auf kollektiver Identität und verlangt nach dem jakobinischen Ideal die Assimilierung aller Ethnien in ihrer Reichweite.

Die ›Nation‹ ist eine ›vorgestellte Gemeinschaft‹ – d. h. eine komplexe Gesellschaft, die sich als vermeintlich einfach darstellt, zusammengehalten durch Solidarität auf der Ebene des ›Ethnos‹ (der archaischen Gemeinschaft), aber mit einer Verbreitung der von der Aristokratie entlehnten Konzepte von ›Rechten‹ und Individualismus. In der Zeit der bürgerlichen Freimaurerrevolutionen in Europa sprachen die Träger eines besonderen anthropologischen Typs – die Bourgeois – im Namen der ›Nation‹ und rechtfertigten ihre Machtansprüche: keine heroischen Aristokraten oder fleißigen Bauern, sondern etwas anderes, nämlich Kaufleute, Anwälte, ›Geschäftsleute‹ usw. Die Bourgeoisie war eine der wichtigsten Figuren in der Geschichte der Freimaurerei. In der Terminologie von K. W. Malofejew ist die ›Nation‹ Kanaan und das ›Volk‹ das Imperium [13].

Die Nation beansprucht die Souveränität, indem sie sie dem heiligen Monarchen, den dieser von Gott erhält, streitig macht. Insgesamt ist sie ein Produkt der ›sekundären Vereinfachung‹, um die Sprache von K. N. Leontjew zu verwenden, und der Apostasie. Die Nation versucht, die gesellschaftliche Solidarität in einer Gesellschaft wiederherzustellen oder sogar zu stärken, in der die Bürgerlichen die alten Säulen der Solidarität – Religiosität, Loyalität gegenüber dem Monarchen und der Kirche, ihrer Landgemeinde oder der aristokratischen Korporation – bereits untergraben haben, indem sie den Appell an eine ethnische und historische Dimension (den Nationalismus) politisieren. Dies kann zu Zwietracht und Intoleranz führen und als Reaktion darauf zum Gegen-Nationalismus anderer Gruppen. Letztendlich jedoch, weil die Nation den Individualismus fördert und in der Regel, in den Worten von Louis Dumont, eine Projektion des individuellen Ichs auf das kollektive Ich ist [14]. Dieser Individualismus untergräbt schließlich die gesellschaftliche Solidarität, der Nationalismus weicht dem Globalismus, wobei er sich seiner wesentlichen Einheit mit diesem nicht bewußt ist.

Im Westen ist der Übergang von den Völkern zu den Nationen fast abgeschlossen (obwohl einige Elemente des archaischen, sogenannten ›ethnischen‹ und traditionellen, sogenannten ›folkloristischen‹ Bewußtseins im täglichen Leben und in der Kultur noch deutlich zu erkennen sind). Im Osten und in Rußland ist es aufgrund des Phänomens der Archäomoderne schwierig, von einer ›Nation‹ in diesem Sinne zu sprechen. Die Umrisse der traditionellen Gesellschaft und des traditionellen Reiches sind hinter der modernistischen Fassade sichtbar.

Die Folgen der Einführung der Trichotomie ›Ethnos‹, ›Volk‹ und ›Nation‹ für die Wissenschaft und den politischen Diskurs.

Betonen wir die Vorteile einer solchen Einteilung (vor allem von Volk und Nation) :

1.

Die Unterscheidung zwischen der Sozialstruktur und der kollektiven Psychologie, den Wahrnehmungen der Menschen in der traditionellen und der modernen Gesellschaft wird berücksichtigt, was im ethno-symbolistischen Ansatz von E. verloren geht. Smiths und J. Armstrongs Konzept der ›Nationen vor dem Nationalismus‹. Wenn wir zum Beispiel Smiths Definition nehmen, wonach eine Nation ›eine namenlose, selbstdefinierte menschliche Gemeinschaft ist, deren Mitglieder gemeinsame Mythen, Erinnerungen, Symbole, Werte und Traditionen teilen und pflegen, in einem festgelegten Gebiet leben und sich damit identifizieren, eine bestimmte öffentliche Kultur schaffen und verbreiten und gemeinsame Rechte und Gesetze beachten‹ [15], dann ist es offensichtlich, daß der einzige Unterschied zu Shirokoghirovs Definition von Ethnizität ein Hinweis auf die ›Öffentlichkeit‹ der Kultur und die ›Rechte und Gesetze‹ ist. Aber wie können wir dann die Situationen vor und nach den radikalen Veränderungen der sozialen Strukturen, der Politur der Welt und des Selbstverständnisses des westlichen Menschen in der Moderne unterscheiden?

Wir sollten nicht behaupten, daß die Reformation, die Renaissance, die Aufklärung usw. nichts bedeuten und die sozialen Strukturen und das Selbst- und Weltverständnis des Menschen nicht verändern, und den Begriff ›Nation‹ in seinem Verständnis in der modernen westlichen Gesellschaft rückblickend beispielsweise auf das neunte Jahrhundert verschieben. Es ist wissenschaftlicher, die Moderne und die Vormoderne von der Tradition zu trennen und dem ethno-soziologischen Inhalt der Tradition einen korrekten Namen zu geben.

Was die Fälle England, Frankreich und Schottland betrifft, in denen Ethnosoziologen so etwas wie Nationen im 14. Jahrhundert finden, so ist die Beschreibung von ›Nationen‹ durch die Kategorien der kollektiven Identität unter den Eliten, den gemeinsamen Namen, die Begriffe Abstammung und Verwandtschaft, gemeinsame Erinnerungen und Traditionen und die Trennung der ›Eigenen‹ von den ›Fremden‹, nicht überzeugend. Dasselbe finden wir in ›Ethnos‹ und ›Volk‹. Das Verständnis der Nation als “Ethnos mit einem entwickelten Staat und einer entwickelten Kultur” leidet unter demselben Fehler – versehentlich oder absichtlich zwei gegensätzliche Typen und Zustände der Gesellschaft – Vormoderne und Moderne – zu vermischen.

2.

Die Einführung des Konzepts der ›Nation‹ deaktiviert das destruktive Potenzial des konstruktivistischen Ansatzes (Gellner und Co.). Nationen als etwas, das anstelle von Völkern in der traditionellen Gesellschaft entsteht, fallen unter diese Kritik, Nationen nicht. Wenn Konstruktivisten (E. Hobsbawm) dazu neigen zu glauben, dass nicht nur Nationen, sondern auch Kategorien wie ›Antike‹ und ›Tradition‹ oder sogar ›Ethnien‹ von der Bourgeoisie erfunden wurden, um ihre Herrschaft in der Moderne zu rechtfertigen, dann verhindert die Trennung von ›Ethnie‹, ›Volk‹ und ›Nation‹ derartige Extreme, eine unangemessene Übertragung des modernen Paradigmas auf die traditionelle und archaische Gesellschaft.

So kann der Begriff ›Volk‹ als Brücke für die am besten geeigneten linken und postlinken Denker dienen, die sich der mit dem Begriff ›Nation‹ verbundenen Probleme bewusst sind, aber versuchen, dem liberalen Globalismus zu widerstehen, ohne die ethnische Identität in radikalen linken Konstruktionen aufzugeben (z. B. Alain Soral in Frankreich).

3.

Die Berufung auf das ›Volk‹ deaktiviert die Gefahr eines modernistischen und konstruktivistischen ›Nationalismus‹, der immer möglich ist, wenn man sich auf ›die Nation‹ beruft. Seitdem die Arbeiten der Konstruktivisten an Popularität gewonnen haben, beginnt die junge Rechte, beeinflusst von Anderson und anderen, den Nationalismus nach ihren Linien zu konstruieren, mit den unvermeidlichen Verweisen auf die Zivilgesellschaft, die Konstruktion der Nation, Forderungen nach mehr Modernität und der Verspottung der Tradition als archaisch. Das Ergebnis ist ein Diskurs im Geiste des ›russisch sprechenden Posthumanismus‹ und eine Erweiterung des Horizonts des Transhumanismus (wie der Fall von E. Prosvirnin deutlich zeigt).

4.

Gleichzeitig wird die liberale Komponente des Appells an die ›Nation‹ deaktiviert, wenn ein anderer Teil der ›Nationalisten‹ meint, dassß, da sie für den ›Nationalstaat‹ sind, dieser auch für Demokratie, Fortschritt, ›Parlamentarismus‹, ›freie Wahlen‹ und einen inhaftierten Nawalny sein sollte, d. h. für den Zusammenbruch Rußlands. Dies schafft eine Gelegenheit für diejenigen, die sich selbst als “Nationalisten” bezeichnen, in Wirklichkeit aber Konservative und Traditionalisten sind, ihre Position zu überdenken und für eine ethnische und historische Identität (›Volk‹) einzutreten, die nichts mit der liberalen kanaanäischen Weltanschauung zu tun hat.

Spezielle Militäroperation und Ethnosoziologie

Auf der Grundlage des oben beschriebenen Konzepts kann eine allgemeine Analyse der Ethnosoziologie der militärischen Sonderoperation vorgenommen werden. Für Rußland handelt es sich dabei um die Rückkehr eines Teils des russischen Volkes in den gemeinsamen Raum. Im Rahmen der ethnisch-nationalen Trichotomie wird W. Putins Ansatz gut erläutert. Putins Ansatz, in dem Russen und Ukrainer als ›ein Volk‹ charakterisiert werden, läßt sich gut erklären.

Putin bestätigt diese These nicht versehentlich, indem er sich auf die ›historische Einheit‹ beruft [16]. Es ist dieser Faktor – eine einzige Geschichte und eine einzige historische Mission –, der für den Begriff ›Volk‹ am wesentlichsten ist. Während dieser Rückkehr erinnert sich Rußland selbst daran, daß es ein Imperium ist – es erfüllt die Mission des Katechon, indem es sich dem eschatologischen Bösen des Westens stellt. Die ethnischen Gruppen und Russen in Rußland beteiligen sich an der gemeinsamen Sache der Befreiung von Noworossija und der Ukraine, indem sie sich vereinen, aber nicht um den Preis des Verlusts der Identität oder der ethnischen Identität (und nicht der Assimilation an eine ›Nation‹).

In diesem Zusammenhang hat das russische Volk sowohl eine ethnische Komponente (die recht unterschiedlich ist, insbesondere aufgrund der Konzeptualisierung der Kleinrussen als ›Ukrainer‹, die auch Russen sind) als auch eine historische Komponente. Es ist kein Zufall, daß sich auch Kaukasier, Burjaten, Tuwinier und Vertreter anderer ethnischer Gruppen in Russland zunehmend als Russen bezeichnen. Die ›Ukrainer‹-Malorossianer, die sich dem Imperium angeschlossen haben und sich als Teil des russischen Volkes verwirklichen, werden ihre ethnische Komponente nicht verlieren, sondern nur eine zusätzliche – imperiale und universelle – Identitätsdimension erwerben.

Der ›Ukrainismus‹ – als eine Identität, die Rußland entgegengesetzt ist – gleicht einer absoluten Umsetzung der konstruktivistischen Konzepte über die künstliche Natur der Nation (zuerst der Nationalismus – dann die Nation). Das Politonym ›Ukrainer‹ selbst ist das Werk von Kreisen der Intelligenz, die im 19. Jahrhundert einen veralteten Buchbegriff übernahmen, ihn zunächst mit einem rein geografischen, dann mit einem rein ›nationalistischen‹ Inhalt füllten und ihn erst nach der sowjetischen Ukrainisierung als Eigennamen etablierten [17]. Hier haben wir es eben mit einer aus dem Nichts geschaffenen ›Nation‹ und dem daraus resultierenden Nationalismus zu tun.

Die militärische Sonderoperation in der Ukraine ist ein Kampf zwischen der großen russischen Nation und der künstlichen ›ukrainischen Nation‹, zwischen Tradition und Moderne, die in die Postmoderne übergeht, zwischen dem Imperium und dem Nationalstaat als Sprungbrett auf dem Weg zur Auflösung in der globalen Gesellschaft.

[1]    А.И. Миллер. «Нация» и «народность» в России XIX века URL” https://polit.ru/article/2008/12/29/nation/

[2]    А.И. Миллер. «Нация» и «народность» в России XIX века URL” https://polit.ru/article/2008/12/29/nation/

[3]    Бенуа А. Идея Империи/Против либерализма: (К Четвёртой политической теории). – Спб.: Амфора, 2009. С.441

[4]    Ernst Wilhelm Müller, Der Begriff ‚Volk‘in der Ethnologie URL: https://download.uni-mainz.de/fb07-ifeas/Mueller/Volk.pdf

[5]    “Drei Staaten, zwei Nationen, ein Volk“ – Ein Konzept “fürs Museum”? URL: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/247587/drei-s…

[6]    Volk/ Nation URL: https://www.hanisauland.de/node/2540

[7]    Ernst Wilhelm Müller, Der Begriff ‚Volk‘ in der Ethnologie, URL: https://download.uni-mainz.de/fb07-ifeas/Mueller/Volk.pdf

[8]    Широкогоров С.М. Этнос. Исследование основных принципов изменения этнических и этнографических явлений. Кафедра Социологии Международных Отношений социологического факультета МГУ им М.В. Ломоносова. Москва, 2010г. С.16.

[9]    Ernst Wilhelm Müller, Der Begriff ‚Volk‘in der Ethnologie, URL: https://download.uni-mainz.de/fb07-ifeas/Mueller/Volk.pdf

[10]  Этнография: Учебник / Под ред. Ю. В. Бромлея и Г. Е. Маркова. — М.: Высш. школа,

1982. С.4-5

[11]  См. Дугин А.Г. Этносоциология. – М.: Академический проект, 2011

[12]  См. также Дугин А.Г.  Антикейменос. Эпистемиологические войны. Боги чумы. Великое пробуждение. М.: Академический Проект, 2022.

[13]  См. Малофеев К.В. Империя. Книга первая. – М.: Издательство АСТ, 2022.

[14]  Цит по. Бенуа А. Идея Империи/Против либерализма: (К Четвёртой политической теории). – Спб.:Амфора, 2009. С.451

[15]  Smith A.D. Cultural Foundations of Nations: Hierarchy, Covenant and Republic. L.: Blackwell Publishing, 2008, p. 19.

[16]  Статья Владимира Путина «Об историческом единстве русских и украинцев» URL: http://kremlin.ru/events/president/news/66181

[17]  Ф.А. Гайда. Историческая справка о происхождении и употреблении слова «украинцы» URL: https://rusidea.org/250929916

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2022/08/18/ethnos-peuple-nation-comme-categories-ethno-sociologiques.html
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