Ernesto Milá
Eines der Trugbilder unserer Zeit ist der ›wissenschaftliche Optimismus‹, den man in den Medien findet. „Was, es gibt einen Virus, der alles auslöscht? Entspann‘ dich, hier passiert doch gar nichts! Der Impfstoff, der das Problem löst, wird bald fertig sein. Ist HIV, das in den 1980er Jahren noch tödlich war, heute nicht zu einer chronischen Krankheit geworden?
Dies ist eines der neuesten Argumente, die wir seit Februar/März 2020 überall in den Medien hören. Die Wissenschaft kann alles, sie löst alle Probleme, sowohl die, die heute existieren, als auch die, die morgen auftauchen werden. Jeder, der der Wissenschaft nicht vertraut, hat ein Problem. Die Wissenschaft von heute ist die kürzeste Definition von ›Fortschritt‹. Dann stellt sich heraus, daß die Dinge nicht ganz so sind.
In den 1960er Jahren gab es eine epistemologische Debatte über die Wissenschaft und ihre Neutralität. Die einen behaupteten, daß es eine ›Wissenschaft‹ im Dienste des Kapitalismus gebe und daß die Wissenschaft daher nicht neutral sei, sondern eine Erweiterung des Kapitalismus, um seine letzten Ziele besser, schneller und profitabler zu erreichen.
Die anderen sagten, daß die Wissenschaft neutral sei, weil eine Erfindung wie die Atombombe sowohl den ›Kapitalisten‹ als auch den ›Kommunisten‹ dienen könne.
Schließlich war das Vernünftigste – nach dem Mai-68-Fieber –, daß die Wissenschaft in ihren Grundsätzen neutral war, ihre Anwendung jedoch nicht. Die forensische Wissenschaft, die seit 20 Jahren pedantisch durch das „CSI“-Franchise verbreitet wird, kann sowohl von polizeilichen Ermittlern zur Aufklärung von Verbrechen als auch von Kriminellen, die keine Spuren hinterlassen wollen, angewandt werden (die Serie ›Dexter‹ basiert beispielsweise auf dieser Idee).
So können wir der Schlußfolgerung über die Neutralität der Wissenschaft, nicht aber ihrer Anwendungen, eine weitere hinzufügen: Die Wissenschaft kann sowohl in ihrer „hellen“, für die Menschheit nützlichen Seite als auch in ihrer „dunklen“ Seite eingesetzt werden.
Und damit haben wir sogar noch eine dritte Schlußfolgerung parat: „Wissenschaftsoptimisten“ beziehen sich nur auf die positiven Aspekte der neuen Entdeckungen und Möglichkeiten, die sich in den verschiedenen Bereichen eröffnen, aber niemals, absolut niemals, auf ihre „dunklen Seiten“. Denn jeder wissenschaftliche Fortschritt und jede technische Entwicklung hat unweigerlich eine problematische Seite.
Obwohl wir anerkennen, daß die Kernenergie zumindest in Europa die billigste Art ist, die Energieversorgung zu gewährleisten, und daß die Kernkraftwerke des 21. Jahrhunderts nicht mit denen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichbar und daher sicherer sind, wird es immer die Möglichkeit eines technischen oder menschlichen Versagens oder eines Angriffs geben.
Aber alle Formen der Energieerzeugung haben ihre Schattenseiten: Die Windenergie zum Beispiel verursacht (neben vielen anderen!!) akustische Probleme, die das menschliche Leben in der Nähe von Windparks unmöglich machen. Jeder, der schon einmal einen Windpark besucht hat, weiß genau, wovon wir sprechen. Und andererseits hängt alles davon ab, ob der Wind weht, genauso wie die Sonnenenergie nur funktioniert, solange keine Wolken aufziehen…
Es gibt keine Lösung, die zu 100 % sicher ist und zudem nicht irgendeine Form von Schaden, Belästigung, Risiko oder Abfälle mit sich bringt.
Wenden wir uns einem anderen Bereich zu. Dem der ›Gesundheitswissenschaften‹. Das große überschüssige Kapital der Technologieunternehmen investiert in diesen Bereich. Niemand will sterben. Niemand will krank sein. Manche wollen sogar ewig leben. Und die Wissenschaft forscht in diese Richtung. Das ist keine Science-Fiction, sondern bereits Realität: Es ist gelungen, das Leben von Laborratten zu verlängern, und zwar durch eine Vervierfachung ihrer normalen Lebensdauer, indem man die Telomere verlängert hat, die für eine gute Reproduktion ihrer Zellen sorgen. Für das menschliche Leben würde dies bedeuten, daß man 320 Jahre alt werden könnte.
Ebenso experimentieren sie mit der sogenannten „CRISPR-Technologie“, die im Wesentlichen darin besteht, beschädigte Gene in DNA-Ketten auszuschneiden und durch andere „gesunde“ zu ersetzen. Mit anderen Worten, die „Bearbeitung der DNA“ wird realisiert.
Es ist schön und gut, etwas länger als drei Jahrhunderte leben zu können… aber das Problem ist nicht nur das Leben, sondern auch die Lebensqualität, und wie wird unser Geist auf eine Welt reagieren, die nichts mehr mit derjenigen zu tun hat, die wir in unserer Kindheit kannten, nicht einmal, wenn wir unsere ersten 100 Jahre erreichen; wir werden unsere „Reife“ im Alter von etwa 150 Jahren erreicht haben…
Was könnte falsch daran sein, das Leben über drei Jahrhunderte hinaus zu verlängern? Können wir uns vorstellen, wie es wäre, im Jahr 1700 in Spanien geboren zu werden und im Jahr 2022 zu sterben? Könnte das Gehirn so viele Erinnerungen speichern und verarbeiten? Könnte es so viele Veränderungen aushalten? Welche Lebensqualität würden wir haben? Die Frage der „Superlanglebigkeit“ – die schon heute technisch möglich ist – wirft neue Probleme auf, die sehr schwer zu lösen sind… und keiner der Wissenschaftler, die an diesen Projekten arbeiten, spricht darüber.
Der unsägliche Elon Musk finanziert das Projekt ›Neurolink‹, das darin besteht, Gehirn und Computer direkt miteinander zu verbinden. Trotz der strengen Geheimhaltung, die dieses Projekt umgibt, wurde bekannt gegeben, daß es zu einem unbestimmten Zeitpunkt, auf jeden Fall aber innerhalb den nächsten 25 Jahre, möglich sein wird, eine Schnittstelle zu schaffen, mit der wir alles in unserem Gehirn in die „Cloud“ „herunterladen“ können.
Die Idee ist, daß dieses Projekt parallel zu anderen neuen Technologien voranschreiten wird. Robotik, zum Beispiel. Wenn wir in Australien sein müssen, ist es nicht nötig, daß wir dorthin reisen, sagt Musk. Es wird genügen, einen Roboter mit dem Inhalt unserer Partition in der „Wolke“ zu laden, so daß „wir“ dort sein werden, ohne dort zu sein…
Science Fiction? Im Moment ja, aber wir sollten nicht vergessen, daß Milliarden von Dollar in die Forschung in diese Richtung investiert werden.
Viel realistischer und in greifbarer Nähe ist die Abschaffung der Organtransplantation. Es heißt, daß Spanien bei den Organspenden führend ist. In fünf Jahren, wenn künstliche Organe mit Stammzellen als „Tinte“ in 3D-Druckern „gedruckt“ werden können, dürfte dies kaum noch von Nutzen sein.
Es wird ein Durchbruch sein, denn es wird keine „Abstoßung“ geben und der Körper wird nicht nach einigen Jahren durch die chemischen Rückstände der Anti-Abstoßungsmedikamente übersättigt sein.
Die grundsätzliche Frage ist auch hier nicht die technische, sondern die, ob die Sozialversicherung die Kosten für diese Art von Operationen übernimmt oder ob die Technik nur einigen wenigen Privilegierten zur Verfügung steht.
Es besteht die Gefahr, daß sich soziale Ungleichheiten auf die Lebenszeit übertragen: Die Glücklicheren werden in der Lage sein, für die „Verlängerung“ der Telomere zu bezahlen, sie werden in der Lage sein, jeden Organismus, der kaputt geht, durch eine 3D-gedruckte Nachbildung zu ersetzen, und im äußersten Fall, wenn alles andere fehlschlägt und es kein Heilmittel gibt, können sie immer eine Police bei ›ALCOR‹ abschließen, einem Unternehmen, das seit einem Vierteljahrhundert tätig ist und eine Niederlassung in Spanien hat, die die kryogene Konservierung des physischen Körpers im Falle des Todes durch eine unheilbare Krankheit und die „Entkryogenisierung“ in dem Moment garantiert, in dem ein Heilmittel für diese Krankheit gefunden wird. Die Lebensversicherung deckt die Kosten der Erhaltung. Und wenn man kein Vermögen hat, um die Kosten für die Kryogenik und die Konservierung des ganzen Körpers zu bezahlen, wird der Kopf konserviert – und zwar schon heute –, dessen Gehirn bei derersten sich bietenden Möglichkeit in einen Roboter implantiert werden soll.
An der Grenze zu diesem ›wissenschaftlichen Optimismus‹ stehen die Gurus des Posthumanismus (nicht zu verwechseln mit dem Transhumanismus). Während der Transhumanismus davon ausgeht, daß es möglich ist, die menschlichen Fähigkeiten durch neue Technologien zu verbessern, behaupten die Posthumanisten, daß es nach dem Überschreiten der transhumanistischen Stufe eine Situation erreicht werden muß, in der sich der Mensch vollständig von der ihn begrenzenden Biologie emanzipieren kann, um sich in die „Wolke“ zu flüchten und dort eine Art „globales Bewußtsein“ zu schaffen, das sie als die Grenze der darwinistischen Evolution betrachten: Wir werden also den Weg zwischen Wurm und Mensch zurückgelegt haben, wie Nietzsche sagte… um uns schließlich in ein einziges globales Wesen zu verwandeln, mit dm Bewußtsein einer einzigen Art, fast wie das eines Ameisenhaufens oder eines Bienenstocks.
Diese letzte Perspektive, die nicht im Bereich der Science-Fiction, sondern der „Avantgarde-Wissenschaften“ verteidigt wird, stellt die äußerste Grenze einer sehr ausgeprägten Tendenz unserer Zeit dar: die Betrachtung der Wissenschaft als Mutter aller Lösungen und des Fortschritts als die unvermeidliche Tendenz, zu der sie uns führt.
Warum noch wundern? Die Wissenschaft bringt die Menschheit voran, und es spielt keine Rolle, ob wir 320 Jahre alt werden, ewig leben oder ob es uns gelingt, das „biologische Stadium“ zu überwinden und uns von seinen Beschränkungen zu emanzipieren. Der Rest ist nicht von Bedeutung. Die Idee des ›Fortschritts‹ gewinnt immer und wir müssen immer weiter in die Richtung gehen, die sie uns vorgibt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts löste der wissenschaftliche und technische Fortschritt eine Debatte über die Wissenschaft aus. Ich glaube mich zu erinnern, daß es Henri Poincaré war, der in seiner Kritik an der positivistischen Wissenschaft den Ausdruck „Wissenschaft ohne Gewissen“ prägte. Der Gedanke war, daß die Wissenschaft zwar in alle Richtungen forschen kann, dies aber mit einer Ethik, einem Gewissen, einer Moral und vernünftigen Kriterien der Sicherheit und Vorsicht tun muß.
Das ›Computerzeitalter‹, das von emotional unreifen Menschen (von Gates über Musk bis Jobs) geschaffen wurde, läßt die gigantischen Fehlschläge der Mythologie und der Literatur erahnen: Ikarus, der die Sonne erreichen wollte (in direktem Zusammenhang mit Elon Musk und seinem Unternehmen SpaceX), Faust, der seine Seele im Tausch gegen ›Wissen‹ an den Teufel verkaufte und für den von da an alles schief lief (Poincarés ›Wissenschaft ohne Gewissen‹), Prometheus, der das heilige Feuer der Erkenntnis stahl, und wir wissen, wie er endete (symbolische Umschreibung des Transhumanismus), Dr. Frankenstein, der den ›perfekten Menschen‹ schaffen wollte und als Ausgeburt dastand (eine weitere symbolische Variante des Schicksals, das transhumanistische Wahnvorstellungen erwartet), Stevensons ›Dr. Jekyll und Mr. Hyde›, der glaubte, daß eine Droge die menschlichen Fähigkeiten verbessern könnte, und ein Monster erschuf (was sich direkt auf ›Pharmazeutika‹ und ihre ›Wunder‹-Produkte bezieht, einschließlich des Impfstoffs gegen Covidose oder Fentanyl, das die USA mehr verwüstet hat als jede andere biblische Plage), und, worauf sich alle transhumanistischen Texte gewöhnlich beziehen, Gilgamesch selbst, der sich darüber beklagte, daß die Götter die Unsterblichkeit für sich selbst reserviert hatten, und der wie die Götter sein wollte.
Im Grunde genommen steckt hinter all diesen unausgereiften und frustrierten Projekten die Verwandlung des ›homo sapiens‹ in den ›homo deus‹, oder auch das Paradoxon, daß der Mensch, der nicht mehr an Gott glaubt, zu der Überzeugung gelangt ist, er sei ein Gott, und seine Projekte daher darin bestehen, die Fähigkeiten Gottes durch die Technik zu verwirklichen.
Vielleicht ist deshalb der Satz, der den Teufel als den ›Affen Gottes‹, den großen Nachahmer, bezeichnete, heute aktueller denn je, als er es im Mittelalter war. Seine Umkehrung. In der Tat leben wir heute in einer Zeit, die sich radikal gegen jede Vorstellung von ›Normalität‹ wendet. Um in dieser Richtung „voranzukommen“, verzichtet die Spitzenwissenschaft, um akzeptiert und toleriert zu werden, auf Anspielungen zu ihren negativen Aspekten, die sie enthält. Sie konzentriert sich nur auf ihre positiven Errungenschaften, die für alle erfreulich sind. Aber jeder technische und wissenschaftliche Fortschritt birgt ein Risiko. Niemals mehr als heute haben es die ›Technologieoptimisten‹ in ihrer völligen Verantwortungslosigkeit vermieden, auf die Risiken der neuen Technologien hinzuweisen.
Das Schlimmste ist, daß wir in Zeiten des Identitätsverlustes leben: Alles, was einen Bezug, also ein System von Identitäten impliziert, ist verboten oder tendiert dazu, so weit wie möglich verwischt zu werden:
Wir leben in Zeiten des Verlustes nationaler Identitäten, des Verlustes kultureller Identitäten, sogar des Verlustes sexueller Identitäten. Was mit den neuen Technologien und in ihrem Kontext geschieht, ist etwas noch Gravierenderes und Extremeres: der Verlust der menschlichen Identität.
Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/
Usprungsquelle: http://info-krisis.blogspot.com/2022/05/cronicas-desde-mi-retrete-contra-el.html