Luca Leonello Rimbotti

 

Prometheanismus ist der übermenschliche (eben prometheische) Wille, Unentschlossenheit und starre Angst zu überwinden, indem man sich kopfüber in die radikale Postmoderne stürzt und das Handeln als gleichzeitiges Element des Denkens begreift.

In der unintelligenten Wüste und in der Stille der Kulturen, die durch die Brutalität des Konsums ausgelöscht wurden, spitzen wir unsere Ohren und hören den Schrei der Gegensätze. Etwas, das eine Mobilisierung ruft. Das mit alten Wörtern neue bildet. Gegen die substanzielle Unbeweglichkeit der Gegenwart, die nicht aus den Heucheleien um die Psychopandemie oder den Halbkrieg hervorgeht und die Scheinmodelle einer rattenhaften Dynamik vermittelt, gilt es, Ideen zu sammeln, sie vulkanisch zu entfachen und sie den neuen Handwerkern des europäischen Willens glühend in die Hand zu geben. Wenn es irgendwo noch einen gibt, einen, der nicht verrät, der keine Herren hat, der nur sich selbst will.

Über den Tatsachen steht die Hoffnung, Köpfe und Charaktere zu formen, die in der Lage sind, die Ereignisse zu überblicken. Es ist nicht einmal wichtig, wirklich zu verstehen, was geschieht, da alles im Kreislauf der finanziellen und kosmopolitischen Macht geschieht. Den Feind zu sehr verstehen zu wollen, bedeutet schließlich auch, ihm ähnlich zu werden, sich von seinen Unarten anstecken zu lassen.

Aber wenn es heute im Westen/Europa keine Kultur gibt, dann gibt so etwas wie eine Gegenkultur. Auf diese Verwirbelung der Wasseroberfläche muß man achten. Darunter ist vielleicht ein vom Abgrund genährtes ideologisches Tier am Werk.

Nimmt man die Zeitschrift ›Prometheica‹ in die Hand, die sich gerne als „Übersicht über Studien zum Übermenschentum, zur Technologie und zur europäischen Identität“ bezeichnet, wird einem sofort klar, daß irgendwo ein barbarischer Wunsch nach Kontrast besteht. Es werden Worte der Empörung geschwungen, es wird der Kosmos des falschen Schreckens verspottet, in dessen Labor die Menschenmasse schmachten muß, es wird mit einem voluntaristischen Akt festgestellt, daß die heutige Gesellschaft, die vor Lügen nur so strotzt, nichts anderes ist als eine in psychedelischen Abwässern verwesende Leiche.

Eine Gruppe kampferprobter Intellektueller hat es sich zur Aufgabe gemacht, denjenigen, die bereit sind, eine Revolte anzuzetteln, Waffen des Widerstands an die Hand zu geben. Und die Hand ist da, nämlich die Auffassung, daß das Handeln ein gleichzeitiges Element des Denkens ist. Auf diese Weise können wir uns die Überwindung der Gegenwart und die Errichtung einer Gegenkraftmaschine vorstellen, indem wir auf die Gesamtheit der Kräfte zurückgreifen, die durch den Widerständler mobilisiert werden können. Und zwar genau in dem Sinne, mit dem Heidegger einmal an die Bedeutung der Hand erinnert hat: „Denken heißt handeln in dem, was einem am ehesten eigen ist, wenn Handeln heißt, dem Wesen des Seins die Hand zu leihen„. In einem Zeitalter, in dem die Menschen erst das Tippen auf der Tastatur und dann das Sprechen lernen, gerät das Symbol der Hand – als das Organ, das die ursprüngliche Technik beherrscht – in Vergessenheit.

Prometheus, Gemälde von Friedrich Heinrich Füger

Die erste Ausgabe der Zeitschrift ›Prometheica‹, die zur Wintersonnenwende 2021 erschien, enthielt ein Manifest des Prometheismus. Darin wurde das ideologische Spektrum der neuen Subversion vorgestellt. Einige Kernpunkte in der Art der Manifeste des zwanzigsten Jahrhunderts.

Der erste Punkt hat die Ideen bereits verdeutlicht: Technologie in all ihren Ausprägungen, einschließlich künstlicher Intelligenz, Gentechnik, Robotik usw., wird nicht nur akzeptiert, sondern bis zum Äußersten getrieben. Sich kopfüber in technische und technologische Anwendungen zu stürzen, ohne die hemmenden Bremsen monotheistischer und moralistischer Obskurantismen: das ist die neue Grenze derer, die die dorischen Ursprünge unserer Zivilisation mit ihrem faustischen Schicksal verbinden und sie dazu verdammen, alles, was Wissen, Handlung, Mythos, Ritual, Symbol ist, in dichtesten Proportionen zu verwalten.

In diesem und den anderen zehn Punkten des Manifests wird nämlich der übermenschliche (prometheische, um genau zu sein) Wille veranschaulicht, Unentschlossenheit und unbewegliche Angst zu überwinden, indem man sich kopfüber in die radikale Postmoderne stürzt. Diese neuen Argonauten des Ultraismus sehen ihre Bestimmung darin, den Zerfallsprozess, in den die gegenwärtige Zivilisation hineingeraten ist, evolutionär zu beschleunigen, indem sie die Möglichkeiten, mit allen Mitteln den neuen Menschen zu züchten, der von den Revolutionen der Vergangenheit erfolglos beschworen wurde, bis an die Grenze ausreizen.

Das ist der ‹Enhanced Man‹ (der verbesserte Mensch), und wir werden sehen, ob zumindest das funktioniert.

Diener von Nietzsches Ankündigungen, Verwirklicher der weitsichtigen Träume, die die hervorstechenden Merkmale unserer hohen Geschichte in sich bergen: das Jenseits des Haltens, das Jenseits des Werfens, eine wirbelnde Beständigkeit, und hier ist der Mann, der von den spartanischen Intellektuellen der „Prometheica“ gezeichnet wurde, der seine Umrisse erahnen läßt.

Die Züchtung des neuen Menschen wird im Wesentlichen aus dem Konflikt geboren, jener brodelnden Ursuppe, in der sich überlegene Kreaturen bilden, die sich aus dem Magma herauslösen und zu einem gigantischen biopolitischen Organismus werden, in dem Tier und Gott verschmelzen. Aus den Blitzen futuristischer Experimente entsteht das Individuum, das alle Formen der Vergangenheit in sich vereint: der Anarch, der Einzelgänger, der Rebell, der Wissenschaftler, der Mystiker, der politische Soldat: Wie viele Horizonte wurden nie erreicht? Und wie viele müssen mit jedem Morgengrauen neu entstehen, bevor die Zivilisation des liberalen Clusters zusammenbricht?

Das „Prometheica“-Manifest will ein Europa der Starken, das Land, „in dem das Feuer der Technologie am hellsten gebrannt hat“. Und so entsteht ein europäischer Raumimperialismus, eine „totale technologische Souveränität„, ein Bio-Kommunitarismus, der mit natürlicher Gelassenheit auch die gefährlichen Welten der Genetik beobachtet und bewertet, vielleicht um die vom Wohlstand verkrüppelten Demografien zu begradigen.

Die Beherrschung des tellurischen Raums, in dem sich die faustische Revolution vollziehen soll, läßt keine Felder vernachlässigt: Souveränität und Selbstbestimmung werden als Absolutheit beansprucht. Alles, was technisch ist, muß dem neuen Menschen zur Verfügung gestellt werden: vom Ökosystem bis zu den Methoden des Zusammenlebens, von der großen Politik bis zu den neuen Ressourcen. Der Kampf, der sich abzeichnet, ist der zwischen dem niedrigen Menschen der Gegenwart, der durch die Horde wurzelloser Wucherer fremdbestimmt wird, und dem höheren Menschen der nahen Zukunft, der durch einen organisierten und freien Willen gestärkt wird.

Das Organische des biologischen Lebens ist mit der mächtigen Maschinerie eines Gehirns verbunden, das festlegt, will und schafft; es wird flankiert vom Anorganischen, das zum Ereignis und zur Philosophie geworden ist: War die Zivilisation nicht schon immer eine glückliche Kombination aus der Hand des Menschen und der Natur, aus einem Organismus, der wächst, und einem Instrumentarium, das befähigt? Und ist die Kultur, aus der alles entspringt, nicht gerade eine Kultivierung, aus der alles Früchte trägt? Ohne die technische Korrektur des menschlichen Willens entfesselt die Natur, sich selbst überlassen, Grausamkeit, Absurdität, Widersprüchlichkeit; dann zerfällt alles vehement in Ansammlungen von unlösbaren und unlogischen Verwicklungen, die ins Chaos stürzen. Die faustische Technik, in der der europäische Mensch – im Guten wie im Schlechten – die höchste Exzellenz ist, ist die Ordnung, bedarfsgesteuerte Disziplin und erwartungsvolles Experimentieren, was den Gott nicht beleidigt, sondern ihm schmeichelt; es ist die Zusammenarbeit mit der Schöpfung, es ist die Mißachtung des Todes.

Bildquelle: dpa

Francesco Boco hat geschrieben, daß „der Mensch sich so dem höchsten Risiko aussetzt, seine unzulängliche und starke Natur den Elementen und den Widrigkeiten aussetzt und die bedeutsame Herausforderung annimmt, er selbst zu werden oder unterzugehen„. Auf Nietzsches Seil, zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht gespannt, darf der prometheische Mensch tatsächlich die Auflösung weder beschleunigen noch verzögern. Vielmehr muß er sie „transzendieren“. Es geht um ein Wort: Wie soll es gemacht werden? „Die Moderne muß transzendiert werden“, schreibt Adriano Scianca, „das heißt, sie muß überschritten werden, auch in dem, was an ihr am fiktivsten und befremdlichsten ist, aber mit einer Überschreitung, die immer eine Überwindung ist, die die Fetische des westlichen Humanismus im Rückspiegel zurückläßt„.

Ein neuer aktiver Nihilismus? Es ist eine Tatsache, daß dieses Modell der Moderne uns allein durch seinen Anblick befleckt; es zu bekämpfen bedeutet auch, sich mit seiner Häßlichkeit zu beschmutzen.

Indem man mit den Gefahren spielt, die man im Umgang mit den Extremen der Technologie und der Technik eingeht, lebt man gefährlich, ja, man ist in Kontakt mit dem radikalen Risiko. So ergeht es zum Beispiel denjenigen, die sich mit den Mäandern des Imaginären beschäftigen: Der Roboterheld birgt die Möglichkeiten eines „donnernden Gottes„, wie Carlomanno Adinolfi im zweiten Band der „Prometheica“ (Frühlingsäquinoktium 2022) schrieb, in Anlehnung an das klassische japanische Binom Tradition/Innovation. Aber ein solcher ›herkulischer Weg‹ birgt für den Massenmenschen immer eine Reihe von beängstigenden Gefahren. Also eine Aristokratie der Oberen, unempfindlich gegenüber Kalkül und Risiko? Die unbezähmbaren Marinettianer? Ein ultra-sozialer, ultra-vitaler Futurismus?

Es besteht jedoch eine Gefahr, die nicht nur in der niedrigen Seele des undifferenzierten Individuums zu spüren ist. Der massenhafte Mensch ist nicht der einzige mit einem Gespür für die Heimtücke, die im Unendlichen lauert. Wenn die Wuchergesellschaft der kosmopolitischen Sektierer erst einmal aufgelöst ist, durch wer weiß welche der möglichen Katastrophen, wird der faustische Mensch in der Tat wieder ein titanisches Rätsel vor sich haben, das es zu entschlüsseln gilt. Das Rätsel, das den raumgreifenden und experimentierfreudigen Alexander von seinen mazedonischen Generälen trennte, die am Ende nach einem ›ulisside nòstos‹ strebten.

Die Prometheaner von heute und morgen müssen die unmögliche Vermählung des Endlichen mit dem Unendlichen realisieren.

Sphären, Gemälde von Heinrich Cäsar Berann

Quelle: https://www.terreetpeuple.com/culture-enracinee-memoire-81/5003-prometheica-la-voie-de-l-action.html
Urquelle: https://www.centroitalicum.com/prometheica-la-via-dellazione/