Hans-Wilhelm Schäfer
Im Zusammenhang mit den „westlichen Werten“ ist immer wieder von der Würde des Menschen die Rede. Diese Würde des Menschen, so wird verkündet, ist unser wertvollster Besitz und darf nicht verletzt werden.
Da man aber nicht von Sachen reden soll die man nicht versteht, fragen wir mit einiger Berechtigung: Was ist des Menschen Würde (ahd. Wirdi, siehe Etymologisches Wörterbuch Kluge Götze)? Ehre, Heiligkeit, Unversehrtheit.
Wie sähe also die Verletzung eines so komplizierten Zustandes aus? Wenn jemand von einem Auto getroffen und zu Boden geschleudert wird und schwerverletzt am Boden liegt, so ist er in seiner Hilflosigkeit zweifellos schwer beschädigt und kann auch bewußtseinsmäßig nicht mehr erfassen, was ihm Ehre oder Ehrfurcht bedeutet.
Zuschauer, die hinzutreten, um den Hilflosen anzustarren, verletzen seine Würde und seine Unantastbarkeit in einem anderen Sinne. Man würde mit neuzeitlichen Begriffen wohl einfach sagen, sie seien gefühllos und taktlos, aber sie verletzten zweifellos die Würde des Individuums ebenso wie es der Unfall getan hat.
Ähnlich heikle Zusammenhänge ergeben sich, wenn wir die Unversehrtheit des Individuums der Zeit aussetzen. Die Begriffe Verjährung oder Strafmündigkeit befinden sich in diesem Zusammenhang. Ein zu junges Kind ist noch nicht strafmündig, bei einem sehr alten Menschen ist eine Schuld gegebenenfalls verjährt.
Bei dieser Vorstellung von Gerechtigkeit schwingt die Erkenntnis mit, daß einem sehr jungen Menschen Erfahrungszeit fehlt, nämlich jene Zeit der Erfahrungen, die ihn bei Fragen nach Schuld und Unschuld zu seiner vollen Identität reifen lassen, und ihn so strafmündig machen.
Ein alter Mensch, der unter fundamental verschiedenen Lebensbedingungen etwas getan hat, das aus späterer Sicht mit Schuld belastet wäre, hat hingegen diesen höchsten Stand der Identität verloren, so daß eine Strafe ihn nicht mehr trifft.
Es geschieht in dem genannten Beispiel eine Verletzung der menschlichen Würde aus zweierlei Richtungen. Einmal durch die gewaltsame Zerstörung der äußeren Lebensumstände (Unfall), zum anderen aber auch durch das rücksichtslose Anstarren unbeteiligter Dritter.
Dieses Problem der zersetzenden Zeit, das im Fall der Verjährung das Menschenleben in seiner Gesamtheit verändert, wird auf beschämende Weise übergangen, wenn man an die Fälle denkt, wo alte Menschen, die in jungen Jahren eine heute negativ beurteilte Pflicht erfüllt haben, zu hohen Strafen verurteilt werden – unter vollständiger Mißachtung des Prinzips der Verjährung wie auch unter vollständiger Mißachtung historischer Bedingungen. Die auf diese Weise ungerecht Behandelten sind dem ethischen Empfinden ebenso verstörend wie diejenigen, die solche Urteile sprechen oder unterstützen.
Wenn eine Sekretärin, die als Jugendliche in einem Konzentrationslager Bestandslisten ausgefüllt hat, an ihrem Lebensende wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wird, so ist hier nicht nur die Würde der Verurteilten zerstört, sondern auch die Menschenwürde ihrer Richter.
Es gibt kaum etwas Beschämenderes in der Geschichte der Bundesrepublik als die derartige Verurteilung von alten Menschen. Die Triebfeder hinter solchen Urteilenden ist, wie jeder leicht erkennt, nicht etwa das Streben nach Gerechtigkeit, sondern tierische Rachgier.
Daß das Gesetz sie erlaubt, ist auf die Politiker zurückzuführen, die sich der Rachgier dienstbar gemacht haben und sich dazu herbeiließen, in diesem Fall das Prinzip der Verjährung außer Kraft zu setzen.
Die größten Dramatiker des europäischen Schrifttums von Racine bis Schiller waren sich einig darin, daß in einer dramatischen Auseinandersetzung von Menschen die Einheit von Zeit, Raum und Handlung gegeben sein müsse. Zerstückelt man die dargestellte Zeit in winzig kleine Stücke, so zerbricht die Einheit der Handlung, und bei einer Zerstückelung des Raumes, bzw. bei seiner völligen Relativierung, geht die Einheit der Handlung, damit aber auch die Identität der Hauptgestalt verloren. Fehlt aber die Identität der Hauptgestalt, so schwindet der Kern dessen, was das Drama, sowohl früher bei den alten Griechen als auch später in der deutschen Klassik, erreichen wollte: nämlich die Katharsis des Helden (das ist die innere Selbstreinigung und Erhöhung des Menschen, eigentlich der Inbegriff seiner Identität und damit seiner Würde).
Betrachtet man nun diese unsäglichen Urteile gegen alte Menschen, die man in Deutschland vor den Richter gezerrt hat, so ist offensichtlich, daß hier die Würde des Individuums mit Füßen getreten wurde, was nicht nur eine schreckliche Vernichtung des Einzelnen, seiner Eigenart und seiner Identität ist, sondern das auch zur Schande derer gereicht, die einen solchen Vorgang tragen und verteidigen oder gar gutheißen.
Wie alle anderen Gesinnungsurteile, ist diese Vernichtung der Identität eine Schande für das ganze Land, für sein Staatswesen und für all die mit falscher Ethik und falscher Moral aufgeplusterten Marktschreier.
Beitragsbild: Justitia, Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt am Main, geschaffen 1887 vom Frankfurter Künstler Friedrich Schierholz (1840-1894)