Dr. phil. Stephan-Alexander Thomas
Essentialismus lautet der gelehrt daherkommende Generalvorwurf all jener, die überall dort, wo Realisten naturgegebene Tatsachen erkennen, nur von bloßen sozialen Konstrukten sprechen wollen. Die Kategorien der Rassentypologie seien hingegen platonisch-idealistische Konstrukte, die in Wirklichkeit nicht existierten, sondern sich ständig veränderten. Der linke französische Soziologe Pierre Bordieu (1930-2002) hatte den Begriff Essentalismus in den 1970er-Jahren erstmals ins Spiel gebracht, die Abqualifizierung der Rassentypologie als platonisch-idealistisch und damit vorwissenschaftlich, hatte bereits der marxistische Genetiker Theodosius Dobzjansky anno 1947 vorgenommen. (Quelle Vonderach)
Nun, kein Rassenkundler oder physisch orientierter Anthrobiologe hat je eine Unveränderlichkeit von Rassentypen behauptet. Alle gingen sie von historischer bzw. evolutionsgeschichtlicher Gewordenheit und damit auch Wandelbarkeit aus. Und was hat es mit dem Essentialismus auf sich?
Die Philosophiegeschichte versteht unter Essentialismus eine Lehre, die in schärfster Trennung von Realem und Idealem, bloß Wirklichem und Wesentlichem die Unwandelbarkeit und Selbstgenügsamkeit der Wesens- und Seinsordnung betont und diese zum allein wahrhaften Sein erklärt, demgegenüber das dem Werden und Vergehen unterliegende bloß Faktische insgesamt als nicht oder jedenfalls nicht eigentlich seiend abgewertet wird. (Philosophisches Wörterbuch, Herder, S. 82 s.v. Essentialismus)
Nun, das ist exakt die Lehre des Vorsokratikers Parmenides von Elea (520/15-460/55 v.d.Z.), die nun heute wirklich niemand mehr vertritt. Plato (428/27-338/37 v.d.Z.) versuchte mit seiner Ideenlehre zwischen Parmenides und Heraklit von Ephesos (460-20 v.d.Z.), der bekanntlich alles im Fluß sah, zu vermitteln, indem er die Ideen im Gegenzug zur sich fließend verändernden materiellen Welt als statisch postulierte. Entsprechend wird in der Philosophiegeschichte gelegentlich als Essentialismus auch jene „realistische“ Position im mittelalterlichen Universalienstreit bezeichnet, welcher die (universalen) Begriffe (Ideen) als realexistent bzw. die Identität von Begriff und Realität behauptete, während der seinerzeitige Nominalismus dieselben Begriffe bekanntlich zu Schall und Rauch degradierte. Derartige schon seit Jahrhunderten erledigte Positionen auf die moderne Rassenkunde zu übertragen, ist aber schlicht abwegig und dient alleine billiger Polemik.
Die Parole ›Alles nur soziales Konstrukt‹ entstammt dem sogenannten Konstruktivismus, einer erkenntnistheoretischen Richtung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die sich im Anschluß an den Linguistic Turn (Wende zur reinen Sprachphilosophie) in Frankreich formiert hatte und davon ausging, daß ein erkannter Gegenstand vom Betrachter durch den Vorgang des Erkennens überhaupt erst konstruiert werde. Eine eigenständige Präsenz und Fortdauer des erkannten Gegenstandes, wie bei Aristoteles als Substanz ( von lat. substare = darunter stehen, dasjenige, das unter veränderlichen Eigenschaften und Akzidenzien weiter besteht) oder auch nur im subjektiven Begriff wie bei Kant, wird verneint.
Dabei handelt es sich um eine Prämisse, der wir nicht folgen können; denn selbst Immanuel Kant, der die erkenntnistheoretische Wende vom erkannten Objekt zum erkennenden Subjekt vollzogen hatte, indem er die Gebundenheit der Kategorien und Begriffe an menschliche Denkstrukturen nachwies, blieb immerhin soviel Realist, um zwischen apriorischer Erkenntnis (Erkenntnistheorie) und empirsch-praktischer Erkenntnis zu unterscheiden.
Wir könnten die Welt zwar nur so erkennen, wie sie uns erscheine, die Dinge also nicht so erkennen, wie sie an sich seien, d.h. unabhängig von uns als subjektiven Betrachtern, aber dennoch sei objektive Erkenntnis im herkömmlichen Sinn zur praktischen Lebensbewältigung und insbesondere naturwissenschaftliche Forschung möglich, weil der gesunde menschliche Verstand Sinnesdaten immer nach denselben Regeln registriere. Heute spricht man in diesem Zusammenhang vom naturwissenschaftlichen Realismus oder mit Karl Raimund Popper (1902-94) von einem modifizierten Realismus (modifiziert gegenüber dem aristotelisch-scholastischen Realismus, der Begriff und Realität als identisch behauptete.) Ohne diesen Realismus wäre ja auch überhaupt keine Naturwissenschaft mehr möglich. Kant war sich dessen bewußt, die moderne Soziologie offenbar nicht.
In den Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Kulturanthropologie et.al.) wird seit den 1980er-Jahren fast durchgängig ein konstruktivistisches Paradigma vertreten, das alle kollektiven Identitäten als „soziale Konstrukte“ behauptet, die erst aus Diskursen und sozialem Handeln hervorgingen. (interaktionistischer Konstruktivismus) Leitgedanke ist offenbar die Wirkungsmächtigkeit von Diskurs und Handeln, die ja auch den generellen Wert der Sozialwissenschaften begründen soll. Wir kommen hier als an der aristotelischen Logik und mit Oackhams Rasiermesser geschulter Denker, ehrlich gesagt, nicht mit; denn wo ist die cartesianische Grundunterscheidung zwischen res extensa und res cogitans , zwischen äußerer bzw. sichtbarer Welt und intelligibler Welt, zwischen Sein und Denken geblieben?
Den einseitig subjektivistisch-aktionistischen Ansatz der konstruktivistischen Erkenntnistheorie steigerte in den 1970er-Jahren der sogennante Poststrukturalismus oder Dekonstruktivismus zum regelrechten Irrsinn. Hier wurde an Pariser Universitäten – man spricht dehalb auch heute noch von der ›French Theory‹ – unter der Federführung des europhoben maghrebinischen Juden Jacques Derrida der Versuch unternommen, das Ideologem ›Alles nur intersoziales Konstrukt‹ pseudoontologisch zu unterlegen.
Dazu wischte man sämtliche naturgegebene Gewißheiten von der Zweigeschlechtlichkeit über Völker und Rassen bis hin zum erkennenden Ich einfach als nur in Zeichen und Sprache vorhanden vom Tisch. Derrida z.B. behauptete dreist, daß ein Objekt (dt. Gegenstand) überhaupt nur durch seine Beziehung zu einem anderen Objekt präsent und im ›Hier und Jetzt‹ existent sei. Existenz werde permanent durch soziale Interaktion mittels Zeichen neu konstruiert. Bezeichnenderweise kommt das erkennende Subjekt in Derridas Pseudoontologie auch schon überhaupt nicht mehr vor: Sogar jeder Mensch sei nur ein sprachliches Konstrukt (Roland Barthes, Jacques Derrida) oder ein Konstrukt diskursiver und nicht-diskursiver Machtpraktiken (Michel Foucault). Alles also nur Geschwätz? Für das linke universitäre Milieu in den Geisteswissenschaften mag das tatsächlich zutreffen, daraus aber auf den gesamten Kosmos schließen zu wollen, ist gelinde gesagt grotesk.
Diese abartige Vollpfosten-Philosophie, die nicht nur das Ende jeglicher Identität, sondern zugleich auch das Ende der Vernunft bzw. des erkennenden Verstandes bedeutet, liefert seither die theoretische Grundlage bzw. den pseudo-ontologischen Überbau für Rassen- und Völkerleugnung, Gendertheorie (Leugnung des biologischen Geschlechts), Multikultur, Inklusion und alle anderen „Errungenschaften“ im Namen der Diversität, an der die westliche Welt gegenwärtig akut zugrunde zu gehen droht.
Der aktuelle Stellvertreter des Bundeskanzlers sowie Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz der bundesdeutschen Grünen Robert Habeck, der mit der brüsken Aussage schockte: Es gibt kein Volk und keine Völker. Basta! -, schrieb eine literaturwissenschaftliche Dissertation, die vor Derrida-Zitaten und dekonstruktivistischem Fach-Chinesisch nur so strotzt.
Während der Dekonstruktivismus à la Derrida und Habeck die Hausphilosophie des linksbürgerlichen Bobo-Milieus ist, das sich von der Loslösung des Menschen aus seiner biologischen Determiniertheit die totale Entgrenzung und grenzenlose Freiheit verspricht, – treibt die gemeine Linke nach wie vor der urmarxistisch-internationalistische Wille zur totalen Gleichheit in einer Welt ohne Klassen, ohne Rassen und ohne Traditionen an.
Die Rote Internationale glaubt an die Machbarkeit einer globalen Rassengleichheit durch sozial- und kulturrevolutionäre Transformationsprozesse. Hatte doch der altmarxistische Soziologe Franz Boas (vgl. o.) dekretiert, erst wenn es gelänge, die Fesseln der Tradition abzuwerfen, werde eine freie Gesellschaft möglich. (Vonderach S. 14)
Insbesondere die von der neomarxistischen bzw. neotrotzkistische Frankfurter Schule inspirierte 1968er-Bewegung verlieh dem Rassenegalitarismus großen Auftrieb. Die Antirassisten dieser Epoche bekannten sich unisono zum Marxismus. Seinerzeit führende Anthropologen und Palöoanthropologen veröffentlichten ein Friedrich Engels gewidmetes Sammelwerk. Unter dem Titel ›Not in our genes‹ (dt. Die Gene sind es nicht.) heißt es dort u.a.: Gemeinsam fühlen wir uns verpflichtet, eine sozial gerechtere – eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. (Lewonthin und Gould zit.n. Vonderach).
Der marxistisch-internationalistische Egalitarismus hat infolge des Marsches der Altlinken durch die Institutionen und hartnäckiger Wühlarbeit an der studentischen Basis die neoliberalen 1980er und den wissenschaftlichen Neo-Konservatismus der 1990er-Jahre überlebt und scheint aktuell seine Ultima ratio im sogeannten Anti-Lookismus gefunden zu haben. Unter diesem Schlachtruf fordern schwarze und linke weiße Studenten die Verordnung einer Sichtschutz-Brille, mit der mehr oder weniger nur noch kontur- bzw. fleischlose Strichmännchen wahrgenommen werden können, um Diskriminierung aufgrund körperlicher Merkmale im öffentlichen Diskurs zu verhindern. Sogenannte anonyme Stellenbewerbungen ohne Lichtbild und mit geschwärztem Namen sind bereits ein Erfolg dieses Anti-Lookismus
Interessanter- und aufschlußgebenderweise waren alle Häupter der Boas-Schule und ebenso die Vordenker der Frankfurter (Fußnote) und Pariser Schule ethnische Juden oder gehörten sexuellen Minderheiten an. Sie fühlten sich, wie Andreas Vonderach in seiner kleinen Wissenschaftsgeschichte ›Die Dekonstruktion der Rasse. Sozialwissenschaften gegen die Biologie‹ (2. Aufl. Graz: Ares 2010) vermutet, offenbar vom Rasse- und Identitätsbewußtsein ihrer nicht-jüdischen oder heteronormen Umgebung persönlich verletzt bzw. degradiert und projezierten ihre persönlichen Emotionen in eine gegenläufige politische Ideologie.
Vonderach wörtlich: Die jüdischen Wissenschaftler hatten sich oft unter inneren Kämpfen von ihrer jüdischen Ursprungskultur losgesagt und fühlten sich zugleich von der nichtjüdischen Mehrheitskultur bedroht. Hinzu kamen das traditionelle jüdische Auserwähltheistgefühl und der Messianismus, die sie nun auf eine säkulare Menschheitsutopie übertrugen. Sie verstanden unter Rassismus in erster Linie Antisemitismus und nahmen ihn entsprechend persönlich, ein Aspekt, der ihren Gegnern oft nicht bewußt war. Viele jüdische Organisationen wie das „American Jewish Committee“ (AJC) unterstützen in den 1930er Jahren die Forschungen von Franz Boas und seinen Schülern auch finanziell. (Vondrach S.14-15) Gleichwohl war es der jüdisch-stämmige französische Philosoph Alain Finkielkraut, der es wagte, den aktuellen Antirassismus als den Kommunismus des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen, weil er sich ebenso gewaltsam gebärde wie ehedem der sowjetische. (zit. n. Vonderach)