Das Märchen vom Machandelbaum offenbart am besten den Inhalt der Heimtaller-Tannhäuserfrage und gehört daher an die achte Stelle. Und alle, die dieses Märchen lesen und keine Deutung hören, bitte ich, dies alles in die heimliche Acht ihres Herzens zu nehmen und wohl auf die tiefen Geheimnisse zu achten, die ich in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Buche nur leise anzuvertrauen wage. Denn wahrscheinlich, ein weiteres Geheimnis liegt in dieser Zahl, in der Heimtallersage und in dem Märchen vom Machandelbaum verborgen.

Sie alle drei umfassen die Schicksalstragödie des Menschengeschlechts. Schon der Name ›Machandelbaum‹ deutet es an. Denn der Mandelbaum ist der 15-spoßige Runenbaum – Mandel ist ja noch heute der deutsche Name der Fünfzehn – der Menschheitsbaum, die Weltenesche, die nach eddischem Glauben vom Weltenbrand (mut-spili) soll verzehrt werden. Der Fluch der bösen Tat der unnatürlichen Mutter und die Furcht vor den Flammen des Weltenbrandes lodern aus dem Märchenschluß dem Hörer entgegen.

Aber wie die Acht die Zahl der Achtung ist, – die Edda bezeichnet sie gradewegs mit ›atmaelis skor‹ Schuldschuh, so ist die achte Rune mit ihren drei Namen naut, not, norn, Flut, Not, Schicksal ein Zeichen der Folge einer Schuld. Und der im achten Himmelshause der Himinbjörk wohnende Gott Heimtaller, – Tannhäuser ist nichts weiter als seine Umkehrung, denn das Haus ist zugleich Heim, und tallr ist der nordische Name der Tanne – der Metrinker oder Metwolf ist jener herrliche Sohn, an dem bei ›Sack-Mimir‹ Odin zum Mörder geworden ist. Jene, bisher in ihrer unergründlichen Tiefe so wenig verstandenen Verse ›Grimnismal‹ 50 so muß ich im Wortlaut bringen, weil in ihnen der Schlüssel zum Machandelbaum-Märchen verborgen liegt:

Svidr ok Svidrir
ek hét at Soeck mimis
ok dudda ek pann inn aldna Jötun;
På er ek Mjödvitis vark
ins moera bura
ordin einbani

Seider und Seiderer
hieß ich bei Sackmimers
und tat so wehm dem alten Jeten
damals, als ich des Metwolfs,
des herrlichen Sohnes,
Mörder geworden.

Mit Mimes Haupte, dem redenden Haupte, das in allen Geheimlehren eine große Rolle spielt, murmelt nach der Kunde der ›Wala‹ Wotan vor dem Weltuntergange, und da Heimtaller der Methtrinker ist, ist er der Enthauptete. Sein Zeichen ist die achte, die Not-Rune, das Bild des geköpften Baumstammes, der sich in der Tannhäusersage in den dürren Stecken verwandelt hat, der neu ergrünen soll, wenn Tannhäuser aus dem Venusberge hervorgegangen ist und seine Schuld gesühnt hat.

Die deutsche Heroldskunst hat in manchen Wappen durch das Heroldsbild des wieder ausschlagenden Baumstumpfes das Fortleben dieser Vorstellungen veranschaulicht. Und uns Deutsche geht es besonders nahe an, daß auch die Kyffhäusersage das gleiche Geheimnis birgt. Denn Kopf ist Haupt, und Haupt hieß nach der Edda Heimtallers Schwert.

Soll ich noch einen Schritt weiter gehen und auf jenes Loch im Himmel, als himmlisches Abbild der Kyffhäuserhöhle hinweisen, auf das die Lanze des Sternbildes Kepheus zeigt? Wer an astrologische Zusammenhänge glaubt, mag sich hiernach den nicht zu fernen Zeitpunkt errechnen, an dem Tannhäuser aus dem Venusberg hervorgehen, sein Stecken neu ergrünen und Heimtaller sein Schwert, dessen Name Haupt ist, wiederfinden soll.

„Das ist nun schon lange her“, so hebt das Märchen an, wohl zweitausend Jahr, da war da ein reicher Mann, der hatte eine schöne fromme Frau, und sie hatten sich beide sehr lieb, hatten aber keine Kinder, sie wünschten sich aber sehr welche, und die Frau betete so viel darum Tag und Nacht, doch sie bekamen keine.

Vor ihrem Hause war ein Hof, in dem stand ein Machandelbaum, unter dem stand die Frau einst im Winter und schälte sich einen Apfel, und als sie sich den Apfel so schälte, so schnitt sie sich in den Finger, und das Blut fiel in den Schnee.
„Ach”, sagte die Frau und seufzte so recht hoch auf, und sah das Blut vor sich an, und wurde so recht wehmütig, „hätt‘ ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee.”

Und als sie das sagte, ward ihr so recht fröhlich zu Mute: ihr wurde recht, als sollte das etwas werden. Da ging sie zu dem Hause, und es ging ein Monat hin, der Schnee verging: und zwei Monate, da ward es grün: und drei Monate, da kamen die Blumen aus der Erde: und vier Monate, da drängen sie sich als Bäume in das Holz, und die grünen Zweige waren alle ineinander gewachsen: Da sangen die Vögelchen, daß das ganze Holz schallte, und die Blüten fielen von den Bäumen; da war der fünfte Monat weg, und sie stand unter dem Machandelbaum, der roch so schön, da sprang ihr das Herz vor Freuden, und sie fiel auf ihre Knie und konnt sich nicht lassen: und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark, da wurde sie ganz still – und der siebente Monat, da griff sie nach den Machandelbeeren und aß so neidisch, da wurde sie traurig und krank: da ging der achte Monat hin und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: „Wenn ich sterbe, begrab mich unter dem Machandelbaum.” Da wurde sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war, da bekam sie ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und als sie das sah, da freute sie sich so, daß sie starb.

Diesen ersten Abschnitt des Märchens bringe ich in hochdeutscher Übersetzung wörtlich, weil er grundlegend ist. Da ist zunächst die wichtige Zeitbestimmung an 2000 Jahren, die sonst in den Märchen nicht vorkommt und streng geschichtlich zu nehmen ist. Die vorchristliche Zeit der germanischen Religion wird damit gekennzeichnet. Zur Zeit der Aufzeichnung der Eddalieder war der tiefere Sinn der Heimtaller-Sage schon verblaßt.

Nur Bruchstücke sind uns erhalten geblieben. Aber dies wenige erlaubt uns doch den Rückschluß, daß diese Göttergestalt den gottesebenbildlichen Menschen bedeutet in seiner ursprünglichen vollkommenen Gestalt, etwas wie der ›Adam Kadmon‹ der ›Kabbalah‹, von dem die Freimaurer ihren ›Ritter Kadosch‹ abgeleitet haben.

Dieser Gott, der König (Airikr) und Vater der Menschen – die die ›Wala‹ Heimtalls Geschlecht nennt – ward am Rande der Erde von neun Riesenmädchen geboren und aus drei Stoffen gebildet, aus Kraft der Erde, kalter Meereswoge und dem Opferblut des Sühne-Ebers (Sonne), also aus Erde, Wasser und Sonnenstrahlen (Wärme) oder kosmisch bezogen, aus Erde, Mond und Sonne.

Die neun Mütter, die esoterisch eine noch sehr viel tiefere Bedeutung haben, die sich aus ihren uns überlieferten Namen ableiten läßt, finden wir in dem Märchen in der so anschaulichen Schilderung der neun Monate wieder, die bis zur Geburt des Knaben vergehen. Wer mit dem Runensystem völlig vertraut ist, findet manche Beziehungen zwischen dieser Naturschilderung und der religiösen Bedeutung der Runen. Freilich ist diese Gleichung in dem Märchen nicht mehr scharf herausgearbeitet.

Das Essen der die Frau krankmachenden Beeren gehörte dogmatisch, wenn auch nicht kalendarisch, schon in das sechste Zeichen. Denn es steht, wie das Essen des Apfels durch Adam und Eva mit der Enthauptung (Vertreibung aus dem Paradiese) in Zusammenhang. Von den drei Stoffen, aus denen Heimtaller gebildet ward, sind im Märchen nur zwei übrig geblieben: Blut und Schnee. Freilich liegt die Annahme nah, daß Schnee die kalte Meereswoge (Wasser) und Erde in einem Bilde zusammenfaßt.

Das Märchen berichtet dann weiter, wie die Frau unter dem Machandelbaum begraben ward und der Mann nach einer Weile wieder heiratete. Die zweite Frau, die eine Tochter bekam, ward dem Stiefsohn bald gram und behandelte ihn schlecht. Als nun ihre Tochter von ihr einen Apfel erhalten hatte und für den Bruder auch einen erbat, ärgerte sie dies, sie nahm ihr den Apfel wieder weg und sagte: „Du sollst nicht eher einen haben als dein Bruder” und tar den Äpfel in die Kiste zurück, die einen großen schweren Deckel und ein großes scharfes eisernes Schloß hatte.

Wie nun der kleine Junge aus der Schule kam, bot sie ihm selbst einen Apfel an und hieß ihn, sich selber einen solchen aus der Kiste holen. Und als sich der kleine Junge hineinbückte, da ritt sie der Böse, bratsch! schlug sie den Deckel zu, daß der Kopf abflog und unter die roten Äpfel fiel.

llustration von Otto Ubbelohde, 1909, Bildquelle: Wikipedia

Da überlief sie es in der Angst, und sie dachte: „Könnt ich das von mir bringen!” Da setzte sie den Leib des Knaben auf einen Stuhl vor die Tür, band den Kopf mit einem weißen Tuch fest und gab dem toten Knaben einen Apfel in die Hand.

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909, Bildquelle: Wikipedia

Die Schwester, das Marleenken, sah den Bruder so sitzen und bat ihn, ihr den Äpfel zu geben. Als er nicht antwortete, ward ihr graulich zumute, und sie lief in die Küche, es der Mutter zu erzählen. Die riet ihr, sie solle noch einmal hingehen, und wenn er nicht antworten wolle, ihm eins an die Ohren geben. Wie sie das tat, rollte der Kopf herunter. Sie weinte und glaubte, sie hätte dem Bruder den Kopf abgeschlagen.

Holzschnitt Ludwig Richter, Bildquelle: Wikipedia

Die Mutter suchte sie zu beruhigen, hackte den kleinen Jungen in Stücken und kochte ihn in Sauer ein. Dabei fielen Marleenkens Tränen in den Topf, und sie brauchten gar kein Salz.

Wie der Vater heimkam, erzählte ihm die Stiefmutter auf seine Fragen, der Junge sei zu Verwandten über Land gegangen und würde wohl sechs Wochen bleiben. Wie er nun das inzwischen aufgetragene Schwarzsauer an zu essen fing, schmeckte ihm das so gut, daß er sagte: „Gebt mir mehr, ihr sollt nichts davon abhaben, das ist, als wenn das alles mein wär.”

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909, Bildquelle: Wikipedia

Und er aß und aß, und die Knochen schmiß er alle unter den Tisch, bis er alles auf hatte. Das Schwesterchen holte ein seidenes Tuch, hob all die Knöchlein auf und legte sie im Tuch unter den Machandelbaum in das grüne Gras. Da ward ihr mit einem Male so recht leicht, und sie weinte nicht mehr und der Machandelbaum bewegte die Zweige, als ob er sich auch freue.

Bild von Moritz von Schwind, Bildquelle: Wikipedia

Indem ging da ein Nebel von dem Baume, und recht in dem Nebel brannte das wie Feuer, und aus dem Feuer flog ein schöner Vogel heraus, der sang so herrlich und flog hoch in die Luft, und als er weg war, da war der Machandelbaum, wie er vorher gewesen war, und das Tuch mit den Knochen war weg. Marleenken aber ward so recht leicht und vergnügt, recht als wenn der Bruder noch lebte. Da ging sie wieder ganz lustig in das Haus zu Tisch und aß.

Wenn in diesem Abschnitt die Enthauptung mit dem Apfel in Verbindung gebracht wird, so muß wohl in dem verlorenen Teil der Heimtallersage auch eine ähnliche Beziehung vorgelegen haben. In der Edda verleihen die Äpfel der Iduna den Göttern ewige Jugend und als diese von dem Sturmriesen Thiassi, dem Vater der im sechsten Götterhause (6 = sexus = Kun = Geschlecht) wohnenden Skadi (Sk = 6) geraubt wird, fangen die Götter an zu altern.

Auch hier führt eine geheime Verbindungslinie von den Äpfeln zu dem Geschlecht, und es ist daher nicht zu vermuten, daß dieser Märchenzug schon christlichen Ursprungs ist. Freilich handelt es sich um keinen Sündenfall im biblischen Sinne. Schuld ist nicht der Knabe, sondern die Stiefmutter.

Aber das Sauerkochen ist ein feiner Zug. Denn seit die Menschheit der übersinnlichen Fähigkeiten beraubt ward, und tief in die Materie mit ihrer Finsternis hineinsteigen mußte, ward das Erdenleben schwer und mühselig. Trotz seines heiteren und leichten Temperaments mußte doch selbst Goethe bekennen:

Und so lang du dies nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde

Auch, daß der Vater alles Schwarzsauer allein aufessen will, ist ein tief mystischer Zug.

Nach einer uralten, noch bei Menschenfressern anzutreffenden Vorstellung, verleibt sich der, der einen anderen aufißt, seine geistigen Kräfte ein. Wenn also der Vater, wenn auch unwissend, den Leib seines Sohnes verzehrt, so nimmt er dadurch auch sein geistiges Wesen in sich auf. Darunter kann in diesem Zusammenhang nur verstanden werden, daß diejenigen Kräfte, die dem Menschen durch Heimtallers mystische Enthauptung entzogen worden sind, noch im Schoße der Gottheit verborgen ruhen.

Das Verhältnis des Knaben zum Machandelbaum bedarf noch einiger erklärender Bemerkungen. Dieser Baum, der Mandelbaum, Mimirsbaum (mimameidr) ist die Weltenesche Yggdrasil in der doppelten Bedeutung als Weltenesche und als Menschheitsbaum.

Als Weltenesche oder Kosmos steht sie, wie schon der erste Teil der Erzählung zeigt, in engen seelischen Beziehungen zu der echten Mutter des Knaben. Diese im Mythos die neun Heimtall-Mütter, im Märchen die neun Monate, personifizierten die kosmischen Kräfte, durch deren geistiges Wirken die Menschheit entstanden ist.

Als Menschheitsbaum ist sie geradezu gleichbedeutend mit Heimtaller, dem kosmischen Menschen, der deswegen als geköpfter Baumstamm, als Irminsul bezeichnet werden kann, die bekanntlich zu ›Karls des Großen‹ Zeit das oberste Heiligtum der Sachsen war.

Die Stiefmutter ist ein Bild der materiellen Erdenwelt. Denn durch Abstieg in die Materie hat der Mensch seine Geistnatur eingebüßt, hat Heimtaller sein Haupt verloren. Dadurch wird auch die Natur der Stiefschwester, die dem Bruder so innig zugetan ist, des Marleenchen, klar.

Der Name Lene wird uns im Märchen vom ›Fundevogel‹ wieder begegnen. Dort erkläre ich ihn als die Lichtnatur der Menschenseele, zugleich das Runenwissen (Fundr = 15) mit umfassend. Bleibt nur noch die erste Silbe des Namens Mar zu erklären. Sie ist, wie wir beim sechzehnten Märchen sehen werden, das gemeinsame Zeichen der fünfzehnten und sechzehnten Rune. Sie umfaßt Leben und Tod, Meer und Mutterschaft und schließt den ganzen Inhalt des Runensystems (madr als I und als 15/16), das gesamte Dasein als das große Wunder (miraculum) und Mysterium in sich ein. Maria-Lene oder Marlene ist daher die Menschenseele, die zugleich die Seele des ganzen Kosmos in sich begreift.

Verfolgen wir den Gang der Märchenerzählung weiter: Der Vogel flog weg und setzte sich auf eines Goldschmieds Haus und fing an zu singen:

Mein Mutter, der mich schlacht
Mein Vater, der mich aß
Mein Schwester, der Marlenichen
Sucht alle meine Benichen,
Bindt sie in ein seiden Tuch
Legt’s unter den Machandelbaum
Kywitt, kywitt, wat vor’n schöön Bagel bün ik!

Der Goldschmied wollte das Lied nochmals hören und mußte dem Vogel dafür eine goldene Kette geben. Dann flog der Vogel zu einem Schuster und bekam von ihm für die Wiederholung des gleichen Liedes ein paar rote Schuhe. Endlich kam der Vogel zu einer Mühle, die ging:

Klippe klappe, klippe klappe, klippe, klappe

In der Mühle dort saßen zwanzig Mühlenburschen, die hauten einen Stein und hackten:

Hick hack, hick hack, hick hack

Da tat der Vogel sich auf einen Lindenbaum setzen, der vor der Mühle stand und sang das gleiche Lied. Da hörte einer auf, dann zwei, dann vier, dann hackten nur noch acht, dann fünf, dann einer. Als er auch aufhörte und das Lied wiederholt wünschte, forderte und erhielt der Vogel zum Lohn einen Mühlstein, den die zwanzig Mühlenburschen mit Bäumen hochwuchteten, und mit dem der Vogel, seinen Kopf durch das Loch steckend, als wenn es ein Kragen wäre, leicht davonflog. Dabei hatte er in der rechten Klaue die Kette und in der linken den Schuh und so flog er weit weg nach seines Vaters Haus.

Um diesen dritten Teil das Märchens zu ergründen, muß man sich an die Kennworte: goldene Kette, roter Schuh, Mühlstein halten.

Das Gold ist allemal ein Zeichen des goldenen Zeitalters. Die goldene Kette ist gleichbedeutend mit dem Wunderringe ›Draupnir‹, von dem in jeder neunten Nacht acht andere tropften und mit jenem Trostwort, das Odin dem toten Baldur ins Ohr sagte. Es ist der Ring der Ringe, der Goldring der Ewigkeit. Diesen Goldring hat Heimtaller durch seine Enthauptung verloren. Ihn gilt es wiederzufinden.

Der rote Schuh, der auch im Aschenputtelmärchen eine Rolle spielt, ist nur ein anderer Name für die Zahl acht, die eddisch ›atmaelis skor‹ oder Schuldschuh heißt, und wie die achte Rune ›Not‹ Schuldverstrickung bedeutet (nodus heißt lateinisch der Knoten, und Schuld ist der Name der dritten Norne). Diese Schuldverstrickung zu lösen, sich in sittlicher Freiheit zur Reinheit hindurchzuringen, das ist die der Menschheit gestellte Aufgabe.

Der Mühlstein ist der Mahlstein oder Gerichtsstein. Mahlen bedeutet etwas Festes (M) zu lösen (L) [umgekehrt Leimen, etwas Loses fest machen].

Nachdem wir uns ganz in die Materie verstrickt hatten, auf dem tiefsten Punkt des Materialismus angelangt waren, ist es jetzt unsere Aufgabe, den umgekehrten Weg zu gehen, die Welt, die Materie zu vergeistigen.

Während der Zeit der Materialisation war es Aufgabe der Überlieferung, die in Liedern (melos) und manchen anderen Malzeichen lebte, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Die Zahl der Müllerburschen, und dann derer, die noch nicht zuhören, sind hierfür hochbedeutsam. „Erst hört einer auf zu hacken”, das heißt: zuerst ging der Glaube an die göttliche Einheit des Weltganzen verloren. Der Mensch ward losgelöst von dem einen göttlichen Urgrund.

Dann hörten zwei auf, der Zusammenhang mit der Urmutter Natur (UR, die zweite Rune) ging verloren. „Dann hörten vier auf.” Mit dieser Abtrennung versiegte die Quelle der geistigen Kraft (Od, die Geistrune, ist die vierte). „Nun hackten nur noch acht.” Eine Weile hielt die Stimme des Gewissens, Heimtallers, des Achters Horn, die Moral, die Menschheit zusammen. ”Nun man noch fünf.” Ist ein Volk nicht mehr innerlich gebunden, so kann nur noch die äußere Rechtsordnung (Feme und die fünfte oder Rechit-Rune bedeuten Recht) den völligen Zerfall aufhalten.

„Nun man noch einer”, das bedeutet Herrschaft des nackten Eigennutzes, völlige Anarchie. Die Menschheit ist reif zum Gericht. Von diesem Gericht handelt der Schluß des Märchens:

In der Stube saßen Vater, Mutter und Marleenken bei Tisch. Dem Vater ward leicht und gut zumute, als sollte er einen alten Bekannten wiedersehen. Der Mutter ward recht angst, als wenn ein schweres Gewitter kommt, die Zähne klapperten ihr und sie fühlte es wie Feuer in den Adern und riß ihr Leibchen auf, um Luft zu bekommen. Marleenken aber weinte ihr Tuch naß.

Da setzte sich der Vogel auf den Machandelbaum und sang:

Mein Mutter, der mich schlacht
Mein Vater, der mich aß
Mein Schwester, der Marlenichen
Sucht alle meine Benichen,
Bindt sie in ein seiden Tuch
Legt’s unter den Machandelbaum
Kywitt, kywitt, wat vor’n schöön Bagel bün ik!

Da hielt sich die Mutter die Ohren zu und kniff die Augen zu und wollte es nicht sehen und hören, aber das brauste ihr in den Ohren, als der allerstärkste Sturm und die Augen brannten ihr und zuckten wie Blitze, und ihr war, als bebte das ganze Haus und stände in Flammen.

Wie nun der Vogel weitersang, ging der Vater hinaus, den Vogel dicht bei zu sehen; da warf im dieser die goldene Kette um den Hals. Wie nun der Vater wieder in die Stube trat, fiel die Mutter lang hin und wünschte sich tausend Fuder unter der Erde zu liegen, Marleenken aber lief hinaus und bekam von dem Vogel die roten Schuhe geschenkt und tanzte und sprang herein.

Da stand die Frau auf, die Haare standen ihr zu Berge wie Feuerflammen und sie rief: „Mir ist, als sollte die Welt untergehen” und stürmte hinaus. Da schmiß der Vogel den Mühlstein auf sie und zerquetschte sie. Der Vater und Marleenken hörten das und gingen hinaus.

Da ging ein Dampf und Flammen und Feuer auf von der Stätte, und als das vorbei war, da stand der kleine Bruder da und nahm die beiden an die Hand und waren alle drei so recht vergnügt und gingen in das Haus zu Tisch und aßen.

Die Weltuntergangsstimmung des Märchenschlusses ist so deutlich gezeichnet, daß kein Zweifel ist, daß damit derjenige Inhalt der fünfzehnten Rune wiedergegeben werden sollte, der in dem eddischen Zahlennamen der Fünfzehn ›fundr‹ ausgedrückt wird. Denn dies heißt Treffen, Schlacht, ›mutspilli‹, ›Muspilli‹ und bezeichnet die Weltuntergangsschlacht.

Daß die goldene Kette dem Vater (Odin, dem göttlichen Geist) gebührt, ist nach dem obengesagten klar. Die roten Schuhe erinnern an jenen Schuh, mit dem ›Widar‹, Wotan rächend, dem Wolf die Kiefern spaltet.

Durch diesen Schuh wird die Menschenseele vom Fluche gelöst und braucht nicht mehr zu weinen.

Aber die böse Stiefmutter, die Erdenwelt, wird am Tage des Gerichts (Ragnarök) vernichtet.

Nur dann werden wir in den Sinn dieses tiefen Märchens eindringen, wenn wir das alles nicht als eine halbverklungene Sage auffassen, sondern als etwas, was uns höchst reale Tatsachen einer geistigen Welt enthüllt, die heute noch ebenso wahr sind, wie vor zweitausend Jahren und solange wahr bleiben wird, bis der Starke von oben erscheint und allen Streit beendet.

Beitragsbild: Holzschnitt von Marianne Finck

Die Geheimsprache der Deutschen Märchen

Märchendeutungen durch Runen: Gänsemädchen