Aus: Armin Müller (Hg.), Die Welt der Römer, Münster 1999, von uns zusammengefaßt
Cicero definiert religio als cultus deorum (Götterkult). Etymologisch ist religio abzuleiten von relegere (sorgfältig beachten) und bezeichnet die gewissenhafte Beobachtung und Erfüllung der Ansprüche göttlicher Mächte, wie sie im vorschriftsmäßigen Vollzug der Riten ihren Ausdruck finden. Für den Römer sind die Bereiche des Menschlichen und Göttlichen strikt geschieden; diese Trennung gilt sowohl für Orte, die sacer und damit im Besitz eines Gottes sind, wie für die Tage und Jahre, an denen Alltagsgeschäfte erlaubt sind (›dies fasti‹) oder nicht (›dies nefasti‹).
Alle religiösen Bemühungen tragen dem Rechnung und gelten entweder der Sicherung oder Wiederherstellung eines ungestörten Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern. Hierüber gibt eine Fülle von Zeichen (prodigia, portenta) Auskunft, die es genauestens zu beobachten gilt, um entsprechend reagieren zu können.
Sämtliche Riten sind darauf gerichtet, die Gnade der Götter (pax deum) zu bewahren oder zurückzugewinnen. Dabei sind die Götter gedacht als in den Dingen wirksame Kräfte, deren Wirkbereiche man mit durchsichtigen Namen so genau wie möglich einzugrenzen sucht. So gibt es gleich mehrere Gottheiten, die für den Schutz des Korns von der Saat bis zur Ernte zuständig sind. Da es andererseits schwierig ist, das Wirken solcher Kräfte sprachlich exakt zu umgrenzen, richten sich zahlreiche Weihungen und Opfer mit der Formel ›sive deus sive dea‹ an die Mächte, von denen man Hilfe erhielt oder erhofft, ohne sie genau zu kennen und benennen zu können. Diese Unbestimmtheit der Gottesvorstellung zeigt sich auch darin, daß die Anrufung eines Gottes zuweilen von dem Zusatz: ›sive quo alio nomine adpellari vis‹ begleitet wird und daß man die Festlegung des Namens auf ein Geschlecht zu vermeiden sucht (Faunus neben Fauna, Florus neben Flora).
Man opferte den göttlichen Mächten, um ihre Kraft zu mehren (mactare = mehren), in der Hoffnung, der Kraftzuwachs möge segensreich auf die Menschen zurückwirken. Dieser Kreislauf jedoch (do, ut des) gilt als überaus anfällig für Störungen aller Art: falsches Handeln oder ein falsches Wort machen das Opfer unwirksam. Daher sind alle Riten in genau festgelegter Ordnung zu vollziehen, der Wortlaut der begleitenden Gebete ist früh in feste Formeln gefaßt worden. So groß ist der Glaube an die Macht des Wortes, daß man sich durch eine Formel gegen unbewußte Sprachfehler zu sichern sucht (quod me sentio dixisse): die Gottheit soll die Bitte nicht nach den Worten, sondern nach der Absicht des Bittenden erfüllen.
Gelübde haben Vertragscharakter, mit exakter Angabe von Zeitraum und Erwartung. Auch bei Opfergaben wird der Zweck angegeben sowie der Personenkreis, für den Gebet und Opfer gelten sollen.
Die Sorge um das richtige Wort und das richtige Tun, getragen von der Überzeugung, bestimmte Pflichten erfüllen zu müssen, damit der normale Ablauf des Lebens garantiert bleibt, erstreckt sich nicht nur auf den Umgang mit den Göttern, sondern auch auf das soziale Leben: als pius gilt, wer für ein gutes Verhältnis zu den Göttern, zugleich aber auch zu seinen Eltern und Kindern sorgt. Die Anerkennung der Götter geht einher mit der Anerkennung der sozialen Ordnung, zu deren wesentlichen Elementen die Beherrschung der von Generation zu Generation weitergegebenen Regeln des religiösen Verhaltens gehört.
Da die römischen Götter auf der Erde wirken, in den Dingen und durch die Dinge, wohnen sie, anders als bei den Griechen, weder im Himmel noch unter der Erde. Auch gibt es keine Genealogien, die die Götter miteinander verknüpfen, und keine Mythen über sie. Ihre Nähe wird nicht als beglückend, sondern als schreckend erfahren. Anthropomorphe Göttergestalten lernen die Römer erst unter etruskischem und griechischem Einfluß kennen. Letztlich aber bleibt die Unpersönlichkeit einer unüberschaubaren Zahl göttlicher Mächte (numina) charakteristisch für das religiöse Bewußtsein der Römer.
Der Staatskult
Die Römer pflegten in ihrer skrupulösen Haltung gegenüber den göttlichen Mächten überkommene Riten auch dann beizubehalten, wenn sie ihren ursprünglichen Zusammenhang mit dem Leben längst verloren hatten. Zahlreiche Kulte, die eigentlich nur auf dem Bauernhof ihren Sinn und Zweck hatten, haben so Eingang in den Staatskult gefunden. Sie sind, als Rom zu einer größeren Gemeinde zusammenwuchs, einfach vom einzelnen Hof auf den Staat übertragen worden, für den man zunächst noch gar kein Wort hatte und den man sich nach dem Modell eines erweiterten Bauernhofes dachte. So wie auf dem Hof der Hausherr für alle den Verkehr mit den Göttern übernimmt, tut dies für die Gemeinde der Magistrat, falls nötig von sachverständigen Priestern beraten.
Die Terminalia werden jetzt auf einen bestimmten Ort, den 6. Meilenstein an der Via Laurentia, festgelegt und dort stellvertretend für die einzelnen Höfe begangen. Vesta und Penaten werden zu Schutzgeistern des Staates; Zwischenglied dieser Entwicklung war wohl der Haushalt des Königs, wo die für die Feldarbeit noch zu jungen Töchter das Herdfeuer unterhalten mußten; übertragen auf den Staat übernahmen die Vestalinnen diesen Dienst, bezeichnenderweise zwischen ihrem 6. und 10. Lebensjahr, um ihn erst nach dreißig Jahren als Vierzigjährige zu beenden. So lange unterstanden sie, nachdem sie aus der väterlichen Gewalt früh entlassen worden waren, der Aufsicht des Pontifex Maximus, der sie züchtigte, wenn das Feuer erlosch; Verletzung des Keuschheitsgebotes wurde mit dem Tod bestraft.
Die Bewohner des Palatin und des Quirinal, der wichtigsten unter den später zur Stadt Rom zusammengewachsenen Siedlungen, verehrten eigene Ortsgottheiten, die Diva Palatia und Quirinus, der als Gott der Quiriten ein kriegerischer Gott war. Beide hatten einen eigenen Priester, einen Flamen. Dem Quirinus wurde 293 v.d.Z., als er vermutlich schon mit dem Stadtgründer Romulus identifiziert war, auf dem Quirinal ein Tempel errichtet, den Augustus mit großem Prunk erneuern ließ. In vorhistorischer Zeit hatte auch die Gesamtgemeinde eine Ortsgottheit, die Diva Ruma, der ein Feigenbaum (ficus Ruminalis) auf dem Comitium heilig war.
Als Kriegsgott wurde Quirinus bald von Mars in den Hintergrund gedrängt, der als Gott des unheimlichen Draußen einerseits die Felder bedroht, andererseits aber auch diejenigen schützt, die auf Kriegszügen die Grenzen des eigenen Gebietes überschreiten. Die Priesterschaften von Mars und Quirinus, die Salii Palatini und Salii Collini, führten am 19. März und am 19. Oktober in altrömischer Bewaffnung Kriegstänze auf; mit der Bewaffnung ändert sich später auch die Tätigkeit der Salier, deren Gebet zum repräsentativen Gebet des Staates wurde: wer darin aufgenommen wurde, dem wurden Schutz und Sorge des Staates zuteil.
Anfang und Ende eines Kriegszuges sind begleitet von Lustrationsriten. Equirria (27. Februar), Quinquatrus (19. März) und Tubilustrium (23. März) heißen die Feste, bei denen Pferde, Waffen und Hörner nach der Winterruhe von Unheil gereinigt und mit neuer Kraft versehen werden. Im Oktober sucht man sich von allen schädlichen Einflüssen zu trennen, welche die Rückkehr aus der Fremde mitbringen: Gefangene müssen noch auf dem Kriegsschauplatz unter dem Joch hindurchgehen, die Beute wird sub hasta verkauft, die im Krieg erbeuteten Waffen, für andere Völker wertvolle Beute, werden dem Volcanus verbrannt, das beim Equus October, einem Pferderennen am 15. Oktober, siegreiche Tier wird dem Mars geopfert, die Waffen werden vier Tage später feierlich gereinigt (Armilustrium).
Spezielle Priester, die Fetialen unter Führung eines pater patratus, sind zuständig für die Kriegserklärung, bei der eine Lanze in das feindliche Gebiet, später symbolisch über die colonna bellica am Circus Flaminius geschleudert wird, sowie für den Vertragsschluß, wobei ein Ferkel mit einem Stein erschlagen wird, den man anschließend, begleitet von der Eidesformel, wegwirft; in späterer Zeit bewahrte man ihn im Heiligtum des luppiter Feretrius auf. Im Ritus der evocatio werden die göttlichen Mächte, welche eine feindliche Stadt schützen, herausgerufen unter dem Versprechen, daß sie in Rom eine Wohnstatt erhalten.
Bei der devotio verflucht sich ein einzelner Römer selbst: fällt er, so ist auch der Untergang der Feinde gewiß; andererseits muß ein sieben Fuß hohes Abbild vergraben und ein Sühnopfer dargebracht werden. Ein Feldherr, der sich devoviert, ohne zu fallen, darf nie wieder ein Opfer darbringen. Im Falle großer Not gelobt der Staat ein ver sacrum: alles im Frühjahr Geborene wird Mars, später Jupiter geweiht: die Tiere werden geopfert, die Menschen, wenn sie herangewachsen sind, als Kolonisten ausgesandt, eine Maßnahme, die ursprünglich dazu diente, den Bevölkerungsüberschuß zu verringern.
Als Schwurgott verehrt man Jupiter unter den Namen Dius Fidius und Semo Sancus, ursprünglich getrennten Mächten, nämlich denen des Himmels (Dius Fidius) und der Erde (Semo Sancus), bei denen man schwört und denen man sich im Fall des Wortbruchs weiht.
Große Gefahren stellen Feuer und Trockenheit dar: anläßlich der Volcanalia am 23. August verbrennt man Volcanus kleine, unverkäufliche Fische, damit die eingebrachte Ernte vor Bränden geschützt sei, ein Opfer, das in der Kaiserzeit durch die Darbringung eines Ebers und eines Kalbes ersetzt wird. Zur Zeit der gefährlichsten Dürre, am 23. Juli, feiert man die Neptunalia; wie Neptunus soll auch Tiberinus, der auf der Tiberinsel einen Tempel hatte, das Versiegen des Wassers verhindern.
Ianus ist der Gott der Stadttore. Der Ianus Geminus, ein doppelter Torbogen, bildet den Durchgang zwischen Forum und Argiletum zum Quirinal. Nach ihm ist der elfte (ab 153 v.d.Z. der erste) Monat genannt, vielleicht weil er für die Sonne nach dem Wintersolstitium am 21. Dezember den Eingang zu einem neuen Lauf darstellt; unter dem Einfluß symbolischer Interpretation durch die Priester (pontifices) ergeht die Vorschrift, ihn zu Beginn eines jeden Gebetes anzurufen.
Aus dem bäuerlichen augurium wird das augurium salutis populi Romani, das in Friedenszeiten auch als augurium maximum vollzogen wurde; ursprünglich handelt es sich dabei um die Bitte, das Wohl der Gemeinde zu ›mehren‹, später dienten auguria dazu, aus der Beobachtung von Himmelszeichen, Blitz und Vogelflug, die Zustimmung der Götter zu staatlichen Maßnahmen einzuholen.
Das Latinerfest (feriae Latinae) war zunächst ein Bundesfest aller latinischen Gemeinden; während seiner Dauer herrschte Waffenruhe; im Mittelpunkt stand ein Stieropfer für Jupiter, von dem jede Gemeinde einen Anteil erhielt. In historischer Zeit nehmen sämtliche römische Beamte an diesem Fest teil. ◊